Fünfundzwanzigstes Capitel.

[247] Und ich Thor, der ich nach Stoff für meine Berichte suchte, der die Langeweile einer eintönigen Philisterfahrt von sechstausend Kilometern so sehr fürchtete, eine Fahrt, bei der ich keine Eindrücke erhielt, keine Aufregung empfand, die da werth gewesen wäre, durch Druckerschwärze verewigt zu werden!

Ich will's nur zugeben ... ich habe noch eine, und zwar eine kolossale Dummheit begangen! Der verwünschte Seigneur Farusklar, den ich – durch meine Depesche – zum edlen Helden gestempelt habe! Was werden die getreuen Leser des »XX. Jahrhundert« dazu sagen! Wahrlich, ich verdiene unter die erstelässigen Pflastertreter der Hölle versetzt zu werden.

Wir befinden uns, wie schon gesagt, zweihundert Schritte vom Tjuthale, einer tiefen Bodensenke, die die Errichtung eines dreihundertfünfzig bis vierhundert Fuß langen Viaducts nöthig gemacht hat. Das mit Felsstücken übersäete Thal ist wenigstens hundert Fuß tief. Stürzte der Zug in den Abgrund, so wäre keiner von uns mit dem Leben davon gekommen. Diese denkwürdige – vom Standpunkte des Reporters betrachtet, höchst interessante – Katastrophe hätte gut hundert Opfer gefordert. Dank der Kaltblütigkeit, der Entschlossenheit und dem Opfermuthe des jungen Rumänen sind wir von diesem entsetzlichen Unglücksfall verschont geblieben.

Alle? ... Ach nein! ... Kinko hat ja die Rettung seiner Gefährten mit dem eignen Leben bezahlt

Inmitten des furchtbarsten Durcheinander ist es nämlich meine erste Sorge gewesen, nach dem unversehrt gebliebenen Packwagen zu sehen. Hätte Kinko die Explosion überlebt, so wäre er nach diesem zurückgekehrt und in sein rollendes Gefängniß in der Erwartung geschlüpft, daß ich mich mit ihm schon in Verbindung setzen werde ....

O weh! der Kasten ist leer – leer wie die Casse einer falliten Bankgesellschaft .... Kinko ist seiner Opferfreudigkeit erlegen.

Es gab also doch einen Helden in unsrer Gesellschaft, doch nicht jenen Farnsklar, den gottlosen, unter der Haut eines Verwaltungsrathes verborgnen[247] Räuber, dessen Namen ich ungeschickter Weise nach allen Ecken der Welt hinausgepredigt habe. Nein, dieser Rumäne war es, dieser bescheidene, kleine arme Verlobte, den seine Braut vergeblich erwarten, den sie niemals wiedersehen wird! – Doch, ihm soll sein Recht werden! ... Ich erzähle, was er gethan hat ... Jetzt wär' es ein Verbrechen, sein Geheimniß noch weiter zu hüten .... Hat er die Groß-Transasiatische Eisenbahngesellschaft auch betrogen, so hat er gerade dadurch einen ganzen Personenzug retten können! ... Wir wären verloren, wären zum schrecklichsten Tode verdammt gewesen, wenn Kinko nicht da war!

Ich bin mit schwerem Herzen und thränenden Augen nach dem Gleise wieder hinunter gestiegen.

Der Schandplan Farusklar's – den sein Rivale Ki-Tsang nur vorzeitig kreuzte – war vortrefflich erdacht, indem jener sich dabei der sechs Kilometer langen, nach dem unvollendeten Viaducte führenden Zweiglinie bediente. Den Zug dorthin zu lenken, war ja ganz leicht, wenn ein Spießgeselle von ihm die jene beiden Linien verbindende Weiche umlegte. Sobald dann durch verabredete Zeichen gemeldet wurde, daß wir uns auf der Zweiglinie befanden, galt es blos, sich nach der Plattform der Locomotive zu begeben, deren Führer und Heizer umzubringen, und dann bei verminderter Geschwindigkeit des Zuges abzuspringen, während dieser nach vorheriger starker Beschickung des Maschinenrostes mit frischen Kohlen die volle Geschwindigkeit bald wieder erlangen mußte ....

Und jetzt ist daran gar nicht zu zweifeln, daß diese Schurken, die der raffinirtesten Folterqualen der chinesischen Justiz würdig wären, nach dem Thale von Tju eilen. Hier, unter den Trümmern des Zuges hoffen sie die fünfzehn Millionen an Gold und Edelsteinen zu finden. Und diesen Schatz könnten sie, ohne die Befürchtung, überrascht zu werden, fortschleppen, da ihnen die Nacht zu Hilfe kommt, ihr Verbrechen zu vollenden.


Inmitten der Finsterniß gewahrt man doch einen Wirrwarr von Gerüsten. (S. 246.)
Inmitten der Finsterniß gewahrt man doch einen Wirrwarr von Gerüsten. (S. 246.)

Nur zu ... sie werden sich beraubt sehen, die Räuber, und ich hoffe, daß eine solche Schandthat ihnen – zum allerwenigsten! – den Kopf kosten wird. Ich allein weiß, was vorgegangen ist; aber ich werde es sagen, da der arme Kinko doch nicht mehr vorhanden ist.

Ja, mein Entschluß steht fest, ich werde reden, sobald ich Zinca Klork gesehen habe. Das arme Mädchen muß vorsichtig von ihrem Unglück unterrichtet werden. Ich mag nicht, daß der Tod ihres Verlobten vorher zum Stadtgespräch wird und sie die Kunde davon wie ein Donnerschlag überrascht. Ja ... morgen ... sobald wir in Peking angelangt sind.[248]

Doch wenn ich auch vorläufig von Kinko nichts verlauten lassen darf, so will ich wenigstens Farusklar, Ghangir und die vier Mongolen, ihre Helfershelfer, denunciren. Ich kann ja aussagen, daß ich sie habe durch den Packwagen schleichen sehen, daß ich ihnen gefolgt bin, daß ich Alles verstanden, was sie auf der Plattform miteinander sprachen, daß ich den Schmerzensschrei der Unglücklichen vernommen habe, die in ihrem schweren Dienste ermordet wurden, und daß ich dann mit dem Rufe: »Nach rückwärts! ... Alle nach dem Ende des Zuges!« in die Waggons zurückgestürzt bin.

Wie sich bald zeigen wird, wartet sicherlich noch ein Andrer, dessen gerechter Verdacht sich nun in Gewißheit verwandelt hat, nur auf die Gelegenheit, den angeblichen Seigneur Farusklar anzuklagen!

Augenblicklich stehen wir, der Major Noltitz, der deutsche Baron, Herr Caterna, Fulk Ephrjuell, Pan- Chao, Popof und Andre, zusammen etwa zwanzig Reisegenossen, an der Spitze des verunglückten Zuges. Selbstverständlich sind die chinesischen Gendarmen, getreu ihrem Befehle, in der Nähe des Schatzes geblieben, den keiner von ihnen zu verlassen gewagt hatte. Der Schaffner aus dem letzten Waggon bringt die Endlaterne mit und ihr heller Schein gestattet uns, den Zustand der Locomotive zu erkennen.

Wenn der Zug, der ja mit außergewöhnlicher Schnelligkeit dahinraste, nicht plötzlich festgehalten worden war – was seine gänzliche Zerstörung herbeigeführt hätte – so lag das daran, daß bei der Explosion der Kessel nach oben und nach seitwärts geborsten war. Da die Schienen somit unversehrt blieben, konnte die Locomotive auf dem Geleise noch so lange fortrollen, bis ihre Schnelligkeit von selbst erstarb. Der Zug hat also schließlich allein Halt gemacht und deshalb blieben die Reisenden von einem gefährlichen Stoße verschont.

Vom Kessel und seinen Nebentheilen sind nur noch formlose Trümmer übrig. Kein Schornstein, kein Dampfdom oder Rauchkammer, nichts als verbogne Eisenbleche, zerrissne und verdrehte Feuerrohre, abgequetschte Cylinder, ausgerenkte Treibstangen – gähnende Wunden an einer stählernen Leiche.

Und nicht die Locomotive allein ist zerstört, sondern auch der Tender ist ganz dienstunfähig. Seine Wasserkästen sind eingedrückt und der Kohlenvorrath liegt auf und neben der Bahnstrecke verstreut, der Packwagen ist wie durch ein Wunder mit ganz leichter Beschädigung weggekommen.

