XIII. Ein Einfall Cornelia Cascabels.

[120] Die Belle-Roulotte hatte die Fahrt vom Fort Selkirk nach Fort Youkon auf der rechten Seite des Flußufers zurückgelegt. Sie hatte sich in häufig wechselnder Entfernung von seinem Laufe gehalten, um den Umwegen zu entgehen, zu welchen das vielfach zerklüftete und von unwegsamen Lagunen unterbrochene Ufer sie genötigt haben würde. Wenigstens gilt dies von der rechten Flußseite, denn auf der linken säumen mittelhohe, nach Nordwesten ziehende Hügel das Thal ein. Vielleicht wäre es auch unbequem gewesen, gewisse kleine Nebenflüsse des Youkon, unter anderen den Stewart, auf dem keine Fähre den Dienst versieht, zu passieren, wenn nicht während der heißen Jahreszeit eine Furt mit blos knietiefem Wasser den Übergang gestattet hätte. Und ohne Kayettens Hilfe wären Herr Cascabel und die Seinigen auch da noch in großer Verlegenheit gewesen. Kayette kannte dieses Flußthal gut und konnte ihnen somit die Übergänge zeigen.

Es war wirklich ein glücklicher Zufall, der ihnen diese junge Indianerin zur Führerin gegeben. Und sie ihrerseits war so froh, ihren neuen Freunden dienen zu können, so zufrieden, sich im Kreise dieser neuen Familie zu sehen, so gerührt von jenen mütterlichen Liebkosungen, deren sie sich schon auf ewig beraubt geglaubt hatte.

Das Land hatte in seinem mittleren Teile noch Wälder und hie und da kleine Anhöhen aufzuweisen, aber es konnte sich hier nicht mehr mit der Umgegend von Sitka messen.

In der That läßt die Strenge eines Klimas, welches acht Monate lang einem Polarwinter ausgesetzt ist, keine rechte Vegetation mehr aufkommen. Die in diesen Regionen anzutreffenden Baumgattungen gehören, mit Ausnahme einiger verkümmerter Pappeln, zur Familie der Fichten und Birken... Und dann findet man einige seltene Gruppen jener trübseligen, dünnen und farblosen Weiden, welche die vom Eismeere herwehenden scharfen Winde so rasch entblättern.[120]

Da die Jagd auf dem Wege vom Fort Selkirk nach dem Fort Youkon ziemlich ausgiebig gewesen, hatte man die mitgenommenen Vorräte nicht zum Zwecke der täglichen Verköstigung anzurühren gebraucht. Hafen, soviel man wollte! Vielleicht begannen die Gäste sogar insgeheim derselben müde zu werden. Indessen hatte man vermittelst gebratener Gänse und Wildenten Abwechslung in den Speisezettel zu bringen vermocht, gar nicht zu reden von den Eiern dieses Geflügels, welche Xander und Napoleone geschickt aufzuspüren wußten. Und Cornelia verstand es – sie war sogar stolz darauf –, die Eier auf so viele Arten zuzubereiten, daß sie immer einen neuen Leckerbissen bildeten.

»Hierzulande lebt sich's wirklich gut!« rief Clou-de-Girofle eines Tages aus, indem er ein großes Gansgerippe abnagte. »Schade, daß die Gegend nicht im Centrum von Europa oder Amerika liegt!«

»Wenn sie inmitten von bewohnten Ländern läge,« antwortete Herr Sergius, »so würde das Wild wahrscheinlich seltener darin sein...«

»Wenn nicht etwa...« erwiderte Clou.

Ein Blick seines Gönners ließ ihn verstummen und ersparte ihm die Dummheit, die er sicher gesagt haben würde.

Wenn die Ebene wildreich war, so muß man auch erwähnen, daß die Creeks, die Rios, die sich in den Youkon ergossen, vorzügliche Fische lieferten insbesondere prächtige Hechte, welche Xander und Clou mit der Angel fingen. Es kostete sie nur die Mühe oder vielmehr das Vergnügen, ihrer Leidenschaft fürs Fischen zu fröhnen, ohne daß sie je einen Sou oder Cent dafür auszugeben brauchten.

