II. Zwischen zwei Strömungen.

[181] Die Belle-Roulotte befand sich endlich auf festem Boden und brauchte das Zusammenbrechen des Eisfeldes nicht mehr zu fürchten. Man kann sich vorstellen, wie die Familie Cascabel den Vorteil, unerschütterlichen Grund unter den Füßen zu spüren, würdigen mußte.[181]

Die Dunkelheit war völlig hereingebrochen. Man traf dieselben Vorkehrungen wie gewöhnlich, indem man das Lager fünf- bis sechshundert Schritte vom Ufer entfernt aufschlug. Dann befaßte man sich mit den Tieren und zuletzt mit den »Leuten von Geist«, wie Cäsar Cascabel sich auszudrücken pflegte.

Es war nicht gerade kalt. Die Quecksilbersäule wies nur mehr vier Grad unter Null auf. Eigentlich war das nicht so wichtig. Während des hiesigen Aufenthaltes hatte man nichts von einem Steigen der Temperatur zu fürchten. Man würde eben warten, bis eine niedere Temperatur das Eisfeld endgültig gefestigt haben würde. Die strenge Winterkälte konnte nicht lange auf sich warten lassen.

Da die Dunkelheit undurchdringlich war, verschob Herr Sergius die Besichtigung der Insel auf den nächsten Tag. Man war vor allem darauf bedacht, das erschöpfte, der Nahrung und Ruhe bedürftige Gespann möglichst gut zu versorgen. Als dann das Nachtmahl aufgetragen war, verlangte jeder schnell seinen Teil, denn man hatte Eile, sich nach so harten Anstrengungen auf bequemem Lager auszustrecken.

Die Insassen der Belle-Roulotte waren bald in Schlaf versunken, und in jener Nacht träumte Cornelia weder von Eisbrüchen, noch Meeresschlünden, in denen ihr rollendes Haus versänke.

Am nächsten Morgen – dem achtundzwanzigsten Oktober –, sobald es hell genug wurde, machten Herr Sergius, Cäsar Cascabel und seine beiden Söhne sich auf, um die Insel in Augenschein zu nehmen.

Was sie zunächst überraschte, war die unglaubliche Menge von Seehunden, sogenannten Biberseehunden, die sich dahin geflüchtet hatten.

In der That trifft man in diesem Teile des Beringmeeres, der im Süden vom fünfundfünfzigsten Grade nördlicher Breite begrenzt wird, die fraglichen Tiere meist in größerer Anzahl an.

Wenn man die Karte betrachtet, so wird einem gewißlich die Formation und besonders die beiderseitige Ähnlichkeit der amerikanischen und der asiatischen Küste auffallen. Sie zeigen beide dasselbe, klar ausgeprägte Profil: das Land beim Prince-of-Wales-Cap bildet ein Gegenstück zu der Tschuktschen-Halbinsel, der Norton-Sund zum Golf von Anadir; die Spitze der alaskischen Halbinsel krümmt sich wie die Halbinsel Kamtschatka und das Ganze ist durch die Inselkette der Aleuten verbunden. Und doch kann man daraus nicht schließen, daß Amerika durch irgend eine plötzliche, prähistorische Umwälzung von Asien losgerissen worden wäre, wodurch sich dann die Beringstraße gebildet hätte; denn die Vorsprünge der einen Küste decken sich nicht mit den Buchten der anderen.

In diesen Seestrichen liegen zahlreiche Inseln: die bereits erwähnte St. Laurentius-Insel, Noumivak an der amerikanischen, Karaghinskii an der[182] asiatischen Küste; dann, nächst dem Ufer von Kamtschatka, die Beringinsel mit dem kleinen Kupfereiland, und in geringer Entfernung vom alaskischen Strande die Pribyloff-Inseln. Die Ähnlichkeit der Küsten wird also durch eine identische Anlage der Inselgruppen vervollständigt.

Die Pribyloff-Inseln und die Beringinsel dienen den in diesem Meere hausenden Seehunden ganz besonders zur Wohnstätte. Sie zählen hier nach[183] Tausenden. Und so sind diese Inseln denn auch der Versammlungsort der Berufsjäger auf Robben und Seeottern, welch letztere noch vor einem Jahrhundert sehr zahlreich waren, jetzt aber infolge übermäßiger Tötung selten geworden sind.

