Sechzehntes Capitel.
Schluß.

[245] Misonne und Turquiette, denen es gelungen war, sich ihrer Fesseln zu entledigen, hatten den verwundeten Herming auf sein Bett gebracht; er röchelte bereits und ging schnell einem gewissen Tode entgegen. Die beiden Seeleute beschäftigten sich jetzt mit Pierre Nouquet, dessen Wunde glücklicherweise nicht sehr bedenklich war.

Ein tiefes Leid jedoch stand Ludwig Cornbutte und seiner Verlobten bevor; ihr Vater gab kein Lebenszeichen mehr von sich. War er vor Angst um seinen Sohn, den er in der Hand der Feinde wußte, gestorben? Verschied er bereits, ehe die furchtbare Scene sich abspielte? Niemand konnte darauf antworten, und der brave alte Seemann war todt.

Ludwig und das junge Mädchen verfielen durch diesen unerwarteten Schlag der tiefsten Trauer; sie knieten neben der Leiche nieder und beteten inbrünstig für die abgeschiedene Seele.

Penellan, Misonne und Turquiette wollten sie in ihrem Schmerze nicht stören und stiegen wieder auf das Verdeck. Hier harrte ihrer noch manche Arbeit; die Körper der drei Bären wurden auf das Vorderdeck geschleppt, und Penellan behielt sich vor, ihre Pelze zu verwenden. Das Fleisch der Thiere zu essen, war ihm keinen Augenblick in den Sinn gekommen. Auch hatte sich ja die Zahl der Mannschaft während der letzten Stunden so sehr vermindert, daß jede Sorge in dieser Beziehung überflüssig wurde. André Vasling, Aupic[245] und Jocki fanden ihr Grab an der Küste der Bai, und bald folgte ihnen auch Herming, der ohne Reue und Buße in der folgenden Nacht seine schwarze Seele aushauchte.

Die drei Seeleute besserten nun ihr Zelt aus, das an mehreren Stellen arg zerrissen war und den Schnee ungehindert auf das Verdeck fallen ließ. Die Temperatur blieb immer sehr niedrig und änderte sich erst am 8. Februar, an welchem Tage die Sonne wieder über dem Horizont erschien.

Johann Cornbutte ward gleichfalls auf der Küste beerdigt; er hatte seine Heimat verlassen, um dem einzigen Sohn Hilfe und Rettung zu bringen, und mußte nun hier dem schrecklichen Klima zum Opfer fallen. Sein Grab erhob sich auf einem Hügel und wurde durch ein einfaches Holzkreuz bezeichnet.

Von diesem Tage an hatten Ludwig Cornbutte und seine Gefährten noch manche harte Prüfung zu bestehen, ihre Gesundheit aber erlangten sie wieder, und zwar durch den Genuß der Citronen, die sie bald nach der Katastrophe wieder fanden. Vierzehn Tage nach dem beschriebenen furchtbaren Ereigniß waren auch Gervique, Gradlin und Pierre Nouquet so weit hergestellt, daß sie ihr Lager wieder verlassen und sich durch körperliche Bewegung stärken konnten.

Die Jagd wurde bald leichter und ergiebiger, die Seevögel kehrten in großen Schwärmen zurück, und auch eine Art wilder Ente, die sich in dieser Gegend sehr häufig fand, lieferte einen ganz vorzüglichen Braten. Die Jäger hatten bei ihren Ausflügen keinen anderen Unfall, als daß sie zwei von ihren Hunden einbüßten, als sie fünfundzwanzig Meilen südlicher die Stärke des Eises recognosciren wollten.

Im Monat Februar schneite und stürmte es fast unaufhörlich; die mittlere Temperatur betrug noch immer fünfundzwanzig Grad unter Null, aber doch litten die Ueberwinterer vergleichsweise wenig von der Kälte. Bald kündigte ihnen die Sonne, die sich mehr und mehr über den Horizont erhob, das Ende ihrer Prüfungen an, und wir dürfen wohl annehmen, daß auch der Himmel Erbarmen mit den armen Seeleuten fühlte, denn die Wärme stellte sich in diesem Jahre außergewöhnlich frühzeitig ein. Schon im Monat März kreisten einige Raben um das Schiff, und ihnen folgten Flüge wilder Gänse und Kraniche, die sich auf ihren nördlichen Wanderungen bis hierher verloren hatten.[246]

Die Rückkehr der Vögel war das Signal für die Verminderung der Kälte, doch durfte man nicht zu große Hoffnungen darauf bauen, denn bei einem Wechsel des Windes, bei Neumond oder Vollmond ging die Temperatur oft plötzlich wieder herunter, und die Seeleute waren gezwungen, wieder ihre größten Vorsichtsmaßregeln in Anwendung zu bringen. Die Verschanzungen des Schiffes, die Verschläge des Deckzimmers, das sie nicht bewohnten, und einen bedeutenden Theil der Brücke hatte man bereits als Brennmaterial verbraucht, es war also hohe Zeit, daß die Ueberwinterung zu Ende ging. Im März stellte sich die Durchschnittstemperatur nicht über sechzehn Grad, und Marie mußte eilen, neue Kleider für die wärmere Jahreszeit zu verfertigen.

Seit der Tag- und Nachtgleiche war die Sonne beständig über dem Horizont geblieben, und somit hatten die acht Monate steter Helligkeit begonnen, deren ununterbrochene Wärme eine so wunderbare Wirkung auf das Schmelzen des Eises übt.

Man mußte sehr vorsichtig zu Werke gehen, um die Jeune-Hardie von dem hohen Bett der Eisschollen, das sie umgab, herab zu lassen. Das Schiff wurde solide gestützt, und man hielt es nun für geeignet zu warten, bis die Schollen durch den Eisgang brechen würden. Aber es bedurfte dessen nicht; die inneren, auf einer wärmeren Wasserschicht ruhenden Eisschollen lösten sich allmälig ab, die Brigg senkte sich nach und nach, und als die ersten Tage des April herankamen, war sie wieder auf ihrem natürlichen Niveau angelangt.

Stürmische Regengüsse beschleunigten jetzt noch die Zersetzung des Eises, und das Thermometer sank wieder auf zehn Grad unter Null. Einige von den Leuten legten letzt ihre Robbenfellkleider ab, und man fand es nicht mehr nöthig, wie bisher Tag und Nacht das Feuer in den Oefen zu unterhalten. Der Vorrath an Spiritus war bereits sehr zusammengeschmolzen und wurde nur noch zum Kochen der Speisen verwandt.

Bald begann das Eis mit dumpfem Krachen und großer Schnelligkeit auseinander zu bersten, und man konnte nicht mehr ohne Gefahr einzubrechen auf den Flächen vorgehen, sondern mußte erst mit einem Stock das Terrain sondiren, ehe man einen Schritt that. Mehrmals fiel Dieser oder Jener von den Seeleuten in's Wasser, aber sie kamen immer mit einem kalten Bade davon.[247]

Auch die Robben stellten sich wieder ein und waren eine willkommene Jagdbeute, denn ihr Fett konnte außerordentlich nutzbar gemacht werden.

Die Gesundheit der Mannschaft blieb vorzüglich, und Jeder machte sich nach Kräften mit Vorbereitungen zur Abfahrt und mit der Jagd zu schaffen Ludwig Cornbutte studirte häufig das Fahrwasser und beschloß endlich, nach der Gestaltung der mittägigen Spitze die Durchfahrt mehr im Süden zu versuchen, denn schon begann der Eisgang an mehreren Stellen, und schwimmende Eisberge strömten auf die hohe See zu. Am 25. April wurde das Schiff in Stand gesetzt, die Segel verließen ihre Futterale und zeigten sich als vollkommen gut erhalten, und jedes Herz schlug freudig, als sie sich zum ersten Mal wieder im Hauch des Windes blähten. Das Schiff erbebte, denn wenn es sich auch noch nicht von der Stelle bewegen konnte, so hatte es doch seine Wasserlinie wieder gefunden und ruhte wieder in seinem natürlichen Element.

Im Monat Mai thaute es mit Macht, und der Schnee auf dem Ufer schmolz und bildete einen so dichten Schlamm, daß die Küste fast unzugänglich wurde. Ja, kleine, zartrosige, blasse Haidekräuter zeigten sich sogar unter der Schneedecke und schienen der geringen Wärme schüchtern zuzulächeln. Das Thermometer stand endlich wieder über Null.

Zwanzig Meilen südlich von dem Schiffe flutheten bereits vollständig losgelöste Eisschollen dem Atlantischen Ocean zu, und obgleich das Meer um die Jeune-Hardie noch nicht ganz frei war, stellte sich doch ein Fahrwasser her, das Ludwig Cornbutte zu benutzen gedachte.

Am 21. Mai, nach einem letzten Besuch bei dem Grabe seines Vaters, verließ Ludwig Cornbutte die Ueberwinterungsbai. Das Herz der Seeleute war voll Freude, aber auch voller Traurigkeit, denn Niemand verläßt gleichgiltig und ohne Wehmuth den Ort, wo er einen Freund sterben sah. Der Wind wehte aus Norden und begünstigte die Abfahrt der Brigg, aber oft wurde sie von Eisblöcken aufgehalten, die mit der Säge durchschnitten werden mußten, ehe das Schiff seine Fahrt fortsetzen konnte; denn wieder thürmten sich Eisschollen vor der Jeune-Hardie auf, und es mußten Mienen angelegt werden, um sie zu sprengen. So schwebte das Schiff noch während eines ganzen Monats in Gefahr und war oft nur um ein Haar breit von seinem Untergange entfernt, aber die Mannschaft hielt sich gut und war schwierige und gefahrvolle Manoeuvres gewöhnt; Penellan, Pierre Nouquet und Fidèle Misonne[248] allein schafften so viel wie sonst zehn Matrosen, und Marie hatte für Jeden ein freundliches Wort und ein dankbares Lächeln.

Endlich, auf der Höhe der Insel Jan-Mayen, wurde die Jeune-Hardie ganz eisfrei, und am 25. Juni begegnete sie Schiffen, die zum Robben- und Wallfischfang nach Norden fuhren. Die Brigg hatte beinahe einen Monat gebraucht, um aus dem Eismeer zu kommen.[249]

Am 16. August befand sich die Jeune-Hardie in Sicht von Dünkirchen; sie war von der Wache signalisirt worden, die ganze Hafenbevölkerung eilte ihr auf dem Damm entgegen, und bald drückten die Seeleute ihre Frauen und Kinder an die Brust.


Der alte Pfarrer empfing Ludwig Cornbutte und Marie. (S. 250.)
Der alte Pfarrer empfing Ludwig Cornbutte und Marie. (S. 250.)

Der alte Pfarrer empfing Ludwig Cornbutte und Marie mit seinem schönsten Segen, und von den zwei Messen, die er am folgenden Tage las, galt die erste der Ruhe von Johann Cornbutte's Seele, die andere den beiden Verlobten, die schon so lange durch die Zeit des Unglücks geeint worden waren.


Ende.

Quelle:
Jules Verne: Die Blockade-Brecher. In: Eine schwimmende Stadt. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band XIX, Wien, Pest, Leipzig 1877, S. 161–236.
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