Aber die Ausgaben beunruhigten den jungen Xander überhaupt nicht sonderlich. War doch die Zukunft der Cascabels dank seiner Umsicht gesichert! Besaß er doch seinen kostbaren Goldklumpen! Hatte er ihn doch in einem nur ihm bekannten Winkel des Wagens versteckt, jenen wertvollen Kiesel, den er im Cariboo- Thale gefunden! Ja, und bisher hatte der Bursche Selbstbeherrschung genug besessen, um nichts davon zu sagen und geduldig auf den Tag zu warten, wo er seinen Klumpen in schöne Goldstücke verwandeln konnte! Welche Freude es dann sein würde, seinen Reichtum zur Schau zu stellen! Nicht etwa, als ob er den selbstsüchtigen Gedanken gehabt hätte, ihn für sich zu behalten! Bewahre! Er gedachte ihn seinen Eltern zu übergeben; es war ein Vermögen, welches den in der Sierra Nevada erlittenen Verlust reichlich ersetzen würde!

Als die Belle-Roulotte nach einer Reihe sehr heißer Tage Fort Youkon erreichte, waren ihre sämtlichen Bewohner gründlich ermüdet, weshalb man beschloß, daß die Rast an diesem Orte eine volle Woche währen solle.[121]

»Es ist das um so thunlicher,« bemerkte Herr Sergius, »als das Fort nicht über zweihundert Meilen von Port-Clarence entfernt ist. Heute haben wir erst den siebenundzwanzigsten Juli, und es wird nicht vor zwei, vielleicht nicht einmal vor drei Monaten möglich sein, die Meerenge auf dem Eise zu passieren.

»So ist's,« antwortete Herr Cascabel, »und da wir somit Zeit dazu haben: Halt!«

Dieser Entschluß wurde mit ebensoviel Befriedigung von dem zwei-, wie von dem vierfüßigen Personal der Belle-Roulotte aufgenommen.

Die erste Gründung des Fort Youkon datiert vom Jahre 1847 her. Dieser Posten, welcher der entfernteste von allen westlichen Besitzungen der Hudsonbai-Gesellschaft ist, liegt dicht unterm Polarkreise. Da er sich indessen auf alaskischem Gebiete befindet, ist die Gesellschaft genötigt, ihrer Rivalin, der russisch-amerikanischen Gesellschaft eine jährliche Entschädigung zu zahlen.

Erst im Jahre 1864 unternahm man die gegenwärtigen Bauten, welche von einer Palissade umgeben sind; dieselben waren noch kaum vollendet, als die Cascabels Fort Youkon erreichten und einige Tage dort zu verweilen beschlossen.

Die Agenten boten ihnen bereitwilligst ihre Gastfreundschaft innerhalb ihrer Befestigungen an. In den Höfen und Schuppen fehlte es nicht an Raum. Indessen dankte Herr Cascabel ihnen mit einigen pomphaften und sehr verbindlichen Phrasen; er zog es vor, seine bequeme Belle-Roulotte nicht zu verlassen.

Im ganzen genommen bestand die Besatzung des Forts blos aus cirka zwanzig Agenten, zumeist Amerikanern, nebst einigen zu ihrem Dienste bestimmten Indianern, während die Eingebornen an den Ufern des Youkon nach Hunderten zählten.

In der That befindet sich dort, im Mittelpunkte Alaskas, der gesuchteste Markt für Pelz- und Kürschnerwaren, wo die verschiedenen Stämme der Provinz zusammenkommen: die Kotch-a-Koutchins, die An-Koutchins, die Tatanchoks, die Tananas, und besonders auch jene Indianer, welche den wichtigsten Teil der Bevölkerung bilden, die an den Ufern des Flusses wohnhaften Co-Youkons.

Wie man sieht, ist die Lage des Forts sehr vorteilhaft für den Warenaustausch, da es sich in dem Winkel erhebt, welchen der Youkon an seinem Vereinigungspunkt mit dem Porcupine bildet. Dort teilt der Fluß sich in fünf Kanäle, die den Handeltreibenden das Innere des Gebietes zugänglich machen und ihnen sogar durch den Lauf des Mackenzie den Verkehr mit den Eskimos ermöglichen.