Hingegen kommen die Robben – ein Gattungsname, welcher zur allgemeinen Bezeichnung der Seehunde, Seebären und Seelöwen dient – hier in so unzähligen Trupps zusammen, daß ihre Rasse niemals erlöschen zu sollen scheint.


Höchst überraschend war ihnen die unglaubliche Anzahl von Seehunden. (Seite 184.)
Höchst überraschend war ihnen die unglaubliche Anzahl von Seehunden. (Seite 184.)

Und doch! welche Jagd man während der heißen Jahreszeit auf sie macht! Die Jäger verfolgen sie ohne Gnade bis in die »Rookeries«, jene Art natürlicher Gehege, wo die Familien sich gruppieren. Namentlich die ausgewachsenen Tiere werden unbarmherzig aufgespürt, und die Rasse würde schließlich verschwinden, wenn sie nicht so außerordentlich fruchtbar wäre.

Nach angestellten Berechnungen sind von 1867 bis 1880 in den Gehegen der Beringinsel allein 388982 Robben getötet worden. Auf den Pribyloff-Inseln haben die alaskischen Fischer im Laufe des Jahrhunderts 3500000 Felle gesammelt, und noch heute liefern sie jährlich mindestens 100000.

Und wie viele bleiben nicht noch auf den übrigen Inseln des Beringmeeres! Herr Sergius und seine Gefährten konnten sich einen Begriff davon machen nach dem, was sie auf der Insel Diomedes sahen. Das ganze Ufer wimmelte von Seehunden, die so dicht gedrängt lagen, daß man nichts von der Schneedecke unter ihnen gewahrte.

Wenn man sie indessen betrachtete, so betrachteten auch sie die Besucher der kleinen Insel. Regungslos, unruhig, vielleicht gereizt über diese Besitzergreifung ihrer Domäne, suchten sie nicht zu fliehen und stießen hin und wieder eine Art langgezogenes Blöken aus, dem man eine gewisse Wut anhörte. Dann richteten sie sich in die Höhe und schlugen heftig mit ihren fächerförmig ausgespreizten Schwimmflossen.

Ah! wenn diese Tausende von Seehunden, wie der junge Xander gewünscht, die Gabe der Rede besessen hätten, welch ein Donner von Papas von ihren bärtigen Lippen erschollen wäre!

Selbstverständlich kam es weder Herrn Sergius, noch Jean in den Sinn, auf dieses Heer von Seehunden zu schießen. Zwar lief dort, wie Herr Cascabel sagte, »ein Vermögen an Fellen herum«. Aber es wäre ein nutzloses und sogar gefährliches Gemetzel gewesen. Die Tiere, furchtbar durch ihre Anzahl, hätten die Lage der Belle-Roulotte sehr bedenklich gestalten können. Herr Sergius empfahl denn auch die äußerste Vorsicht.

Andererseits aber enthielt die Anwesenheit so vieler Seehunde auf der kleinen Insel einen Fingerzeig, den man nicht unbeachtet lassen durfte. Mußte man sich doch fragen, warum die Tiere diese Felsenriffe aufgesucht hatten, die ihnen keinerlei Hilfsquellen boten.[184]

Diesbezüglich fand eine sehr ernste Erörterung zwischen Herrn Sergius, Cäsar Cascabel und dessen ältestem Sohne statt. Sie hatten sich in die Mitte der Insel begeben, während die Frauen ihren häuslichen Pflichten oblagen und Clou und Xander die Tiere versorgten.

