Einundzwanzigstes Capitel.

[208] Ki-Tsang ist es also gewesen, der diesen Ueberfall des Zuges der Groß-Transasiatischen Bahn in der Gobi-Wüste versucht hatte.


Plötzlich ertönt ein lautes Geschrei. (S. 204.)
Plötzlich ertönt ein lautes Geschrei. (S. 204.)

Der Pirat von Yunnan hatte erfahren, daß sich in dem Zuge ein mit Gold und Edelsteinen beladner Wagen befinde ....


Faruskiar stößt ihm den Kandjar mitten in die Brust. (S. 207.)
Faruskiar stößt ihm den Kandjar mitten in die Brust. (S. 207.)

Doch ist das so wunderbar, da die Journale, sogar die vonParis, die Neuigkeit unter ihrem »Vermischten« schon seit mehreren Tagen ausposaunt hatten? Ki-Tsang hatte demnach Zeit, seinen Streich vorzubereiten, eine Strecke Schienen auszuheben, um jedes Entkommen zu verhindern, und es würde ihm unzweifelhaft gelungen sein, sich nach Niedermetzlung der Passagiere des kaiserlichen Schatzes zu bemächtigen, wenn ihn der Seigneur Farusklar nicht zu seinen Füßen niedergestreckt hätte. Nun wußt' ich ja, warum unser Held schon seit dem Morgen so unruhig gewesen war. Wenn er die Wüste fortwährend aufmerksam überblickte, so geschah das, weil er über das Vorhaben Ki-Tsang's durch den in Tcherichen hinzugekommenen letzten Mongolen unterrichtet worden war! ... Jedenfalls hatten wir für später nichts mehr zu fürchten. Der Verwaltungsrath der Gesellschaft hat gegen ihn Gerechtigkeit geübt, freilich in etwas summarischer Weise. Wir befinden uns jedoch mitten in der Wüste von Gobi, wo noch kein Schwurgericht in Thätigkeit ist ... zum Glück für die Mongolen.

»Nun, wende ich mich an den Major, ich hoffe, jetzt sind Sie von Ihrem Verdachte gegen den Seigneur Farusklar zurückgekommen?

– In gewissem Maße, Herr Bombarnae! ...«

In gewissem Maße? ... Zum Teufel, ist aber der Major Noltitz schwer zu befriedigen!

Doch beschäftigen wir uns mit dem Zunächstliegenden und zählen unsre Opfer.

Auf unsrer Seite haben wir, den chinesischen Officier eingerechnet, drei Todte, ferner ein Dutzend Verwundete, davon vier schwer, die andern so leicht verletzt, daß sie die Fahrt bis Peking ruhig fortsetzen können. Popof ist auch mit einem Hautritz weggekommen, Herr Caterna mit einer Beule, die Frau Caterna eigenhändig pflegen und beseitigen zu können hofft. Der Major hat die Verwundeten in die Wagen schaffen lassen und widmet ihnen jede unter den gegebenen Umständen mögliche Sorgfalt. Der Doctor Tio-King bietet auch seine Dienste an, man scheint ihm jedoch einen russischen Militärarzt vorzuziehen, und das begreif' ich schon. Unsre Gefährten, die heute ums Leben gekommen sind, werden wir bis zur nächsten Station mitnehmen, um ihnen da die letzte Ehre zu erweisen.

Die Räuber haben ihre Todten einfach liegen lassen. Wir werden sie mit ein wenig Sand bedecken, damit ist Alles abgemacht!

An dem Punkte der Linie, wo der Zug zum Stehen gebracht wurde, befindet er sich etwa gleich weit von Tcharkalyk wie von Tcherichen, den beiden einzigen Stationen, von wo Hilfe zu holen ist. Unglücklicherweise sind sie jetzt[211] außer telegraphischer Verbindung, denn Ki-Tsang hatte beim Aufreißen der Schienen auch die Telegraphenstangen mit umschlagen lassen.

Was nun am besten zu thun schien, veranlaßte keine lange Verhandlung.

Da die Maschine bis über die letzte Schiene hinausgelaufen war, mußte diese zuerst wieder ins Gleis gebracht werden. Bei der Unterbrechung der Linie würde es dann am einfachsten sein, den Zug nach Tchertchen zurückzuschieben, wo er dann verweilen mußte, bis Arbeiter von der Bahngesellschaft den Schaden wieder ausgebessert hatten, was unter normalen Verhältnissen in achtundvierzig Stunden wohl auszuführen war.

Nun ging's im Augenblick an's Werk. Die Passagiere drängen sich, Popof und den andern Zugbediensteten zu helfen. Einige Hilfsmittel haben sie bei der Hand, darunter Brechstangen. Hebel. Meißel und verstellbare Schraubenschlüssel. Nach dreistündiger Arbeit gelingt es wirklich. Maschine und Tender wieder auf's Gleis zu bringen.

Das Schlimmste ist hiermit gethan. Jetzt, mit der Maschine am Ende und bei mäßiger Geschwindigkeit, kann der Zug wohl nach Tcherichen zurückkehren. Doch wie viel Zeit geht damit verloren, welche Verspätung kostet das! Da wird unser deutscher Baron schön auffahren und es wird Donnerwetter und Teufel neben andern germanischen Flüchen regnen!

Ich vergaß zu erwähnen, daß wir, die Passagiere, ich an ihrer Spitze, gleich nach der Flucht der Räuber uns beeilt haben, dem Seigneur Farusklar zu danken. Dieser Heros hat unsre Dankesbezeugungen mit der ganzen Würde des Orientalen entgegengenommen.

»Ich habe nur meine Pflicht gethan als Verwaltungsrath der Gesellschaft!« antwortet er, nicht ohne eine gewisse vornehme Bescheidenheit.

Auf seinen Befehl haben sich auch die Mongolen an der Arbeit betheiligt; ich bemerkte sogar, daß sie dabei den rastlosesten Eifer entwickelten – was ihnen unsre aufrichtigen Glückwünsche einbringt.

Inzwischen haben sich der Seigneur Farusklar und Ghangir wiederholt mit leiser Stimme unterhalten, und eine Folge dieses Gesprächs ist ein Vorschlag, dessen sich kaum Jemand versehen hatte.

»Herr Zugführer, sagt der Seigneur Farusklar, sich an Popof wendend, meiner Ansicht nach ist es besser, wir setzen unsern Weg nach Tcharkalyk fort, statt nach Tcherichen zurückzufahren, und zwar im dringenden Interesse der Reisenden.[212]

– Ja gewiß, Herr Verwaltungsrath, das wäre vorzuziehen, wenn nur der Weg nach Tcharkalyk hin nicht unterbrochen wäre und uns jede Weiterfahrt unmöglich machte ....

– Für den Augenblick, Herr Zugführer. Könnten die Wagen aber nicht darüber hinwegkommen, wenn wir das Gleis wenigstens provisorisch wieder in Stand setzten?«

Das ist ein Vorschlag, der wohl beachtet zu werden verdient. Wir besprechen denselben auch Alle, der Major Noltitz, Pan-Chao, Fulk Ephrinell, Herr Caterna, der Geistliche, der Baron Weißschnitzerdörser und noch ein Dutzend Passagiere – wenigstens diejenigen, die russisch verstehen.

Der Seigneur Farusklar nimmt wieder das Wort und sagt:

»Ich habe mir die von der Bande Ki-Tsang's zerstörte Stelle angesehen Die meisten Schwellen liegen noch an ihrem Platze. Die Schienen haben die Kerle nur auf den Sand geworfen, und wenn wir diese wieder aneinanderfügen, wird es leicht sein, den Zug bis nach der Stelle vorzuschieben, wo das Gleis noch in gutem Zustande ist. In vierundzwanzig Stunden kann diese Arbeit vollendet sein und fünf Stunden darauf treffen wir in Tcharkalyk ein.«

Ein herrlicher Gedanke, dem Popof, der Maschinist, die Reisenden und vor Allem auch der Baron gern zustimmen. Dieser Plan scheint ausführbar, denn selbst wenn einzelne Schienen fehlen sollten, könnten die, über die der Zug hinweg ist, wieder nach vorn verlegt werden.

Wahrlich, das ist ein Mann, dieser Seigneur Farusklar, unser wahres Oberhaupt, das ist die Persönlichkeit, nach der es mich verlangte, und seinen Namen werd' ich durch die ganze Welt ausposaunen, ihm zu Ehren alle Trompeten der Reportage ertönen lassen.

Und der Major Noltitz hat sich einbilden können, in ihm den Rivalen jenes Ki-Tsang zu erkennen, dessen Schandthaten von seiner Hand die gerechte Strafe zutheil wurde!

In erster Linie bemühen wir uns nun, die Schwellen wieder dorthin zu verlegen, wo der Eindruck von ihnen im Erdboden sichtbar ist, und diese Arbeit wird ohne Unterbrechung fortgesetzt.

Selbstverständlich ist es mir bei der allgemeinen Verwirrung, die nach dem Unfall herrschte, möglich geworden, einmal in den Packwagen zu dringen, wo ich Kinko heil und gesund antraf, ihm das Vorgefallene mittheilte und ihn ersuchte, jetzt vorsichtig zu sein und seinen Kasten ja[213] nicht zu verlassen. Er hat es mir versprochen, und ich bin nach dieser Seite hin beruhigt.

Es war gegen drei Uhr, als die Arbeit begann. Die Schienen waren etwa hundert Meter weit aufgerissen – wie der Seigneur Farnsklar schon erklärte, ist es keineswegs nöthig, sie ordnungsmäßig zu befestigen. Das würde die Aufgabe der Bahnarbeiter sein, die die Gesellschaft von Tcharkalyk aussenden könnte, wenn unser Zug diese Station – eine der wichtigsten der ganzen Linie – erreicht hatte.

Da die Schienen sehr schwer sind, treten wir in bestimmte Abtheilungen zusammen. Passagiere erster und zweiter Classe gehen unverdrossen aus Werk. Der Baron entwickelt einen fabelhaften Eifer. Fulk Ephrjuell, der an seine Hochzeit so wenig denkt, als hätte er sich niemals verheiraten sollen – denn erst die Geschäfte und dann das Vergnügen – arbeitet wie mit vier Händen. Pan-Chao läßt sich von Niemand übertreffen und selbst der Doctor Tio-King sacht sich nützlich zu machen .... freilich nach Art des berühmten »August« in den Reiterbuden der Jahrmärkte.

Zum Teufel, das ist aber warm; sie brennt gehörig, diese Sonne von Gobi, der »Strahlenhäuptling«, wie Herr Caterna sich gern ausdrückt.

Nur Sir Francis Trevellyan von Trevellyan-Hall bleibt ruhig in seinem Wagen sitzen. Diesem Gentleman geht die ganze Geschichte offenbar gar nichts an.

Um sieben Uhr ist die Strecke dreißig Meter weit nothdürftig hergestellt. Jetzt kommt schon die Nacht und so beschließen wir denn, bis zum folgenden Morgen auszuruhen. Ein halber Tag wird hinreichen, die Arbeit zu vollenden, und bald nach Mittag muß der Zug abfahren können.

Wir haben wüthenden Hunger und sind wie zerschlagen. Nach so harter Arbeit bekommt der Mensch Appetit! Alle finden sich im Dining-car zusammen, wie sie kommen, ohne Unterschied der Wagenclasse. An Lebensmitteln fehlt es nicht, und so legen wir eine tüchtige Bresche in die Vorräthe der Speisekammer. Was thut's? In Tcharkalyk kann man diese ja wieder ersetzen.

Herr Caterna ist ganz besonders aufgeräumt, er lacht, schwatzt, stichelt auf den Einen oder den Andern, kurz, er ist ganz aus dem Häuschen. Beim Nachtisch intoniren Herr und Frau Caterna ein der Situation ganz angepaßtes Liedchen aus der »Reise nach China«, dessen Refrain wir mit mehr gutem Willen als kunstgerecht wiederholen:
[214]

O, China ist ein schönes Land

Für Jeden, der dort wohlbekannt ....


Labiche, hättest Du wohl je geahnt, daß dieses herrliche Lied auch einmal verunglückte Reisende der Groß-Transasiatischen Bahn entzücken sollte?

Da kommt unserm Komiker eine – nun ja, eine etwas kühne – Idee ... und welche? ... Warum soll denn die durch den Ueberfall auf den Zug unterbrochene Trauung nicht wieder aufgenommen werden? ... Warum soll die Verkündigung der Ehe ausbleiben?

»Welcher Ehe? fragt Fulk Ephrjuell.

– Nun, die der Ihrigen, mein Herr, Ihrer eignen ... erwidert Herr Caterna. Haben Sie gar nicht mehr daran gedacht? ... Das wäre kein schöner Zug von Ihnen!«

In der That scheint weder Fulk Ephrinell, noch Miß Horatia Bluett sich zu erinnern, daß sie ohne den Angriff Ki-Tsang's und seiner Bande jetzt durch die sanften Bande Hymens vereinigt wären.

Für den Augenblick sind freilich Alle viel zu müde. Der Reverend Nathaniel Morse kann nicht mehr. Er hätte nicht mehr die Kraft, die jungen Gatten einzusegnen, und diese nicht die Kräfte, seinen Segen zu vertragen. Die Ceremonie soll also auf übermorgen verschoben bleiben. Zwischen Tcharkalyk und Lan-Tcheu liegt eine Strecke von neunhundert Kilometern, und das ist mehr, als man zur Verkuppelung des englisch-amerikanischen Paares nöthig hat.

Jedermann sucht nun auf seinem Lager oder auf den Bänken einen erquickenden Schlaf.

Natürlich werden keine Vorsichtsmaßregeln vergessen.

So unwahrscheinlich es nach der Tödtung ihres Führers sein mag, könnten die Banditen doch noch einen nächtlichen Ueberfall versuchen. Die Satansmillionen des Sohnes des Himmels sind ja noch immer da, um ihre Habgier zu reizen, und wenn wir nicht auf der Hut wären ....

Der Seigneur Farusklar in eigner Person hat es übernommen, die Umgebung des Zuges scharf überwachen zu lassen. Seit dem Tode des Officiers führt er den Befehl über die chinesische Begleitmannschaft. Ghangir und er selbst werden den kaiserlichen Schatz bewachen und, wie Herr Caterna sagt, der wegen eines Citats aus dem Repertoir der komischen Oper nie verlegen ist:

»Diese Nacht werden die Ehrenjungfrauen wohl behütet sein!«[215]

Und wahrlich, das konnte für den kaiserlichen Schatz noch in höherem Grade gelten, als für die schöne Athénaïs de Solange zwischen dem ersten und zweiten Acte der »Musketiere der Königin«.

Mit dem ersten Grauen des folgenden Tages geht es wieder an die Arbeit. Das Wetter ist herrlich, wenn der Tag auch voraussichtlich warm wird. Am 24. Mai und mitten in der Wüste Centralasiens herrscht eine solche Temperatur, daß man bequem Eier sieden könnte, wenn man sie nur mit ein wenig Sand bedeckt.

Niemand läßt in seinem Eifer nach ... Alle arbeiten wie am Vortage, die Wiederherstellung des Gleises schreitet regelmäßig fort. Die auf die Schwellen verlegten Schienen stoßen allmählich mit ihren Köpfen aneinander, und gegen vier Uhr Nachmittags kann die Stelle wieder mit Vorsicht befahren werden.

Sofort beginnt die jetzt wieder unter Dampf gesetzte Maschine sich zu bewegen; ihr folgen die Wagen, die wir einzeln weiterschieben, um eine Entgleisung zu vermeiden.

Endlich sind sie ohne Schaden zu nehmen über die Unglücksstelle hinweg, und nun ist der Weg bis Tcharkalyk – was sag' ich – bis Peking frei.

Wir nehmen unsre Plätze wieder ein und Popof giebt das Abfahrtssignal in dem Augenblicke, wo Herr Caterna das Siegeslied der Seeleute von dem Admiralschiffe Haydée anstimmt.

Tausend Hurrahs geben ihm Antwort! ...

Um zehn Uhr Abends läuft der Zug in den Bahnhof von Tcharkalyk ein.

Unsre Verspätung beträgt dreißig Stunden. Dreißig Stunden sind für den Baron Weißschnitzerdörser freilich mehr als genug, um den Dampfer von Tien-Tsin nach Yokohama zu versäumen.[216]

Quelle:
Jules Verne: Claudius Bombarnac. Notizbuch eines Reporters. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXII, Wien, Pest, Leipzig 1894, S. 208-209,211-217.
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