Diese flüssigen Straßen sind denn auch mit kleinen Fahrzeugen besäet,[122] insbesondere mit zahlreichen »Baidarren«, einer Art leichter Kähne aus geölten Häuten, welche man an den Nähten mit Fett bestreicht, um sie wasserdichter zu machen. In diesen unsicheren Booten wagen die Indianer sich auf ganz bedeutende Reisen und scheuen sich dabei keineswegs, sie auf ihren Schultern fortzutragen, wenn irgend eine Stromschnelle oder ein anderes Hindernis die Schiffahrt erschwert.[123]

Indessen sind diese Fahrzeuge höchstens drei Monate lang benützbar. Während der übrigen Zeit des Jahres sind die Gewässer unter einem dicken Eispanzer begraben. Dann wird die Baidarre zum Schlitten. Dieses Gefährt, an dessen kielförmig gebogenem Vorderteil Hunde oder Renntiere mit Riemen aus Elenhaut gespannt sind, ist von großer Geschwindigkeit. Was die Fußgänger betrifft, so fliegen sie auf ihren langen Schneeschuhen noch schneller dahin.


Auf diese gebrechlichen Fahrzeuge wagen sich die Indianer.
Auf diese gebrechlichen Fahrzeuge wagen sich die Indianer.

Immer vom Zufall begünstigt, dieser Cäsar Cascabel! Er traf zur geeignetsten Zeit bei Fort Youkon ein, da der Pelzmarkt gerade jetzt in vollem Gange war und demzufolge mehrere hundert Indianer in der Umgebung der Faktorei lagerten.

»Hol mich der Teufel,« rief er, »wenn wir keinen Nutzen daraus ziehen! Es ist das ein regelrechter Jahrmarkt und da dürfen wir nicht vergessen, daß wir Jahrmarktskünstler sind! Das ist der Augenblick, wenn es je einen gegeben hat, wo wir unsern Geschäftssinn bethätigen müssen!... Sie haben doch keine Einwendung dagegen, Herr Sergius?...«

»Nicht die geringste, mein Freund,« antwortete Herr Sergius, »aber ich zweifle, ob Sie hier gute Einnahmen erzielen werden!«

»Pah! sie werden immerhin unsere Kosten decken, nachdem wir keine Kosten haben!«

»Sehr wahr,« erwiderte Herr Sergius. »Aber ich möchte doch wissen, wie diese wackern Eingeborenen ihre Plätze bezahlen sollen, da sie weder amerikanisches noch russisches Geld besitzen...«

»Nun, sie werden mit Häuten von Bisamratten und Bibern oder was sie sonst haben mögen, bezahlen. Auf jeden Fall werden diese Vorstellungen uns die Muskeln ein wenig dehnen, denn ich fürchte immer, daß unsere Glieder ihre Geschmeidigkeit einbüßen könnten! Da wir unsern Ruf in Perm, in Nischni behaupten sollen, will ich meine Truppe keinem Fiasko in Ihrem Geburtslande aussetzen. Ich würde ein solches nicht überleben, Herr Sergius; nein! ich würde es nicht überleben!«

Das Fort Youkon, der bedeutendste Handelsplatz der Gegend, nimmt einen ziemlich ausgedehnten Raum auf dem rechten Ufer des Flusses ein. Es bildet ein längliches Quadrat mit vier Ecktürmen, welche einigermaßen an jene auf Pfählen ruhenden Mühlen erinnern, die man im nördlichen Europa antrifft. Im Innern erheben sich verschiedene, von den Beamten der Gesellschaft und deren Familien bewohnte Gebäude und zwei große Lagerhäuser, wo Häute und Pelze in bedeutenden Mengen aufgestapelt sind – Marder-, Biber-, schwarze und graue Fuchsfelle, gar nicht zu reden von den minder wertvollen Sorten.

Es ist ein eintöniges und sogar entbehrungsvolles Leben, das die Beamten dort führen. Ihre Nahrung besteht gewöhnlich aus geröstetem, gebratenem[124] oder gekochtem Elenfleische, seltener auch aus Renntierfleisch. Was anderweitige Lebensmittel betrifft, so muß man dieselben aus der im Hudsonbaigebiete gelegenen Yorkfaktorei kommen lassen, also aus einer Entfernung von sechs- bis siebenhundert Meilen, welche keine häufigen Sendungen gestattet.

Nachmittags, als ihr Lager aufgeschlagen war, besuchten Herr Cascabel und die Seinigen die zwischen den Ufern des Youkon und des Porcupine gelagerten Indianer.