Angesichts dieser schrecklichen Wirkungen der Explosion leuchtet mir ein, daß für den jungen Rumänen keine Rettung möglich gewesen ist, daß er todt,[251] zerrissen, in Stücke zersetzt sein muß! ... Obwohl ich die Strecke so etwa hundert Meter weit absuche, find' ich von ihm natürlich kein Ueberbleibsel! ...

Schweigend starren wir anfangs auf diese Verwüstung; dann hört man von der und jener Seite einzelne Aeußerungen fallen.

»Unser Heizer und unser Maschinenführer, sagt einer der Reisenden, sind bei der Explosion unzweifelhaft umgekommen.

– Die armen Leute! klagt Popos. Ich frage mich nur, wie der Zug hat auf die Seitenlinie nach Nanking kommen können, ohne daß sie es bemerkt hätten!

– Die Nacht ist sehr finster, meint Fulk Ephrjuell, und der Führer wird nicht haben sehen können, wie die Weiche stand.

– Das ist die einzig mögliche Erklärung, bestätigt Popof, denn sonst hätte er den Zug ganz gewiß angehalten, während wir gerade mit außerordentlicher Schnelligkeit dahingefahren sind ....

– Doch wie kam es, wirst Pan-Chao ein, daß die Seitenlinie nach Nanking überhaupt offen stand, da der Viaduct von Tju doch noch unvollendet ist? ... Es muß doch Jemand die Weiche verstellt haben! ...

– Ganz unzweifelhaft, stimmt ihm Popof zu; hier liegt gewiß eine grobe Nachlässigkeit vor ...

– Nein ... da ist böser Wille im Spiel, behauptet Fulk Ephrjuell. Hier liegt ein Verbrechen, ein vorbedachtes Verbrechen vor mit der Absicht, den Zug zu zerstören und die Reisenden umzubringen ....

– Zu welchem Zwecke aber? fragt Popos.

– Nun, den kaiserlichen Schatz zu rauben, erklärt Fulk Ephrjuell. Vergessen Sie denn ganz, daß diese Millionen Uebelthäter geradezu anlocken mußten? Erfolgte der Ueberfall zwischen Tcherichen und Tcharkalyk nicht auch in der Absicht, den Zug zu berauben? ...«

Der Amerikaner wußte gar nicht, wie richtig seine Annahme war.

»Nach dem Angriffe durch Ki-Tsang also, nahm Popof wieder das Wort, glauben Sie, daß noch andre Raubgesellen ...?«

Bisher hatte sich der Major Noltitz noch nicht in das Gespräch gemischt. Jetzt fällt er Popof ins Wort und sagt mit so lauter Stimme, daß ihn Alle hören und verstehen müssen:

»Wo ist denn der Seigneur Farnsklar?«

Ein Jeder dreht sich um und sucht zu entdecken, was aus dem Verwaltungsrathe der Gesellschaft geworden ist.[252]

»Wo ist sein Begleiter Ghangir?« fährt der Major fort.

Keine Antwort.

»Wo sind denn die vier Mongolen die im letzten Waggon saßen?« fragt der Major Noltitz.

Keiner derselben meldet sich.

Man ruft ein zweitesmal nach dem Seigneur Farusklar.

Der Seigneur Farusklar folgt dem Rufe nicht.

Popof begiebt sich nach dem Waggon, in dem sich jener gewöhnlich aufhielt ...

Der Waggon ist leer.

Leer? ... Nein. Sir Francis Trevellyan sitzt seelenruhig auf seinem Platze und bekümmert sich nicht im geringsten um das, was sonst vorgeht. Geht das denn diesen Gentleman weiter etwas an, als daß er sich sagen wird, daß auf den russisch-chinesischen Eisenbahnen eine Sorglosigkeit und Unordnung ohnegleichen herrscht? ... Eine Weiche geöffnet, und kein Mensch weiß, durch wen! ... Ein Zug, der sich auf eine falsche Strecke verirrt! ... Welch' ebenso lächerliche als echt moskowitische Verwaltung!

»Da sehen Sie! ruft jetzt der Major Noltitz, der Uebelthäter, der den Zug in die Seitenlinie nach Nanking übergeleitet, der, der ihn in das tiefe Thal von Tju stürzen lassen wollte, um sich dann des kaiserlichen Schatzes zu bemächtigen, war kein Andrer als Farusklar!

– Farusklar!« stießen die Reisenden wie aus einem Munde hervor.

Die meisten wollen der von Major Noltitz ausgesprochnen Beschuldigung keinen Glauben beimessen.

»Wie, ruft Popof, es wäre dieser Verwaltungsrath der Gesellschaft gewesen, der sich bei dem Räuberüberfalle so heldenhaft benommen, der den Anführer Ki-Tsang mit eigner Hand getödtet hat er sollte ...?«

Jetzt trete auch ich in der Sache auf.

»Der Major täuscht sich nicht, erkläre ich. Jener Farusklar ist es, der diesen Schurkenstreich ausgeführt hat!«

Inmitten der allgemeinen Bestürzung erzähl' ich nun, was ich weiß und was ich durch Zufall erfahren habe. Ich schildere, wie mir der Plan Farusklar's und der Mongolen bekannt geworden ist, freilich als es schon zu spät war, dessen Ausführung zu vereiteln, und ich verschweige auch nicht, was das Eingreifen Kinko's betrifft. Zur passenden Zeit werd ich schon für den wackern Burschen an rechter Stelle eintreten.[253]

Meinen Worten folgt ein wahres Gewitter von Flüchen und Drohungen. Wie! Jener Seigneur Farnsklar ... der stolze Mongole ... der Beamte, den wir selbst in Thätigkeit gesehen hatten! ... Nein ... das schien unmöglich!

Und doch muß man sich wohl oder übel den Thatsachen fügen. Ich habe mit eignen Augen gesehen ... mit eignen Ohren gehört ... ich versichere, daß Farusklar der Urheber der Katastrophe ist, die unsern Zug vernichten sollte, daß er der abscheulichste Bandit ist, der je in Centralasien sein Unwesen getrieben hat.

»Sie erkennen nun, Herr Bombarnae, flüstert der Major Noltitz mir zu, daß mein anfänglicher Verdacht völlig begründet war.

– Leider gar zu begründet, hab' ich geantwortet, und ich gestehe – ohne falsche Scham – daß ich mich von dem großartigen Auftreten jenes abscheulichen Schuftes habe bethören lassen.

– Herr Claudius, läßt sich da Herr Caterna vernehmen, der zu uns herangetreten ist, bringen Sie das in einen Roman, und Sie werden sehen, daß alle Welt über Unwahrscheinlichkeit schreit!«

Herr Caterna hat Recht – so unwahrscheinlich das alles sein mag, es ist doch thatsächlich so! Uebrigens muß es Allen, mich, der ich das Geheimniß Kinko's kenne, ausgenommen, als ein wahres Wunder erscheinen, daß die Locomotive wie durch eine von der Vorsehung bestimmte Explosion so kurz vor dem Abgrund stehen geblieben ist.

Jetzt, wo jede Gefahr vorüber, gilt es zuvörderst Maßnahmen zu ergreifen, um die Wagen des Zuges nach der Pekinger Linie zurückzuschaffen.

»Das einfachste wird es sein, sagt Popof, wenn einige von uns bereit wären ...

– Da bin ich dabei! meldete sich schon Herr Caterna.

– Um was handelt es sich? setze ich hinzu.

– Es gilt, sich zu Fuß zur nächsten Station, nach Fuen-Choo, zu begeben und von da aus nach dem Bahnhofe von Tat-Yuan zu telegraphiren, um eine Hilfslocomotive zu erbitten.

– Wie weit ist es bis zur Station Fuen-Choo? fragt Fulk Ephrjuell.

– Von hier sind gegen sechs Kilometer bis zur Theilung der Bahnlinie und von da aus liegt der Bahnhof von Fuen-Choo noch fünf Kilometer entfernt

– Also elf Kilometer zusammen, läßt der Major sich vernehmen, das ist für einen guten Fußgänger eine Sache von anderthalb Stunden. Vor drei[254] Uhr kann die von Taï-Yuan entsendete Locomotive schon bei dem verunglückten Zuge angelangt sein. Ich bin bereit aufzubrechen ....

