Sechzehntes Capitel.
Seine Majestät Mselo-Tala-Tala.

[203] An diesem Tage – das heißt richtiger am 15. April – kam es zu einer auffallenden Veränderung in dem sonst so ruhigen Verhalten der Wagddis. Im Laufe von drei Wochen hatte sich den Gefangenen von Ngala keine Möglichkeit geboten, ihren Weg durch den großen Wald von Ubanghi fortzusetzen. Scharf überwacht und in die unübersteigbaren Grenzen dieses Dorfes eingeschlossen, hatten sie nicht entfliehen können. Wohl war es ihnen, und vor allem John Cort, unverwehrt gewesen, die Sitten und Gebräuche dieser zwischen dem am höchsten entwickelten Anthroporden und dem Menschen stehenden Wesen zu studieren, zu beobachten, welche ihre Instincte sie dem Thierreich zuwiesen und welche Dosis von Verstand sie der Menschheit näher brächte. Das ergab einen wahren Schatz von Einzelbeobachtungen, die in einer Erörterung der Darwinschen Lehre recht ersprießlich verwerthet werden konnten. Doch um die gelehrte Well damit zu beglücken, war es nöthig, wieder nach dem französischen Congogebiete und nach Libreville zurückgekehrt zu sein.[203]

Das Wetter war herrlich. Blendender Sonnenschein lag warm auf den Wipfeln der Bäume, die das Dorf in den Lüften beschatteten. Nach Ueberschreitung des Zeniths in der Stunde ihrer Culmination verminderte sich Wärme und Glanz der Sonnenstrahlen, obwohl es schon über drei Uhr war, nicht im mindesten.

John Cort und Max Huber hatten mit den beiden Maïs vielfach Verkehr gehabt. Kein Tag war vergangen, ohne daß die Familie einmal in die Hütte der Fremden kam oder daß diese sie in der ihrigen aufsuchten. Es war ein richtiger Austausch von Besuchen, höchstens fehlten dabei die Visitenkarten. Der Kleine wich kaum von Llanga's Seite und hatte eine herzliche Zuneigung für den jungen Eingebornen gewonnen.

Leider bestand immer die Unmöglichkeit, die Wagddisprache zu verstehen, obgleich diese nur eine kleine Zahl von Wörtern umfaßte, die jedenfalls für den Ausdruck der Gedanken dieser Urmenschen ausreichten. Hatte sich John Cort auch die Bedeutung einzelner Wörter gemerkt, so setzte ihn das doch noch nicht in den Stand, mit den Bewohnern von Ngala zu sprechen. Immer überraschte es ihn aber, daß im wagddiischen Wörterschatze verschiedene – vielleicht ein Dutzend – Ausdrücke der Eingebornen vorkamen. Das schien ja anzudeuten, daß die Wagddis mit anderen Völkerschaften Ubanghis, vielleicht gar mit einem Congolesen in Berührung gekommen wären, der nach dem Congobecken nicht wieder zurückgekehrt war. Eine derartige Vermuthung ließ sich gewiß nicht gänzlich abweisen. Obendrein hörte man von Lo-Maï aber gar deutsche Wörter, wenn auch mit so falscher Aussprache, daß man sie kaum wiedererkennen konnte.

Das war ein Punkt, den John Cort für ganz unerklärlich hielt. Wenn man auch annehmen konnte, daß andere Eingeborne und die Wagddis einander schon begegnet wären, wie fern lag da doch noch der Gedanke, daß die zweiten auch mit Deutschen in Kamerun in Berührung gestanden hätten! In diesem Falle hätte dem Franzosen und dem Amerikaner eine Priorität für ihre Entdeckung nicht zugestanden. Obgleich John Cort recht geläufig deutsch sprach, konnte er davon doch keinen Gebrauch machen, da Lo-Maï nur zwei oder drei Wörter dieser Sprache verstand.

Unter den den Eingebornen entlehnten Ausdrücken war Mselo-Tala-Tala, die Bezeichnung des Beherrschers dieser Sippe, der, den man am häufigsten hörte. Wir wissen, wie sehnlich es die beiden Freunde verlangte, von dieser unsichtbaren Majestät empfangen zu werden. Allemal freilich, wenn sie diesen[204] Namen aussprachen, neigte Lo-Maï wie als Zeichen der Ehrerbietung den Kopf. Und wenn ihr Weg sie vor die königliche Hütte führte, hielt Lo-Maï sie zurück, drängte sie weg und führte sie nach rechts oder links weiter. Er machte ihnen dabei auf seine Art begreiflich, daß niemand das Recht habe, die Schwelle dieser geheiligten Wohnstätte zu überschreiten.

An diesem Nachmittage stellten sich nun, kurz vor drei Uhr, der Ngoro, die Ngora und deren kleiner Sohn bei Khamis und seinen Gefährten ein. Auf den ersten Blick sah man, daß die Familie in ihrer schönsten Kleidung erschien: der Vater mit einer mit Federn geschmückten Kopfbedeckung und in einem Ueberwurf aus Rindenstoff, die Mutter gehüllt in ein Aguliegewebe von wagddiischer Herkunft, mit einigen grünen Blättern im Haar und mit einer Kette aus Glasperlen und anderen kleinen Kugeln um den Hals, der Kleine endlich mit einem um die Taille gebundenen leichten Schurz – »in seinem Sonntagsstaate«, wie Max Huber sagte.

Als er alle drei so sonntäglich geputzt vor sich stehen sah, rief er lustig:

»Alle Wetter, was bedeutet denn das? Wollen die uns vielleicht gar eine Staatsvisite machen?

– Offenbar ist heute ein Festtag, meinte John Cort. Vielleicht handelt es sich um eine Ehrenbezeigung für irgend welche Gottheit. Das wäre hochinteressant in Bezug auf die Erkennung ihrer religiösen Vorstellungen!«

Noch bevor er diesen Satz vollendet hatte, sagte Lo-Maï, wie um zu antworten:

»Mselo-Tala-Tala...

– Der Vater mit der Brille!« übersetzte Max Huber.

Sofort trat er aus der Hütte in dem Glauben, daß der König der Wagddis eben hier vorüberkommen müsse.

Eine arge Täuschung... Max Huber sah auch nicht den Schatten von Seiner Majestät! Jedenfalls konnte er sich überzeugen, daß ganz Ngala in Bewegung war. Von allen Seiten strömte eine, ähnlich wie die Familie Mar geschmückte Menge zusammen. Ein richtiger Volksauflauf, dessen Theilnehmer sich in einem Zuge nach den zum westlichen Ende des Dorfes führenden Straßen wandten, wobei sich die einen wie lustige Bauern gegenseitig an den Händen hielten und die anderen wie Affen von einem Baum zum anderen umhersprangen.

»Da giebt es etwas neues, erklärte John Cort, der auf der Schwelle der Hütte stehen blieb.[205]

– Das wird sich ja bald zeigen,« antwortete Max Huber.

Damit wendete er sich wieder Lo-Maï zu.

»Mselo-Tala-Tala? sagte er wiederholt in fragendem Tone.

– Mselo-Tala-Tala!« erwiderte Lo-Maï, indem er die Arme über der Brust kreuzte und den Kopf langsam neigte.

John Cort und Max Huber glaubten daraufhin annehmen zu dürfen, daß die wagddiische Bevölkerung sich anschickte, ihren Herrscher zu begrüßen, und daß dieser bald in all seinem Glanze erscheinen werde.

Die beiden Freunde hatten nun freilich keine Festkleider zur Hand. Sie sahen sich auf ihr abgetragenes und ziemlich fleckiges Jagdkostüm beschränkt und auf ihre Leibwäsche, die sie übrigens immer so sauber wie möglich zu halten suchten. Sie brauchten also für seine Majestät keine besondere Toilette zu machen, und als die Familie Mar aus der Hütte heraustrat, folgten sie ihr mit Llanga nach.

Khamis hatte keine Lust, sich der tief unter ihm stehenden Volksmenge anzuschließen, er »blieb also allein zu Hause«, wo er sich damit beschäftigte, alles aufzuräumen, die Zubereitung des Abendessens zu überwachen und die Gewehre zu putzen. Es erschien ihm rathsam, für jeden Fall vorbereitet zu sein, und vielleicht näherte sich schon die Stunde, wo es darauf ankam, von den Waffen Gebrauch zu machen.

John Cort und Max Huber ließen sich also von Lo-Maï willig durch das belebte Dorf führen. Dieses hatte keine eigentlichen Straßen, sondern die nach der Laune eines jeden hier oder da errichteten Strohhütten gruppierten sich höchstens um die Bäume oder vielmehr um deren sie beschützende Kronen.

Geschlossen wälzte sich die Menge dahin. Mindestens tausend Wagddis begaben sich nach dem Theile Ngalas, an dessen Ende sich die Königswohnung erhob.

»Nichts kann doch einer Menschenmenge ähnlicher sein, als was wir hier vor uns sehen! bemerkte John Cort, ganz dieselben Bewegungen, dieselbe Weise, seine Befriedigung durch Gesten und Ausrufe kund zu geben...

– Und daneben durch Grimassen, setzte Max Huber hinzu, und das verweist diese wunderlichen Wesen zu den Vierhändern!«

In der That hatten sich die gewöhnlich ernsten, zurückhaltenden und wenig mittheilsamen Wagddis noch niemals so ausgelassen lustig gezeigt. Und dabei bewahrten sie doch die unerklärliche Gleichgiltigkeit gegen die Fremden, denen[206] sie nicht die geringste Beachtung zu schenken schienen – eine Beachtung, die bei den Denkas, den Monbullus und andern afrikanischen Volksstämmen gewiß recht lästig empfunden worden wäre.

Das war wieder nicht sehr »menschlich«.

Nach einem langem Wege kamen John Cort und Max Huber nach dem Hauptplatze des Ortes, den die Aeste der letzten Bäume an der Westseite abschlossen, und von denen die üppiggrünen Zweige den Königspalast umrahmten.

Vorn standen hier die Krieger in voller Waffenausrüstung und mit Antilopenfellen, die mit seinen Lianen zusammengehalten waren, bekleidet, die Anführer mit Steinbockschädeln auf dem Kopfe, deren Hörner eine ganze Herde vortäuschten. Der »Oberst« Raggi war gar mit einem Büffelkopfe bedeckt, und mit dem Bogen auf der Schulter, der Axt im Gürtel und dem Spieß in der Hand stolzierte er vor der wagddiischen Armee auf und ab.

»Wahrscheinlich, meinte John Cort, beabsichtigt der Herrscher eine Truppenschau abzuhalten.

– Ja wohl; doch wenn er nicht erscheint, kann das nur daran liegen, daß er sich vor seinen getreuen Unterthanen überhaupt niemals zeigt. Oh, man hat kaum eine Vorstellung davon, welch hohes Ansehen die Unsichtbarkeit einem Monarchen verleiht, und der hier...«

Er wendete sich zu Lo-Maï, dem er sich durch Zeichen verständlich zu machen suchte.

»Wird Mselo-Tala-Tala denn herauskommen?«

Lo-Maï machte ein bejahendes Zeichen, doch als wollte er sagen:

»Später... später!

– Das ist gleichgiltig, erwiderte Max Huber, vorausgesetzt, daß es uns gestattet ist, sein erhabenes Antlitz zu betrachten...

– Und da wollen wir, fuhr John Cort fort, uns von dem Schauspiele ja nichts entgehen lassen!«

Die beiden Freunde beobachteten nun von dem, was erwähnenswerth erscheint, folgendes:

Die baumlose Mitte des Platzes bildete eine freie Fläche von etwa einem halben Hektar. Jetzt füllte diese die Menge, die sich jedenfalls an den vor sich gehenden Festlichkeiten bis zu dem Augenblick betheiligen wollte, wo der Herrscher auf der Schwelle seines Palastes erscheinen würde. Ob sie dann wohl vor ihm niederfiel?... Ob sie ihm vielleicht göttliche Ehren erwies?...[207]

»Nun, bemerkte John Cort hierzu, solche Ehrenerweisungen hätten bezüglich der fraglichen Religiosität keinerlei Bedeutung, denn sie gälten ja doch nur einem Menschen.

– Wenigstens, erwiderte Max Huber, wenn dieser Mensch nicht aus Holz oder Stein besteht. Wenn der Potentat nur ein Götzenbild wäre, von der Art derer, die die Eingebornen Polynesiens anbeten...

– Dann, lieber Max, würde den Bewohnern von Ngala rein gar nichts mehr fehlen, ihnen die Würde als Menschen zuzugestehen. Sie hätten dann berechtigten Anspruch, ebenso wie die von Dir genannten Eingebornen, zur Menschheit gerechnet zu werden...

– Vorausgesetzt, daß die anderen das verdienen, antwortete Max Huber in einem für die polynesische Rasse wenig schmeichelhaften Tone.

– Gewiß, Max, schon weil diese an irgendwelchen Gott glauben, und noch nie ist es jemand in den Sinn gekommen oder wird es ihm einfallen, sie unter die Thiere zu rechnen, auch nicht unter die höchststehenden Vertreter der Thierwelt.«

Dank der Familie Lo-Maï konnten John Cort, Max Huber und Llanga einen Platz bekommen, von dem aus alles zu übersehen war.

Als die Menge die Mitte des freien Platzes geräumt hatte, begannen junge Wagddis beider Geschlechter einen Tanz aufzuführen, während die älteren zu trinken anfingen, als wollten sie es den Helden einer holländischen Kirmeß gleichthun.

Die Waldmenschen verzehrten ein aus Tamarindenschoten hergestelltes, gegohrenes und gewürztes Getränk, das sehr alkoholreich sein mußte, denn man sah daß die Köpfe sich dabei bald erhitzten und die Beine der Leute unsicher wurden.

Die Tänze erinnerten in keiner Weise an die hübschen Figuren eines Passe-pied (eines alten Schnelltanzes) oder eines Menuetts, arteten aber auch nicht aus zu den wüsten Verrenkungen und tollen Seitensprüngen, die man bei öffentlichen Bällen innerhalb der Pariser Bannmeile sehen kann. Im ganzen wurden sie mehr von Grimassen, als von Körperwendungen, und mehr von Purzelbäumen begleitet. Kurz, in diesen choreographischen Uebungen fand man weniger vom Menschen, als vom Affen, doch wohl verstanden, nicht von dem, der zur Vorführung seiner Künste auf Jahrmärkten abgerichtet ist, sondern von dem Affen, der nur seinen natürlichen Instincten folgt.


Jetzt fand nach den Tanzaufführungen also ein regelrechtes Concert statt. (S. 212)
Jetzt fand nach den Tanzaufführungen also ein regelrechtes Concert statt. (S. 212)

Die Tänze wurden auch nicht von Rufen oder Gesängen der Zuschauer begleitet, sondern nur von höchst urwüchsigen Instrumenten, wie von Calebassen, die mit einer Haut straff bezogen waren, und von einer Art zu Pfeifen zugeschnittenen hohlen Stengeln, die ein Dutzend kräftiger Musikanten anbliesen, als wollten sie sich mit aller Gewalt die Lungen zersprengen. Wohl noch niemals mochte solch ein betäubender Lärm die Ohren von Weißen zerrissen haben.

»Sie scheinen keine Idee von einem musikalischen Tacte zu haben, bemerkte John Cort.

– Nicht mehr als von einer Tonhöhe und Harmonie, antwortete Max Huber.

– Trotzdem sind sie offenbar empfänglich für Musik, lieber Max...

– Das sind die Thiere auch, lieber John, wenigstens manche davon. Meiner Ansicht nach ist die Musik eine niedere Kunst, die sich nur an die niederen Sinne richtet. Handelt es sich dagegen um Malerei, Bildhauerei oder Literatur, so giebt es kein Thier, das deren Reiz empfände, und selbst von den intelligentesten wird man noch nicht beobachtet haben, daß sie beim Erblicken eines Gemäldes oder beim Anhören eines Gedichtes ihrer Befriedigung Ausdruck gegeben hätten.«

Wie dem auch sei, die Wagddis näherten sich mehr dem Menschen, nicht allein, weil sie einen Eindruck von der Musik empfanden, sondern auch, weil sie diese selbst ausübten.

So gingen, unter großer Ungeduld Max Huber's, zwei volle Stunden hin. Am meisten erregte ihn freilich, daß Seine Majestät Mselo-Tala-Tala noch immer nicht zu erscheinen geruhte, um die Huldigungen seiner Unterthanen entgegenzunehmen.

Unter noch lauterem Getöse und wilderen Tänzen nahm die Festlichkeit ihren Fortgang. Die starken Getränke brachten bald Ausbrüche der Trunkenheit hervor, und schon drängte sich die Frage auf, wie dieses wüste Gelage enden möge, als plötzlich jeder Lärm verstummte.

Alle kauerten sich stillschweigend nieder. Das tiefste Schweigen folgte den geräuschvollen Kundgebungen, dem betäubenden Dröhnen der Tamtams und dem scharfen Kreischen der Pfeifen.

Da öffnete sich die Thüre der königlichen Wohnstätte und sofort bildeten davor die Krieger zu beiden Seiten Spalier.

»Endlich, rief Max Huber aufathmend, endlich werden wir ihn sehen, den Beherrscher dieser Waldmenschen!«[211]

Aus der Thür trat seine Majestät aber noch nicht, vielmehr wurde ein dick mit Blättern bedeckter Kasten nach der Mitte des Platzes gebracht. Wie erstaunten aber die beiden Freunde, als sie darin eine... ganz gewöhnliche Drehorgel erkannten. Höchst wahrscheinlich wurde dieses geheiligte Instrument nur bei großen Feierlichkeiten in Ngala benutzt, und die Wagddis lauschten auf dessen verschiedene Weisen mit dem Entzücken kunstbegeisterter Dilettanten.

»Das ist aber doch die Orgel des Doctor Johausen, sagte John Cort.

– Es kann nur dasselbe antediluvianische Musikwerk sein, antwortete Max Huber. Jetzt kann ich mir auch erklären, warum ich in der Nacht, wo wir hier darunter eintrafen, über mir den unausweichlichen Walzer aus dem »Freischütz« unbestimmt zu hören glaubte.

– Und davon hast Du nichts gesagt, Max?

– Ich glaubte nur geträumt zu haben, John.

– Und diesen Leierkasten werden sich die Wagddis jedenfalls aus der Käfighütte des Doctors angeeignet haben.

– Und zwar, nachdem sie dem armen Manne übel mitgespielt hatten!« setzte Max Huber hinzu.

Ein stolz aussehender Wagddi – offenbar der Concertmeister des Dorfes – trat an das Instrument und begann dessen Handgriff zu drehen.

Sofort ertönte zum größten Vergnügen der Zuhörer der genannte Walzer, wenn von ihm auch einzelne Töne ausblieben.

Jetzt fand nach den Tanzaufführungen also ein regelrechtes Concert statt. Die Anwesenden hörten ihm, mit dem Kopfe – freilich nicht taktmäßig – nickend, zu. Den Einfluß, der bei einer Walzermelodie alle civilisierten Menschenkinder der Alten und der Neuen Welt veranlaßt, die Füße in entsprechende Bewegung zu setzen, empfanden hier die Zuhörer nicht.

Und wie erfüllt von der Wichtigkeit seines Amtes, leierte der Wagddi immer unverdrossen weiter.

John Cort fragte sich, ob es in Ngala wohl bekannt wäre, daß die Drehorgel auch noch andere Melodien hervorbringen konnte. Der Zufall hatte ja vielleicht diese Urmenschen entdecken lassen können, durch welchen Handgriff – nämlich durch Druck auf einen Knopf – die Melodie von Weber durch eine andere zu ersetzen wäre.

Und siehe da, nachdem eine halbe Stunde lang der Freischützwalzer erklungen war, drückte der Vortragende auf eine Feder an der Seite des Gehäuses,[212] ganz wie es der Leierkastenmann auf der Straße, der sein Instrument an Riemen befestigt trägt, gethan haben würde.

»Sapperment... nein... das ist denn doch zu stark!« rief Max Huber.

Ja wahrlich, zu stark, wenigstens wenn den Waldmenschen nicht irgend jemand den Mechanismus des Leierkastens erklärt und ihnen gezeigt hatte, wie man alle in seinem Inneren verborgenen Melodien auslösen könne.

Schon setzte sich der Handgriff wieder in Bewegung.

Der deutschen Melodie folgte eines der beliebtesten französischen Volkslieder, das ergreifende Lied von der »Gnade Gottes«.

Dieses »Meisterwerk« der Loïsa Puget ist ja wohl allgemein bekannt. Jedermann weiß, daß die Melodie in den ersten sechs Takten in A-moll gesetzt ist, und daß, wie es in der Zeit seiner Entstehung allgemein beliebt war, der Refrain jedes Verses dann nach A-dur übergeht.

»O, der Elende... der elende Pfuscher! stieß Max Huber so laut hervor, daß aus der Zuhörerschaft ein recht bedenkliches Murmeln hörbar wurde.

– Welcher Elende? fragte John Cort. Der, der den Leierkasten bearbeitet?

– Nein, der, der ihn angefertigt hat. Um an klingenden Stimmen zu sparen, hat er in seinem Kasten das Cis und Gis einfach weggelassen, und der in A-dur zu spielende Refrain:


»Nun geh', mein Kind, leb' wohl,

Dich leite Gottes Gnade«,


der ertönt nun in C-dur!

– Ja, ja, das ist ein Kapitalverbrechen! erklärte John Cort lachend.

– Und diese Barbaren, die davon gar nichts merken, die nicht entsetzt in die Höhe springen, wie jeder mit einem menschlichen Ohre Begabte aufspringen müßte!«

Nein, diese Schändung ließ die Wagddis völlig gleichgiltig; ruhig nahmen sie die verbrecherische Unterschiebung einer falschen Tonart für die richtige hin!

Wenn sie auch nicht in die Hände klatschten, obwohl genug, ihrem Aeußeren nach recht brauchbare Claqueure unter ihnen waren, so gaben sie ihrer Entzückung doch in der ihnen eigenen Weise Ausdruck.

»Schon das allein, sagte Max Huber, berechtigt dazu, sie zu den Thieren zu zählen!«

Dem Anscheine nach war der Leierkasten für keine anderen Stücke, als für den deutschen Walzer und für das französische Volkslied eingerichtet, denn[213] die wechselten halbstündlich unverändert mit einander ab. Die Walzenstifte für andere Melodien waren jedenfalls gar zu lückenhaft. Zum Glücke gab das Instrument wenigstens alle Töne des deutschen Walzers an, so daß bei diesem Max Huber's Widerwille sich nicht so fühlbar machte, wie bei der französischen Romanze.

Nach Schluß des Concertes begannen die Tänze aufs neue, und reichlich floß berauschendes Getränk wieder durch die Gurgel der Wagddis. Die Sonne war hinter den Baumkronen an der Westseite versunken, und zwischen dem Gezweig tauchten bald brennende Fackeln auf, um den Festplatz zu erleuchten, der bei der kurzen Dämmerung sonst bald in tiefes Dunkel gehüllt gewesen wäre.

Max Huber und John Cort hatten von dem Schauspiele genug und dachten schon daran, nach ihrer Hütte zurückzukehren, als Lo-Maï deutlich sagte:

»Mselo-Tala-Tala!«

Wirklich?... Wollte Seine Majestät jetzt die Ehrenbezeigungen seines Volkes annehmen?... Geruhte er endlich, seine göttliche Unsichtbarkeit aufzugeben?

Jetzt hüteten sich John Cort und Max Huber natürlich, fortzugehen.

Nach der Seite der königlichen Wohnung zu entstand eine neue Bewegung, die von einem dumpfen Murmeln der Menge begrüßt wurde. Die Thür sprang auf, und davor ordnete sich eine Leibwache von Kriegern, deren Führung der »Oberst« Raggi übernahm.

Fast gleichzeitig wurde ein Thronsessel sichtbar – eigentlich ein altes, mit Stoffen und Blättern geschmücktes Sopha, worauf – von vier stämmigen Burschen getragen – Seine Majestät hingestreckt lag.

Es war eine Persönlichkeit von etwa sechzig Jahren mit einem Kopfschmuck von glänzenden grünen Blättern, mit weißem Bart und Haar und von beträchtlichem Leibesumfang, dessen Gewicht auf den breiten Schultern seiner Diener recht fühlbar lasten mochte.

Der kleine Zug setzte sich in Bewegung und verfolgte einen Weg rings um den Platz.

Schweigsam, wie hypnotisiert durch die Erscheinung des erhabenen Mselo-Tala-Tala, verbeugte sich die Menge bis zum Boden.

Der Souverän erschien übrigens ziemlich unberührt von den Huldigungen, die ihm dargebracht wurden, die ihm zukamen und an die er wahrscheinlich längst gewöhnt war. Kaum geruhte er einmal, durch eine leise Bewegung des[214] geheiligten Hauptes seiner Anerkennung Ausdruck zu geben. Sonst blieb er – abgesehen davon, daß er sich zwei- oder dreimal an der Nase kratzte – reungslos liegen. Auf seiner sehr langen Nase aber saß eine große Brille, was seinen Zunamen »Vater Spiegel« genügend erklärte.

Mit gespanntester Aufmerksamkeit betrachteten ihn die beiden Freunde, als er nahe bei ihnen vorüberkam.

»Das... das ist ja aber ein Mensch! versicherte John Cort.

– Ein Mensch? fragte Max Huber zweifelnd.

– Ja... ein Mensch... und was noch mehr ist, sogar ein Weißer!

– Wie?... Ein Weißer?«

Unzweifelhaft war der, den man auf seiner sedia gestatoria eben hier vorübertrug, ein anderes Wesen, als die von ihm regierten Wagddis, und auch kein Eingeborner aus den Stämmen des oberen Ubanghi. Nein, hier blieb jede Täuschung ausgeschlossen; es war ein Weißer, ein nicht zu verkennender Vertreter des Menschengeschlechtes!

»Und unsere Anwesenheit macht auf ihn gar keinen Eindruck, sagte Max Huber, er scheint uns überhaupt gar nicht zu bemerken. Zum Kuckuck! Wir gleichen doch nicht diesen Halbaffen von Ngala, und wenn wir auch drei Wochen unter ihnen verlebt haben, glaube ich doch nicht, daß wir schon nicht mehr wie richtige Menschen aussähen!«

Schon wollte er über die Köpfe vor ihm hinüberrufen:

»He da... Sie... geehrter Herr, da drüben, wollen Sie uns denn nicht eines Blickes würdigen?«

Da faßte ihn jedoch John Cort am Arme, und mit einer Stimme, die sein maßlosestes Erstaunen verrieth, sagte er:

»Ich erkenne ihn!

– Was?... Du willst ihn kennen?

– Ja!... Das ist der Doctor Johausen!«[215]

Quelle:
Jules Verne: Das Dorf in den Lüften. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXXIX, Wien, Pest, Leipzig 1902, S. 203-209,211-216.
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