Herr Sergius leitete die Erörterung mit den Worten ein:

»Meine Freunde, wir müssen ermitteln, ob es besser wäre, die Insel Diomedes zu verlassen, sobald das Gespann ausgeruht hat, oder unsere Rast hier zu verlängern!...«

»Herr Sergius,« antwortete Cäsar Cascabel »ich glaube, wir sollten uns nicht aufhalten, um auf diesem Felsen Robinson zu spielen!... Ich gestehe, ich habe Eile, ein Stück sibirischer Küste unter meiner Ferse zu spüren!«

»Das ist begreiflich, Vater,« versetzte Jean; »und doch ist es nicht ratsam, sich Gefahren auszusetzen, wie wir's bisher gethan haben. Was wäre aus uns geworden ohne diese kleine Insel? Es ist noch etwa zehn Meilen Weges bis Numana...«

»Nun, Jean, mit einiger Anstrengung könnten die Pferde das in zwei bis drei Etappen überwinden...«

»Das ginge schwer,« antwortete Jean, »selbst wenn der Zustand des Eisfeldes es gestattete!«

»Ich glaube, Jean hat recht,« bemerkte Herr Sergius. »Es ist selbstverständlich, daß wir Eile haben, über die Meerenge zu kommen; aber da die Temperatur so unvermutet mild geworden, scheint es mir nicht recht weise, das feste Land zu verlassen. Wir sind zu früh von Port-Clarence aufgebrochen, sehen wir zu, daß wir nicht zu früh von der Insel Diomedes aufbrechen! So viel ist gewiß, die Meerenge ist nicht in ihrer ganzen Ausdehnung fest zugefroren...«

»Und daher jenes Krachen, das ich noch gestern hörte,« fügte Jean hinzu. »Es rührt offenbar von der ungenügenden Verbindung der Schollen her...«

»Ja, das ist ein Beweis,« antwortete Herr Sergius; und es giebt noch einen...«

»Welchen?...« fragte Jean.

»Einen, der mir nicht minder überzeugend scheint: es ist die Anwesenheit dieser Tausende von Seehunden, welche ihr Instinkt auf die Insel Diomedes getrieben hat. Ohne Zweifel waren diese Tiere auf der Wanderung aus den nördlicheren Seestrichen nach der Beringinsel oder den Aleuten begriffen, als sie irgend ein nahes Unheil witterten. Sie werden gefühlt haben, daß sie nicht auf dem Eisfeld bleiben durften. Bereitet sich unter dem Einfluß der Temperatur ein Umschwung vor, oder droht irgend eine unterseeische Naturerscheinung, welche das Eisfeld unsicher macht? ich weiß es nicht. Aber wenn[185] wir Eile haben, die sibirische Küste zu gewinnen, so werden diese Tiere nicht weniger Eile haben, ihre Rookeries auf der Beringinsel oder den Pribyloffinseln zu erreichen; und wenn sie auf der Insel Diomedes Halt machen, so müssen sie triftige Gründe dazu haben.«

»Und was ist also ihre Meinung, Herr Sergius?« fragte Herr Cascabel.

»Meine Meinung ist, daß wir solange hier bleiben sollen, bis die Seehunde uns durch ihren eigenen Aufbruch anzeigen, daß wir ohne Gefahr weiter reisen können.«

»Teufel!... Das ist ein höllisches Mißgeschick!«

»Kein sehr ernstes, Vater,« versetzte Jean; »hoffen wir, daß wir nie ein schlimmeres erfahren werden!«

»Zudem kann dieser Zustand nicht lange anhalten,« fügte Herr Sergius hinzu. »So lange der Winter auch heuer auf sich warten läßt, so sind wir doch bald zu Ende Oktober, und wenngleich das Thermometer augenblicklich auf Null steht, so kann es doch von einem Tage auf den andern um 20 Grad sinken. Sobald der Wind nach Norden umspringt, wird das Eisfeld so zuverlässig wie das Festland sein. Folglich ist es meine wohlerwogene Meinung, daß wir warten sollen, wenn wir nicht zum Aufbruch gezwungen werden.«

Das war zum mindesten vernünftig. Und so beschloß man denn, daß die Belle-Roulotte solange auf der Insel Diomedes verweilen solle, bis der Übergang über die Meerenge infolge eines intensiven Frostes gefahrlos geworden sei.

Im Laufe des Tages besichtigten Herr Sergius und Jean einen Teil jener Granitmasse, die ihnen so volle Sicherheit gewährte. Die Insel hatte einen Umfang von drei Kilometern. Selbst im Sommer mußte sie absolut unfruchtbar sein. Eine Anhäufung von Felsen, nichts weiter. Aber trotzdem würde sie eine genügende Unterlage für die Pfeiler der von Frau Cascabel gewünschten Beringsbrücke bilden können, falls die russischen und amerikanischen Ingenieure je daran denken sollten, die beiden Kontinente zu vereinen – im Gegensatze zu dem, was Herr v. Lesseps so gern thut.

Auf ihrem Spaziergange hüteten die Besucher sich wohl, die Seehunde zu erschrecken. Und dennoch war es augenscheinlich, daß die Gegenwart menschlicher Wesen diese Tiere in einem mindestens eigentümlichen Zustande der Aufregung erhielt. Es waren große Männchen unter ihnen, welche heisere Töne ausstießen und ihre Familien um sich versammelten – meist sehr zahlreiche Familien, denn sie sind Polygamisten und vierzig bis fünfzig ausgewachsene Seehunde erkennen gewöhnlich einen Vater an.

Diese ziemlich unfreundliche Stimmung beunruhigte Herrn Sergius, besonders als er eine gewisse Neigung der Seehunde bemerkte, sich dem Lager zu nähern. Einzeln waren sie nicht zu fürchten; aber es würde schwer, sogar[186] unmöglich sein, solchen Massen zu widerstehen, wenn ihre Stimmung sie veranlaßte, die Eindringlinge zu vertreiben, welche ihnen den Besitz der Insel Diomedes streitig machten. Auch Jean fiel diese Absonderlichkeit auf, und er und Herr Sergius kehrten ziemlich beunruhigt zurück.

Der Tag verlief ohne Zwischenfall, nur daß die von Südosten wehende Brise stärker ward. Offenbar war irgend ein großer Sturm im Anzuge, vielleicht[187] einer jener heftigen Polarstürme, die mehrere Tage hindurch wüten, – darauf deutete das jähe Sinken der Barometersäule, die zweiundsiebzig Centigrade aufwies.


Wenn sie uns angreifen, so ist jeder Widerstand nutzlos. (Seite 198.)
Wenn sie uns angreifen, so ist jeder Widerstand nutzlos. (Seite 198.)

Wenn sie uns angreifen, so ist jeder Widerstand nutzlos. (Seite 198.)


Die Nacht ließ sich also sehr schlecht an. Und dazu hatten die Reisenden sich noch kaum ins Innere der Belle-Roulotte zurückgezogen, als ein tausendstimmiges Geheul, über dessen Natur man sich nicht täuschen konnte, den Lärm der Windstöße vergrößerte. Die Seehunde hatten sich dem Gefährt genähert und begannen auf dasselbe einzudringen. Die Pferde schnaubten vor Angst, einen Angriff dieser Massen gewärtigend, welche Wagram und Marengo in ohnmächtiger Wut anbellten. Man mußte wieder aufstehen, hinauseilen und Vermout und Gladiator dicht zum Wagen bringen, um über sie wachen zu können. Revolver und Flinten wurden geladen. Indessen riet Herr Sergius, sich derselben nur im äußersten Notfalle zu bedienen. Die Nacht war schwarz. Da man in der tiefen Dunkelheit nichts sehen konnte, zündete man die Wagenlaternen an. Bei ihrem Scheine erblickte man Tausende von Seehunden, welche die Belle-Roulotte umringten und zweifelsohne nur auf den Tag warteten, um sie anzugreifen.

»Wenn sie sich auf uns stürzen, so wird kein Widerstand möglich sein,« sagte Herr Sergius; »wir laufen Gefahr, unter ihren Massen erdrückt zu werden.«

»Was thun?...« fragte Jean.

»Wir müssen fort!«

»Wann?...« fragte Herr Cascabel.

»Augenblicklich!« antwortete Herr Sergius.

Hatte Herr Sergius angesichts dieser gewiß sehr ernsten Gefahr recht, die Insel verlassen zu wollen? Ja, es war der einzig mögliche Ausweg. Sehr wahrscheinlich wollten die Seehunde die auf ihrem Gebiete Obdach suchenden Menschen bloß vertreiben und würden sie nicht über das Eisfeld verfolgen. Andererseits wäre der Versuch, sie mit Gewalt zu zerstreuen, mehr als unvorsichtig gewesen. Was vermochten Flinten und Revolver wider diese Tausende von Tieren?

Die Pferde wurden eingespannt; die Frauen zogen sich in ihre Abteilungen zurück; und die Männer schritten, zur Verteidigung bereit, auf beiden Seiten des Gefährtes einher, welches sich von neuem gen Westen bewegte.

Die Nacht war so stichfinster, daß die Wagenlaternen die Fläche kaum zwanzig Schritt weit zu beleuchten vermochten. Inzwischen brach der Sturm in voller Wut los. Es schneite nicht; die Flocken, welche durch die Luft flatterten, hatte der Wind von der Oberfläche des Eisfeldes aufgewirbelt.

Wäre das Eis nur völlig fest gewesen! Aber das war es nicht. Man fühlte die Schollen mit lang gezogenem Krachen nachgeben. Spalten entstanden, durch welche das Meerwasser emporspritzte.[188]

So ging es während einer Stunde weiter, unter beständiger Furcht, daß man einbrechen werde. Es war nicht mehr möglich, eine genaue Richtung einzuhalten, wenngleich Jean dieselbe wohl oder übel nach der Magnetnadel zu bestimmen suchte. Zum Glück hatte man auf dem Marsche nach der Westküste nicht so, wie bei der Insel Diomedes zu befürchten, daß man sie links oder rechts von sich liegen lassen werde, ohne sie zu bemerken. Die sibirische[189] Küste dehnte sich zehn Meilen weit am Horizonte aus und war somit nicht zu verfehlen.


Der Windstoß entfesselte sich mit erneuter Macht. (Seite 190.)
Der Windstoß entfesselte sich mit erneuter Macht. (Seite 190.)

Der Windstoß entfesselte sich mit erneuter Macht. (Seite 190.)


Aber man mußte sie erreichen, und die erste Bedingung dazu war, daß die Belle-Roulotte nicht in den Tiefen des Beringmeeres versinke!

Wenn diese Gefahr aber auch die drohendste war, so war sie doch nicht die einzige. Dem Anprall des wütenden Sturmes von der Seite ausgesetzt, drohte das Gefährt jeden Augenblick umzuschlagen. Vorsichtshalber hatte man sogar Cornelia, Napoleone und Kayette aussteigen lassen müssen. Herr Sergius und Herr Cascabel, Jean, Xander und Clou klammerten sich an die Räder und mühten sich, den Wagen aufrecht zu halten. Man kann sich denken, wie langsam die Pferde unter diesen Umständen weiterkamen und wie schwer sie sich auf den Beinen hielten.

Gegen halb sechs Uhr morgens – am neunundzwanzigsten Oktober – inmitten einer ebenso dichten Finsternis wie die, welche die Räume zwischen den Sternen erfüllt, war man gezwungen, Halt zu machen. Das Gespann kam nicht weiter. Die Eisfläche hob und senkte sich unter dem Einfluß der Wogen, welche der Sturm aus den südlicheren Strichen des Beringmeeres herauftrieb.

»Was ist da zu machen?...« fragte Jean.

»Wir müssen auf die Insel zurückkehren!« rief Cornelia, der es nicht gelang, die tödlich erschrockene Napoleone zu beruhigen.

»Das ist jetzt nicht mehr möglich!« antwortete Herr Sergius.

»Warum nicht?« entgegnete Herr Cascabel. »Ich schlage mich noch immer lieber mit Seehunden herum, als...«

»Ich wiederhole Ihnen, daß es uns jetzt unmöglich ist, auf die Insel zurückzukehren!« erklärte Herr Sergius. »Wir müßten gegen den Sturm gehen und unser Wagen könnte ihm keinen Widerstand leisten! Er wird zertrümmert, wenn er nicht vor dem Sturm flieht!...«

»Wenn wir nur nicht gezwungen werden, ihn im Stiche zu lassen!...« sagte Jean.

»Ihn im Stiche lassen!« rief Herr Cascabel. »Und was soll ohne unsere Belle-Roulotte aus uns werden?...«

»Wir werden alles thun, um es nicht dazu kommen zu lassen!« antwortete Herr Sergius. »Ja!... Dieser Wagen ist unser Heil und wir werden ihn um jeden Preis zu retten suchen...«

»Also ist es nicht möglich umzukehren?...« fragte Herr Cascabel.

»Nein; wir müssen vorwärts zu kommen suchen!« erwiderte Herr Sergius. »Nur Mut, kaltes Blut und wir werden Numana schon erreichen!«

Diese Worte wirkten neubelebend auf alle. Es war nur allzu klar, daß der Sturm die Rückkehr nach der Insel Diomedes unmöglich machte. Er blies mit solchem Ungestüm aus Südosten, daß weder Tier noch Menschen wider ihn anzukämpfen vermochten.


Die beiden unglücklichen Tiere verschwanden. (Seite 192.)
Die beiden unglücklichen Tiere verschwanden. (Seite 192.)

Die Belle-Roulotte konnte nicht einmal mehr stehend verharren. Der bloße Versuch, den Luftdruck auszuhalten, hätte sie zu Falle gebracht.

Gegen zehn Uhr war der Tag teilweise angebrochen – ein grauer, uebliger Tag. Die niedrigen, zerrissenen Wolken fegten wie Dunst über die Meerenge[190] hin. Schnee und Eissplitter wirbelten durch die Luft. Unter so ungünstigen[191] Umständen legte man in anderthalb Stunden nur eine halbe Meile zurück, da man auch noch die Wasserlachen und die auf dem Eisfeld angehäuften Schollen umgehen mußte. Der vom offenen Meere herrollende Wogenschlag ließ die ganze Fläche unaufhörlich schwanken und krachen.

Plötzlich, gegen drei Viertel auf Eins, verspürte man eine heftige Erschütterung. Ein weites Netz von strahlenförmigen Rissen wurde rings um das Gefährt sichtbar... Unter den Hufen des Gespanns that sich ein Spalt von dreißig Fuß Breite auf.

Ein Warnungsruf des Herrn Sergius brachte seine Gefährten wenige Schritte vor diesem Spalt zum Stehen.

»Unsere Pferde!... Unsere Pferde!...« schrie Jean. »Vater, retten wir unsere Pferde!...«

Es war zu spät. Die armen Tiere verschwanden unter den einbrechenden Eistafeln. Wären die Deichsel und die Stränge nicht abgerissen, so würde die Belle-Roulotte ebenfalls in die Tiefen des Meeres gestürzt sein.

»Unsere armen Tiere!« rief Herr Cascabel verzweifelt.

Ja! Die alten Freunde des Gauklers, mit denen er die Welt durchstreift hatte, die treuen Gefährten, die sein Wanderleben solange geteilt, sie waren vom Meer verschlungen! Große Thränen netzten die Augen des Herrn Cascabel, seiner Frau und seiner Kinder.

»Zurück!... Zurück!« schrie Herr Sergius.

Und indem man sich mit aller Kraft gegen die Räder des Wagens stemmte, gelang es, denselben von dem Spalt zu entfernen, der durch das Schwanken des Feldes immer weiter wurde. So schob man das Gefährt einige zwanzig Schritte zurück, aus dem Bereiche des Eisbruchs.

Aber die Lage war trotzdem sehr bedenklich. Was sollte man jetzt thun? Die Belle-Roulotte inmitten der Meerenge zurücklassen, um sie später, nachdem man Numana erreicht, mit einem Renntiergespann abholen zu kommen?... Es schien wirklich nichts anderes übrig zu bleiben. Plötzlich schrie Jean auf:

»Herr Sergius, Herr Sergius!... Sehen Sie nur!... Wir treiben!...«

»Treiben?...«

Es war nur allzu wahr.

Augenscheinlich hatte ein allgemeiner, jäher Eisbruch die Schollen zwischen den beiden Ufern der Meerenge in Bewegung gesetzt. Im Verein mit dem Steigen der Temperatur hatten die wütenden Windstöße das in der Mitte ungenügend gefestigte Eisfeld zertrümmert. Indem die brechenden Schollen teils auf, teils unter dasselbe geschleudert wurden, entstanden breite Kanäle, durch welche das schwimmende Eiland, das die Belle-Roulotte trug, vor dem Sturme gegen Norden trieb. Einige festsitzende Eisberge bildeten[192] Orientierungspunkte, nach denen Herr Sergius die Richtung ihrer unfreiwilligen Fahrt zu bestimmen vermochte.

Man sieht, wie sehr die schon durch den Verlust des Gespanns bedenklich gewordene Lage sich noch verschlimmert hatte. Selbst wenn man den Wagen zurücklassen wollte, würde man Numana nicht mehr erreichen können. Es handelte sich nicht mehr um Risse, die man zu umgehen vermochte, sondern um zahlreiche, absolut unpassierbare Kanäle, deren Richtung sich nach den Launen des Wogenschlages jeden Augenblick veränderte. Und dann, wie lange würde die Eistafel, welche die Belle-Roulotte trug und deren Fortbewegung man nicht hindern konnte, dem Anprall der gegen ihre Ränder schlagenden Wellen Widerstand leisten?

Nein, es war nichts zu machen! Jeder Versuch, die Fahrt nach der sibirischen Küste hin zu lenken, wäre fruchtlos gewesen. Der schwimmende Eisblock würde weiter treiben, bis irgend ein Hindernis ihn aufhielt, und wer wußte, ob dies Hindernis nicht die Eisbarriere an den Grenzen des Polarmeeres sein würde!

Gegen 2 Uhr nachmittags war die Dunkelheit, durch die windgepeitschten Nebelstreifen vergrößert, bereits so dicht, daß der Ausblick sehr beschränkt er schien. Auf der Nordseite der Belle-Roulotte gegen den Sturm geschützt, verharrten Herr Sergius und seine Gefährten in tiefem Schweigen. Was hätten sie sagen sollen, wo kein Versuch zur Abhilfe möglich war? In Decken gehüllt, kauerten Cornelia, Kayette und Napoleone dicht beisammen. Der junge Xander, mehr erstaunt als geängstigt, pfiff eine Arie. Clou beschäftigte sich damit, die durch die Erschütterung durcheinander geworfenen Gegenstände im Innern der Abteilungen wieder an Ort und Stelle zu bringen. Herr Sergius und Jean hatten ihre Kaltblütigkeit bewahrt, nicht aber Herr Cascabel, der sich die bittersten Vorwürfe machte, seine Leute in eine so gewagte Lage gebracht zu haben.

Es war jetzt vor allem von Wichtigkeit, sich über die Situation klar zu werden. Man wird sich erinnern, daß zwei Strömungen in entgegengesetzter Richtung, die eine nach Süden, die andere nach Norden, durch die Beringstraße fließen Wenn die mit dem Personal und dem Material der Belle-Roulotte belastete Eistafel von der ersteren ergriffen wurde, so wandte sie sich unfehlbar zurück und konnte möglicherweise an die sibirische Küste geschwemmt werden. Geriet sie aber in die nördliche Strömung, so würde sie ins Eismeer hinauf treiben, wo sie weder auf festes Land, noch auf Inselgruppen treiben konnte.

Unglücklicherweise drehte der Orkan sich immer mehr nach Süden, je stärker er wurde. In dem durch die Meerenge gebildeten Trichter entstand eine Luftströmung, deren Gewalt man sich kaum vorstellen kann.[193]

Soviel vermochten Herr Sergius und Jean zu konstatieren. Sie sahen auch, daß jede Möglichkeit schwand, von der südlichen Strömung ergriffen zu werden. Der Kompaß wies auf eine nördliche Richtung des Eistreibens. Durste man also hoffen, daß die Eistafel an der alaskischen Küste beim Prince-of-Wales-Kap, in der Nähe von Port-Clarence, stranden werde? Das würde wirklich ein segensreicher Ausgang sein. Aber die Meerenge endet in einer so weiten Öffnung zwischen dem Ostkap und dem Prince-of-Wales-Kap, daß es unvernünftig gewesen wäre, sich dieser Hoffnung hinzugeben.

Es wurde fast unmöglich, seinen Platz auf der Eistafel zu behaupten, da niemand in dem rasenden Sturme aufrecht stehen konnte. Jean, der den Zustand des Meeres auf der Südseite ermitteln wollte, wurde umgeworfen und würde ins Wasser geschleudert worden sein, wenn Herr Sergius ihm nicht zu Hilfe gekommen wäre.

Welche Nacht sie verbrachten, die armen Schiffbrüchigen – denn sie waren wirklich in der Lage von Leuten, die sich aus einem Schiffbruch gerettet haben. Welche unaufhörliche Todesangst! Bald prallten Eisberge von beträchtlicher Größe an ihr schwimmendes Eiland an, so daß es schwankend zu zerschellen drohte. Bald fegten schwere Sturzwellen darüber hin und schienen es verschlingen zu wollen. Alle erstarrten unter diesen Douchen, die der Wind über ihren Häuptern zerstäubte. Man hätte denselben nur ausweichen können, indem man wieder in den Wagen stieg; aber derselbe schwankte so heftig unter den Windstößen, daß weder Herr Sergius noch Herr Cascabel ihn als Zufluchtsort zu empfehlen wagten.

So verflossen endlose Stunden. Da die Kanäle aber immer breiter wurden, war das Treiben nicht mehr mit so großen Erschütterungen verbunden. Hatte die Eistafel den engen Teil der Beringstraße passiert und näherte sie sich der wenige Meilen davon entfernten Öffnung ins Eismeer? War sie über den Polarkreis hinaus gekommen? Kurz, hatte die nördliche Strömung den Sieg über die südliche davon getragene Und mußte dann die Tafel, falls die amerikanische Küste sie nicht aufhielt, nicht bis an die ungeheure Eisbarriere getrieben werden?

Wie langsam der Tag herankam – der Tag, welcher ihnen wenigstens gestatten würde, ihre Lage genau zu übersehen. Die armen Frauen beteten... Die Rettung konnte ihnen nur mehr von Gott kommen.

Endlich brach der Tag an – der dreißigste Oktober. Er brachte keine Ausgleichung der atmosphärischen Strömungen mit sich. Die Wut des Sturmes schien sich nach Sonnenaufgang sogar zu verdoppeln.

Den Kompaß zur Hand, prüften Herr Sergius und Jean den Horizont; vergeblich suchten sie im Osten oder Westen Land zu entdecken.


Nicht endenwollende Skunden verflossen. (Seite 194.)
Nicht endenwollende Skunden verflossen. (Seite 194.)

Die Eistafel – das war nur allzu gewiß – war von[194] der nördlichen Strömung nach Norden getragen worden.

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Man kann sich denken, daß dieser Sturm die Bewohner von Port-Clarence in die größte Besorgnis wegen des Schicksals der Familie Cascabel[195] versetzte. Aber wie hätten sie derselben zu Hilfe kommen können, da der Eisbruch jeden Verkehr mit der asiatischen Küste abschnitt?...

Ebenso machtlos waren die beiden russischen Polizisten in Numana, welche achtundvierzig Stunden früher über die Meerenge gekommen waren und die Abfahrt der Belle-Roulotte gemeldet hatten. Allerdings war es nicht aus Mitgefühl, daß sie sich um die kleine Truppe sorgten. Bekanntlich erwarteten sie den Grafen Narkine an der sibirischen Küste, um sich seiner Person zu bemächtigen... Und nun war Graf Narkine aller Wahrscheinlichkeit nach mit der ganzen Familie Cascabel im Eise umgekommen.

Drei Tage später schwand der letzte Zweifel daran; denn die Strömung warf zwei Pferdeleichen in einer kleinen Bucht bei Numana ans Land. Es waren die Kadaver Vermouts und Gladiators, welche das alleinige Gespann der Gaukler gebildet hatten.

»Meiner Treu!« sagte einer der Polizeibeamten, »wir haben wohl daran gethan, die Meerenge vor unserem Manne zu passieren!...«

»Ja,« antwortete der andere, »aber es ist doch ärgerlich, um einen so guten Fang gekommen zu sein!«

Quelle:
Jules Verne: Cäsar Cascabel. Berlin [o. J.], S. 181-196.
Lizenz:

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