– Ich auch, erklärt Popof, und ich glaube, wir thun gut, mehrere zusammen zu gehen. Wer weiß, ob wir nicht unterwegs dem Farusklar mit seinen Mongolen begegnen.

– Sie haben Recht, Popof, erwidert der Major, sorgen wir also dafür, gut bewaffnet zu sein.«

Das ist nur weise zu nennen, denn die Räuber, die sich doch jedenfalls nach dem Viaducte von Tju begeben, können ja nicht fern sein. Sobald sie freilich das Mißglücken ihres Sckurkenstreiches erkennen, werden sie wohl Fersengeld geben. Wie sollten sie – ihrer sechs – es wagen, gegen hundert Passagiere anzugreifen, ohne die chinesischen Soldaten zu zählen, die zum Schutze des kaiserlichen Schatzes bei der Hand sind!

Ein Dutzend von uns, darunter Herr Caterna, Pan-Chao und ich, erbietet sich, den Major Noltitz zu begleiten. Auf allgemeines Verlangen soll Popof dagegen bei dem Zuge zurückbleiben, während wir es übernehmen, in Fuen-Choo alles Nöthige zu veranlassen.

Mit Dolchen und Revolvern ausgerüstet – es ist jetzt halb zwei Uhr Nachts – folgen wir also der Bahnstrecke, die nach der Gabelung beider Linien hinführt, und gehen so schnell, wie es die Finsterniß der Nacht nur gestattet.

Vor Verlauf von zwei Stunden treffen wir bei der Station Faen-Choo ein, ohne übrigens unterwegs ein Hinderniß gefunden zu haben. Offenbar wird Farusklar jetzt entflohen sein. Es fiele also der chinesischen Polizei zu, sich des Räubers und seiner Spießgesellen zu bemächtigen. Ob ihr das gelingen wird? ... Ich wünsche es doch ohne große Hoffnung.

In der Station läßt Pan-Chao den Bahnhofsvorstand wecken, und dieser giebt die telegraphische Anweisung nach Taï-Yuan, sofort eine Locomotive nach der Nankinger Seitenlinie abgehen zu lassen.


 »Wo ist denn der Seigneur Faruskiar?« (S. 252.)
»Wo ist denn der Seigneur Faruskiar?« (S. 252.)

Es ist wenig über drei Uhr, der Tag beginnt zu grauen, und wir begeben uns nach der Bahngabelung, um die Locomotive zu erwarten. Dreiviertel Stunden später meldet sich diese durch langgezogenes Pfeifen und hält an der Theilungsstelle beider Linien an.

Sobald wir im Tender alle untergebracht sind, fährt die Locomotive nach der Seitenlinie hinüber, und eine halbe Stande später sind wir wieder bei unserm Zuge.


Mit Dolchen und Revolvern ausgerüstet, folgen wir also der Bahnstrecke. (S. 255.)
Mit Dolchen und Revolvern ausgerüstet, folgen wir also der Bahnstrecke. (S. 255.)

Schon glüht das Morgenroth über dem Horizonte,[255] so daß man einen größern Umkreis zu übersehen vermag. Ohne Jemand davon zu sprechen, mach' ich mich auf, den Körper des armen Kinko zu suchen, kann davon aber nicht einmal einzelne Stücke finden.

Da sich die Locomotive an den Kopf des Zuges nicht setzen kann, weil sich an dieser Stelle weder ein zweites Gleis, noch eine Drehscheibe befindet, so bleibt nichts andres übrig, als daß sie rückwärts läuft und uns bis zur Bahntheilung nachschleppt, während wir unsere ganz zerstörte Locomotive nebst[256] Tender einfach liegen lassen. Es folgt hieraus, daß der Packwagen, in dem sich der – jetzt leider leere! – Kasten befindet, an das Ende des Zuges zu stehen kommt.

Wir fahren ab und erreichen nach einer halben Stunde die Weiche an der Hauptlinie nach Peking.

Zum Glück brauchten wir nicht erst nach Taï-Yuan zurückzukehren, was uns eine Verzögerung von anderthalb Stunden ersparte. Vor Ueberschreitung der Weiche fährt die Locomotive in der Richtung nach Fuen-Choo voraus; nachher werden die Wagen einzeln bis über die Theilungsstelle geschoben und der Zug[257] damit wieder wie vorher geordnet. Von fünf Uhr ab rollen wir dann mit der vorschriftsmäßigen Geschwindigkeit durch die Provinz Petchili hin.

Ich habe nichts besondres mehr mitzutheilen über diesen letzten Reisetag, während dessen unser chinesischer Maschinenführer – das muß ich ihm ehrlich nachrühmen – sich in keiner Weise bemühte, die verlorene Zeit wieder einzuholen.

Wenn indes einige Stunden mehr oder weniger uns ziemlich gleichgiltig sind, so trifft das doch nicht bezüglich des Barons Weißschnitzerdörser zu, der ja in Tien-Tsin das Dampfschiff nach Yokohama besteigen will.

Und wirklich, als wir gegen Mittag dort ankommen, ist der Dampfer seit dreiviertel Stunden bereits abgefahren, und als der deutsche Weltumsegler, der Rival eines Bly und eines Bisland, sich auf den Perron des Bahnhofs stürzte, erfuhr er nur, daß genanntes Dampfschiff in demselben Augenblicke die Mündung des Peï-Ho verließ und ins offene Meer hinaussteuerte.

Unglückseliger Reisender! Wer kann sich wundern, daß unser armer Zug mit einer ganzen Sündfluth teutonischer Flüche überschüttet wurde, die der Baron »von Backbord und von Steuerbord« – wie Herr Caterna gesagt haben würde – hinausdonnern läßt. Und, offen gestanden, er hat ja am Ende ganz Recht, sich in seiner kräftigen Muttersprache auszutoben.

In Tien-Tsin sind wir nur eine Viertelstunde geblieben. Die Leser des »XX. Jahrhundert« mögen mir also verzeihen, daß ich diese Stadt von fünfmalhunderttausend Seelen nicht besucht habe, die chinesische Stadt mit ihren wunderlichen Tempelbauten, das europäische Viertel, wo der sehr lebhafte Handel seinen Sitz hat, und auch nicht die Quais des Peï-Ho, auf dem Hunderte von Dschonken stromauf- und stromabwärts segeln .... Die Schuld dafür fällt auf Farnsklar, und schon allein, daß er mir meine Reporterthätigkeit unterbunden hat, verdient, daß er von dem phantasiereichsten Henkersknechte Chinas vom Leben zum Tode befördert werde!

Die letzten Strecken unsrer Reise wurden durch keinen Zwischenfall gestört.

Am tiefsten schmerzt mich nur, daß ich Kinko nicht mitbringe und daß sein Kasten leer ist .... Und er hatte mich doch ersucht, ihn zu Fräulein Zinca Klork zu begleiten! ... Wie soll ich dem unglücklichen jungen Mädchen nun mittheilen, daß ihr Verlobter im Bahnhofe zu Peking nicht mit eingetroffen ist? ...[258]

Schließlich nimmt in dieser Welt doch Alles einmal ein Ende, selbst eine Fahrt über sechstausend Kilometer auf der Groß-Transasiatischen Eisenbahn, und nach einer Reise von dreizehntägiger Dauer hält unser Zug an den Pforten der Haupt- und Residenzstadt des großen Himmlischen Reiches.

Quelle:
Jules Verne: Claudius Bombarnac. Notizbuch eines Reporters. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXII, Wien, Pest, Leipzig 1894, S. 247-249,251-259.
Lizenz:

Buchempfehlung

Stifter, Adalbert

Der Condor / Das Haidedorf

Der Condor / Das Haidedorf

Die ersten beiden literarischen Veröffentlichungen Stifters sind noch voll romantischen Nachklanges. Im »Condor« will die Wienerin Cornelia zwei englischen Wissenschaftlern beweisen wozu Frauen fähig sind, indem sie sie auf einer Fahrt mit dem Ballon »Condor« begleitet - bedauerlicherweise wird sie dabei ohnmächtig. Über das »Haidedorf« schreibt Stifter in einem Brief an seinen Bruder: »Es war meine Mutter und mein Vater, die mir bei der Dichtung dieses Werkes vorschwebten, und alle Liebe, welche nur so treuherzig auf dem Lande, und unter armen Menschen zu finden ist..., alle diese Liebe liegt in der kleinen Erzählung.«

48 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.

432 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon