An die Sonne

[180] O Sonne, Königinn der Welt,

Die unser dunkles Rund erhellt,

In lichter Majestät;

Erhabnes Wunder einer Hand,

Die jene Himmel ausgespannt,

Und Sterne hingesät!


Noch heute seh ich deinen Glanz:

Mir lacht in ihrem Bluhmenkranz

Noch heute die Natur.[180]

Der Vögel buntgefiedert Heer

Singt morgen mir vielleicht nicht mehr,

Im Wald und auf der Flur.


Ich fühle, daß ich sterblich bin!

Mein Leben welkt, wie Gras, dahin,

Wie ein verschmachtend Laub.

Wer weis, wie unerwartet bald

Des Höchsten Wort an mich erschallt:

Komm wieder in den Staub!


Wenn mich das finstre Grab verschlingt,

Ein ewig Schweigen mich umringt,

Mich die Verwesung nagt:

Alsdann bleibt alles doch zurück,

Und hätte gleich ein lächelnd Glück

Mir keinen Wunsch versagt!


O Thorheit, wenn ich mich verkannt,

Und nach der Erde Lieblingstand,

Nach großem Gut gegeizt!

Wenn mich der Ehre schimmernd Kleid

Und aller Prunk der Eitelkeit

Zu niedrem Neid gereizt!


Verlangt mein leiser Wunsch zu viel?

Verfolg ich ein zu weites Ziel,

Auf ungewissem Pfad?[181]

O Gott, ich beuge mich vor dir!

Hier bin ich, es geschehe mir

Nach deinem bessern Rath!


Der Mensch, der aufgeblasne Thor,

Schreibt seinem Schöpfer Weisheit vor?

Dir, großer Menschenfreund?

Du liebst ihn mehr, als er sich liebt,

Wann deine Huld nicht immer giebt,

Was jedem nützlich scheint.


Wann der bethaute Morgen lacht,

Wann von den Fittigen der Nacht

Die Stunden kühler sind;

Spricht mir die Weisheit liebreich zu:

O Sterblicher, was sorgest du,

Und wünschest in den Wind?


Der dich gemacht, sorgt auch für dich!

Nicht auf die Erde schränket sich

Der Plan des Himmels ein.

Dieß Leben ist ein Augenblick,

Ein Frühlingstraum das längste Glück:

Du sollst unsterblich seyn!


Gedanke der Unsterblichkeit,

Der über Erde, Welt und Zeit

Ein edles Herz erhebt![182]

Empöre dich in meiner Brust,

Wenn die Sirene falscher Lust

Mich klein zu machen strebt!


Die Rosen um des Lasters Haupt

Verblühen, ehe wirs geglaubt,

Und ihr Genuß entehrt.

Ich bin ein Pilgrim in der Zeit,

Nur Freuden einer Ewigkeit

Sind meiner Sorgen werth.


Gieb mir, o du, der willig giebt,

Ein Herz, das nur das Gute liebt,

Und rein und heilig ist!

Mach andre groß, o Gott! Ich sey

Vergnügt und meiner Pflicht getreu,

Ein Weiser und ein Christ!

Quelle:
Johann Peter Uz: Sämtliche poetische Werke, Stuttgart 1890, S. 180-183.
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