Wie verschieden diese provisorischen Wohnungen je nach dem Stamme, dem sie angehören, von einander sind! Hütten aus Baumrinde und Tierfellen, von Pfählen gehalten, mit Ast- und Laubwerk gedeckt; Zelte aus jenem Baumwollzwillich, welcher als indianisches Fabrikat bekannt ist; Bretterbaracken, die man jeden Augenblick aufstellen und wieder auseinander nehmen kann.

Und welches amüsante Durcheinander von Trachten! Die einen in Tierfelle, die andern in Baumwollstoffe gekleidet; alle mit Laubgewinden um den Kopf, um sich gegen den Biß der Moskitos zu schützen. Die Frauen in bunten karrierten Röcken, das Gesicht mit Muscheln verziert. Die Männer mit Räumnadeln geschmückt, die während des Winters zum Feststecken ihres langen Kleides aus Elenfell dienen, dessen haarige Seite nach innen gekehrt ist. Überdies prunken beide Geschlechter mit Fransen aus Glasperlen, welche ausschließlich nach ihrer Größe geschätzt werden. Unter den verschiedenen Stämmen ragen die Tananas hervor, kenntlich an ihren mit schreienden Farben bemalten Gesichtern, den Federn ihres Kopfputzes, ihren mit angereihten roten Thonstückchen verzierten Haarbüscheln, ihren Lederjoppen und Renntierfellhosen, ihren langen Steinschloßflinten und äußerst zierlich geschnitzten Pulverflaschen.

Als Münzen bedienen diese Indianer sich der Dentaliummuscheln, welche man sogar bei den Bewohnern der Vancouverinselgruppe antrifft; sie hängen dieselben an ihren Nasenknorpel und nehmen sie davon herab, wenn sie irgend eine Ware bezahlen wollen.

»Das nenne ich eine ökonomische Börse,« sagte Cornelia; »und die verliert man gewiß nicht!«

»Wenn einem nicht etwa die Nase abfällt!« bemerkte Clou-de-Girofle weise.

»Was während der großen Winterkälte schon geschehen könnte!« versetzte Herr Cascabel.

Mit einem Worte, diese Ansammlung von Eingeborenen bot ein merkwürdiges Schauspiel.

Selbstverständlich sprach Herr Cascabel mit mehreren dieser Indianer, deren Chinoukdialekt er einigermaßen verstand, während Herr Sergius sich in russischer Sprache mit ihnen unterhielt.

Mehrere Tage hindurch war der Verkehr zwischen den Pelzverkäufern und den Vertretern der Gesellschaft ein sehr lebhafter; aber bisher hatten die[125] Cascabels ihre Talente noch nicht in einer öffentlichen Vorstellung nutzbar gemacht.

Trotzdem brachten die Indianer bald in Erfahrung, daß diese Familie französischen Ursprungs sei und daß ihre verschiedenen Mitglieder sich eines bedeutenden Rufes als Athleten und Taschenspieler erfreuten.

Sie kamen jeden Abend in großer Anzahl herbei, um die Belle-Roulotte zu bewundern. Niemals hatten sie einen ähnlichen, so glänzend bemalten Wagen gesehen! Er gefiel ihnen vor allem, weil er so leicht beweglich war – was von besonderem Interesse für Nomaden sein mußte. Und vielleicht wird man sich eines Tages nicht wundern dürfen, von Indianerhütten auf Rädern zu hören. Nach den rollenden Häusern rollende Dörfer!

Unter diesen Umständen ist es selbstverständlich, daß der Gedanke an eine außerordentliche Vorstellung sich den Neuangekommenen aufdrängte. Man beschloß denn auch, daß diese Vorstellung »auf allgemeines Verlangen der Indianer von Fort Youkon« stattfinden solle.

Einer der Indianer, deren Bekanntschaft Herr Cascabel gleich in den ersten Tagen gemacht hatte, war ein »Tyhi«, das heißt der Häuptling eines Stammes. Ein schöner Mann von etwa fünfzig Jahren, schien er sehr intelligent und sogar scharfsinnig. Er hatte die Belle-Roulotte mehrmals besucht und Herrn Cascabel zu verstehen gegeben, wie glücklich die Eingeborenen sich schätzen würden, den Leistungen der Familie anzuwohnen.

Der Tyhi war zumeist von einem Indianer Namens Fir-Fu begleitet, einem seinen anmutigen Manne von dreißig Jahren, dem Zauberer des Stammes. einem vorzüglichen Gaukler, der in der ganzen Provinz Youkon wohl gekannt war.

»Also ein Kollege!« antwortete Herr Cascabel, als der Tyhi ihm denselben zuerst vorstellte.

Und nachdem sie einige im Lande produzierte Liköre zusammen getrunken, hatten alle drei die Friedenspfeife geraucht.

Infolge dieser Gespräche, in deren Lauf der Tyhi sehr lebhaft darauf bestand, daß Herr Cascabel eine Vorstellung geben möge, wurde diese auf den dritten August anberaumt. Man kam überein, daß die Indianer dabei mitwirken sollten, da sie großes Verlangen trugen, ihre Kraft, ihre Geschicklichkeit und Gewandtheit mit der der Europäer zu messen.

Es darf das nicht in Erstaunen setzen; im Far-West wie in der alaskischen Provinz sind die Indianer große Liebhaber gymnastischer und akrobatischer Belustigungen sowohl, als der damit verbundenen Possen und Maskeraden in denen sie erstaunliches leisten.

Als daher am festgesetzten Tage ein zahlreiches Publikum versammelt war, erblickte man eine Gruppe von sechs bis sieben Indianern, deren Gesichter[126] hinter großen hölzernen Masken von unvergleichlicher Scheußlichkeit versteckt waren. Wie bei den »großen Köpfen« in Zauberstücken wurden Mund und Augen dieser Masken durch Bindfäden in Bewegung gesetzt – wodurch diese gräßlichen, meist in Vogelschnäbel ausgehenden Gesichter lebendig schienen. Man stellt sich nicht leicht vor, welche Vollkommenheit in Grimassen sie zu erreichen vermochten. Der Affe John Bull hätte da manches lernen können.

Überflüssig zu erwähnen, daß Herr und Frau Cascabel, Jean, Xander, Napoleone und Clou-de-Girofle bei dieser Gelegenheit ihre Jahrmarktskostüme angelegt hatten.

Der ausersehene Schauplatz war eine weite, von Bäumen umgebene Wiese, deren Hintergrund die Belle-Roulotte wie eine Theaterdekoration einnahm. Im Vordergrunde saßen die Agenten des Fort Youkon mit ihren Frauen und Kindern. Zu beiden Seiten bildeten mehrere Hundert Indianer und Indianerinnen einen Halbkreis und warteten rauchend auf den Beginn der Vorstellung.

Die maskierten Eingeborenen, welche an den Leistungen teilnehmen sollten, hielten sich ein wenig abseits.

Zur bestimmten Zeit erschien Clou auf der Plattform des Gefährtes und hielt seine gewohnte Anrede:

»Meine Herren Indianer und meine Damen Indianerinnen, Sie werden hier sehen, was Sie sehen werden, u. s. w., u. s. w.«

Aber da er sich nicht der Chinouksprache bediente, ist es höchst wahrscheinlich, daß seine phantastischen Tiraden wenig Gefallen bei den Zuschauern erregten.

Was man indessen verstand, das waren die traditionellen Ohrfeigen, die sein Gönner ihm freigebig verabreichte, sowie die bekannten Fußtritte, von denen er die gewohnte Anzahl mit dem Gleichmute eines zu diesem Zwecke engagierten Hanswurstes entgegennahm.

Als dieser Prolog zu Ende war, sagte Herr Cascabel, nachdem er das Publikum begrüßt hatte:

»Jetzt die Tiere!«

Die Hunde Wagram und Marengo wurden auf den vor der Belle-Roulotte reservierten Platz geführt und riefen großes Erstaunen unter den Eingeborenen hervor, welchen diese auf die Bethätigung tierischer Intelligenz gerichteten Leistungen neu waren. Und als nun John Bull herbeikam, um seine Voltigierkünste auf dem Rücken des Pudels und des Wachtelhundes auszuführen, da brachten seine behenden Sprünge und drolligen Stellungen selbst die indianische Ernsthaftigkeit zum Wanken.

Unterdessen blies Xander mit aller Macht das Horn, während Cornelia die Hand- und Clou die große Trommel schlug. Wenn die Alasker daraufhin[127] nicht von dem gewaltigen Effekt erbaut waren, den man mit einem europäischen Orchester erzielen kann, so fehlte es ihnen einfach an Kunstsinn.

Bisher hatte die maskierte Gruppe sich nicht gerührt, da sie den Augenblick zu ihrem Auftreten offenbar noch nicht für gekommen hielt. Sie sparte ihr Können auf.

»Fräulein Napoleone, Seiltänzerin!« schrie Clou durch ein Sprachrohr.

Und von ihrem berühmten Vater geführt, trat das kleine Mädchen vor das Publikum.

Sie tanzte zuerst mit einer Anmut, welche ihr großen Beifall eintrug, der sich indessen nicht durch Rufe oder Händeklatschen, sondern durch einfaches, aber darum ebenso bedeutsames Kopfschütteln kund gab. Desgleichen, als man sie ein zwischen zwei Gerüsten aufgespanntes Seil betreten und darauf mit einer Leichtigkeit gehen, laufen und springen sah, welche besonders von den Indianerinnen bewundert wurde.

»Jetzt bin ich an der Reihe!« rief der junge Xander.

Und da tritt er vor, grüßt, indem er sich auf den Nacken schlägt, wirst sich hin und her, windet, verdreht und verrenkt sich, ergeht sich in Verzerrungen und Purzelbäumen, bis seine Arme zu Beinen und seine Beine zu Armen werden, bald als Eidechse, bald als Frosch, und beendet seine Leistungen mit dem doppelt großen Sprung.

Auch diesmal hatte er den gewohnten Erfolg. Aber kaum hatte er sich vor den Zuschauern bis auf die Erde verneigt, als ein Indianer seines Alters die erwähnte Gruppe verließ, seine Maske abnahm und vor trat.

Und dieser junge Eingeborene führte sämtliche Künste, die Xander soeben gemacht, mit einer Biegsamkeit des Rückgrats und einer Sicherheit der Bewegung aus, welche nichts zu wünschen übrig ließ. Wenn er weniger anmutig als der jüngere Cascabel war, so war er doch nicht weniger erstaunlich. Er erntete denn auch äußerst begeistertes Kopfschütteln seitens der Eingeborenen.

Man kann versichert sein, daß das Personal der Belle-Roulotte den guten Geschmack besaß, in den Beifall des Publikums einzustimmen. Aber da er nicht zurückbleiben wollte, gab Herr Cascabel Jean ein Zeichen, seine Taschenspielerkünste zu beginnen, in welchen er ihn für unerreichbar hielt.

Jean fühlte, daß er die Ehre der Familie aufrecht zu erhalten habe. Durch eine Handbewegung des Herrn Sergius und ein Lächeln Kayettens ermutigt, ergriff er nach der Reihe seine Flaschen, seine Teller, Kugeln, Messer Wurfscheiben und Stäbchen, und man kann sagen, daß er sich selber übertraf.

Herr Cascabel konnte nicht umhin, den Indianern einen befriedigten und gewissermaßen herausfordernden Blick zuzuwerfen. Es war, als wolle er der maskierten Gruppe sagen:
[128]

Auch er hatte seinen Ruf aufrecht zu erhalten.
Auch er hatte seinen Ruf aufrecht zu erhalten.

»Nun, Ihr andern, macht ihm das nach!«

Ohne Zweifel wurde er verstanden, denn auf einen Wink des Tyhi nahm ein zweiter Indianer die Maske ab und trat aus der Gruppe hervor.

Es war der Zauberer Fir-Fu; auch er hatte seinen Ruf zu Ehren der eingeborenen Rasse aufrecht zu erhalten.

Er ergriff die Utensilien, deren Jean sich bedient hatte und wiederholte[129] der Reihe nach die Leistungen seines Rivalen, ließ Messer und Flaschen, Wurfscheiben und Ringe, Kugeln und Stäbchen durcheinander schwirren und das mit einer Eleganz der Haltung und Sicherheit des Griffes, welche derjenigen Jean Cascabels nichts nachgab. Clou, der daran gewöhnt war, nur seinen Gönner und dessen Familie zu bewundern, war ganz verdutzt und »sperrte Mund und Augen auf.«

Herr Cascabel applaudierte nur mehr aus Höflichkeit, mit den Fingerspitzen.

»Potztausend!« murmelte er, »sie sind anstellig, diese Rothäute!... Da sehe man!... Leute ohne Bildung! Nun wir werden ihnen etwas zeigen!«

Im Grunde brachte es ihn stark aus der Fassung, Konkurrenten zu finden, wo er blos auf Bewunderer gerechnet hatte. Und was für Konkurrenten. Einfache Eingeborene von Alaska, sozusagen Wilde! Sein Künstlerstolz litt seltsam darunter. Was Teufel! man ist Gaukler oder man ist es nicht!

»Vorwärts Kinder,« rief er mit Donnerstimme, »die lebendige Pyramide!«

Und alle stürzten wie zu einem Angriffe auf ihn zu. Er hatte sich fest aufgepflanzt, mit gespreizten Beinen, eingebogenen Lenden und aufgeworfener Brust. Jean schwang sich leicht auf seine rechte Schulter und reichte dem auf seine linke Schulter springenden Clou die Hand. Xander stellte sich auf den Kopf seines Vaters und über ihm krönte Napoleone den Bau, indem sie zierlich die Arme bog, um der Menge Kußhändchen zuzusenden.

Die französische Pyramide war kaum vollendet, als sich ihr gegenüber eine zweite, die eingeborene Pyramide erhob. Ohne die Masken abzulegen, türmte der nicht aus fünf, sondern aus sieben Teilen bestehende Bau sich empor und überragte die Familie Cascabel um ein Stockwerk. Pyramide wider Pyramide!

Und diesmal brachen die Indianer zu Ehren ihrer Stämme in Geschrei und Hurrarufe aus. Das alte Europa war durch das junge Amerika besiegt, und welches Amerika!... Das der Co-Youkons, der Tananas und der Tatancsoks!

Beschämt und verwirrt zuckte Herr Cascabel unwillkürlich zusammen und hätte beinahe seine ganze Familie zu Boden geworfen.

»Ah, so geht es einem!« sagte er, als er sich seiner lebenden Bürde entledigt hatte.

»Beruhigen Sie sich, mein Freund!« meinte Herr Sergius. »Es ist nicht der Mühe wert, sich darüber...«

»Nicht der Mühe wert!... Man sieht, daß Sie kein Künstler sind, Herr Sergius!«

Dann wandte er sich zu seiner Frau:
[130]

13. Capitel

[131] »Vorwärts, Cornelia; den Ringkampf mit flachen Händen!« rief er. »Wir wollen doch sehen, welcher von diesen Wilden es wagt, sich mit der »Siegerin von Chicago« zu messen!«

Aber Frau Cascabel rührte sich nicht.

»Nun, Cornelia?...«

»Nein, Cäsar.«

»Du willst nicht mit diesen Affen ringen und die Ehre der Familie retten?...«

»Ich werde sie schon retten,« begnügte Cornelia sich zu erwidern. Laß mich gewähren... Ich habe einen Einfall!«

Wenn diese erstaunliche Frau einen Einfall hatte, so war es am besten, sie denselben ohne Widerrede ausführen zu lassen. Sie fühlte sich durch den Erfolg der Indianer ebenso tief gedemütigt, wie ihr Mann, und es stand zu vermuten, daß sie ihnen irgend einen Streich nach ihrer Weise spielen werde.

Cornelia hatte sich in die Belle-Roulotte begeben, während ihr Mann trotz seines Vertrauens zu ihrer Intelligenz und Erfindungsgabe etwas beunruhigt zurückblieb.

Binnen zwei Minuten erschien Frau Cascabel wieder und stellte sich vor der Gruppe der Indianer auf, die alsbald einen Kreis um sie bildeten.

Dann wandte sie sich an den obersten Beamten des Forts und bat ihn, den Eingeborenen das, was sie sagen werde, zu verdolmetschen.

Und nun wurde folgende Rede Wort für Wort in die eigentliche Sprache der alaskischen Provinz übertragen.

»Indianer und Indianerinnen! Ihr habt bei diesen Kraft- und Geschicklichkeitsproben Talente an den Tag gelegt, welche eine Belohnung verdienen, und diese Belohnung biete ich Euch...«

Allgemeines Stillschweigen und rege Aufmerksamkeit der Versammlung.

»Ihr seht meine Hände?« fuhr Cornelia fort. Sie sind mehr als einmal von den erhabensten Persönlichkeiten der alten Welt gedrückt worden! Ihr seht meine Wangen? Sie haben oft die Küsse der mächtigsten Herrscher Europas empfangen! Nun! diese Hände, diese Wangen biete ich Euch dar... Indianer Amerikas, kommt herbei sie zu fassen, sie zu küssen!«

Und meiner Treu! Die Eingeborenen dachten nicht daran, sich lange bitten zu lassen. Würden sie doch schwerlich wieder Gelegenheit haben, die Hände einer so prächtigen Frau zu küssen.

Einer von ihnen, ein schöner Tanana, trat vor und ergriff Cornelias dargebotene Rechte...

Aber welch ein Schrei entfuhr ihm infolge einer Erschütterung, die all seine Glieder durchzuckte![132]

»Ah, Cornelia!« rief Herr Cascabel. »Cornelia, ich verstehe und ich bewundere dich!«

Unterdessen vergingen Herr Sergius, Jean, Xander, Napoleone und Clou vor Lachen über den köstlichen Streich, welchen diese außerordentliche Frau den Eingeborenen spielte.

»Ein anderer,« sagte sie, die Arme noch immer gegen das Publikum ausgestreckt, »ein anderer!«

Die Indianer zauderten, da sie irgend eine übernatürliche Erscheinung vermuteten.

Indessen entschloß der Tyhi sich zu dem Wagnis; er ging langsam auf Cornelia zu, blieb zwei Schritte vor ihrer imposanten Erscheinung stehen und betrachtete sie mit einer nichts weniger als behaglichen Miene.

»Vorwärts, Alter!« rief Herr Cascabel ihm zu. »Vorwärts, Mut gefaßt!... Umarme die Dame!... Es ist nicht sehr schwer, und ist äußerst angenehm!«

Der Tyhi streckte die Hand aus und begnügte sich damit den Finger der schönen Europäerin zu berühren.

Neue Erschütterung, Geheul des Tyhi, der beinahe auf den Rücken gefallen wäre, und starres Staunen des ganzen Publikums. Wenn es einem bei der bloßen Berührung ihrer Hand so schlimm erging, was würde erst geschehen, wenn man diese wunderbare Frau, deren Wangen die Küsse der mächtigsten Herrscher Europas empfangen hatten, zu umarmen wagte?

Und dennoch fand sich ein Tollkühner, der diese Gefahr laufen wollte. Es war der Zauberer Fir-Fu. Er mußte sich doch wohl gegen jeden Zauber gefeit glauben! So trat er denn vor Cornelia hin. Durch die Zurufe der Eingeborenen aufgemuntert, umkreiste er sie, nahm sie dann plötzlich in seine Arme und drückte einen herzhaften Kuß auf ihre Wange.

Die Folge davon war, daß er sich mehrmals überschlug. Der Gaukler war plötzlich zum Akrobaten geworden. Nach zwei ebenso großen als unabsichtlichen Sprüngen fiel er inmitten seiner bestürzten Genossen zu Boden.

Und um diese Wirkung auf den Zauberer sowohl, als auf die anderen Eingeborenen hervorzubringen, hatte Cornelia nur auf den Knopf einer kleinen galvanischen Säule zu drücken gebraucht, die sie in ihrer Tasche verborgen hatte. Jawohl! eine kleine, tragbare galvanische Säule, welche ihr dazu diente, die »elektrische Frau« vorzustellen!

»Ah, Frau!... Frau!...« rief ihr Gatte, indem er sie vor den Augen der staunenden Indianer ungestraft in seine Arme schloß. »Wie schlau sie ist... wie schlau!«

»Ebenso schlau als elektrisch!« fügte Herr Sergius hinzu.

In der That, was konnten die Eingeborenen anders denken als daß[133] diese übernatürliche Frau nach Belieben über die Kräfte des Himmels verfüge? Brauchte man doch bloß nach ihrer Hand zu greifen, und man war vom Donner gerührt! Es konnte entschieden keine andere als die Gefährtin des großen Geistes sein, welche huldvoll zur Erde herabgestiegen war, um sich in zweiter Ehe mit Herrn Cascabel zu verbinden!

Quelle:
Jules Verne: Cäsar Cascabel. Berlin [o. J.], S. 120-134.
Lizenz:

Buchempfehlung

Hoffmann, E. T. A.

Prinzessin Brambilla

Prinzessin Brambilla

Inspiriert von den Kupferstichen von Jacques Callot schreibt E. T. A. Hoffmann die Geschichte des wenig talentierten Schauspielers Giglio der die seltsame Prinzessin Brambilla zu lieben glaubt.

110 Seiten, 4.40 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.

432 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon