Drittes Capitel.

[31] Die Dorfschaft Werst ist so unbedeutend, daß die meisten Landkarten ihre Lage gar nicht angeben. Bezüglich der Verwaltungsangelegenheiten steht sie sogar noch unter ihrem Nachbarorte Vulcan, so genannt nach dem Theile des Gebirgsstockes von Plesa, auf dem beide Gemeinden malerisch angeheftet sind.

Heutigen Tages hat die Ausbeutung der hiesigen Mineralienlagerstätten den Flecken Petroseny, Livadzel und anderen, die in der Entfernung weniger Meilen im Umkreise liegen, ein nicht zu unterschätzendes geschäftliches Leben zugeführt. Weder Vulcan noch Werst haben aber von der Nähe des großen industriellen Centrums irgendwelchen Nutzen gezogen; was diese Dörfer vor fünfzig Jahren waren, das werden sie nach einem halben Jahrhundert gewiß auch noch sein, so wie sie es heute sind, und nach Elisée Reclus besteht die reichliche Hälfte der Bewohnerschaft von Vulcan nur »aus Beamten zur Ueberwachung der Grenze, aus Zöllnern, Gendarmen, Steuereinnehmern und Krankenwärtern der Quarantäneanlagen«. Rechnet man die Gendarmen und Steuereinnehmer ab und eine geringe Anzahl Landbauern hinzu, so hat man die Bevölkerung von Werst – im Ganzen vier- bis fünfhundert Köpfe.

Das Dorf besteht aus einer einzigen Straße, einer breiten Straße, deren bergiger Charakter das Fortkommen auf derselben nach auf- wie nach abwärts recht unangenehm erschwert.


Frik überreichte dem Meister Koltz das Fernrohr. (S. 29.)
Frik überreichte dem Meister Koltz das Fernrohr. (S. 29.)

Sie dient als natürlicher Verbindungsweg zwischen der walachischen Grenze und dem inneren Siebenbür[31] gen. Ueber sie ziehen die Heerden von Rindern, Schafen und Schweinen, die Händler mit frischem Fleisch, mit Baum- und Feldfrüchten, sowie die wenigen Reisenden, die den Bergpaß wählen, statt sich der Bahnlinie von Kolosvar und des Thales des Maros zu bedienen.

Die Natur hat den Kessel zwischen den Bergen von Bihar, dem Retyezat und dem Paring wirklich verschwenderisch bedacht. Reich schon durch die Fruchtbarkeit des Erdbodens, ist er es noch mehr durch die Schätze, die unter ihm[32] lagern, wie die Steinsalzlager bei Thorda, mit einer jährlichen Ausbeute von über zwanzig Millionen Tonnen; der sieben Kilometer im Umfange messende Berg Parajd, der durch und durch aus Chlornatrium besteht; die Erzgruben von Torotzko, die viel Blei, Bleiglanz, Quecksilber, vorzüglich aber Eisen liefern und deren Schächte und Stollen schon seit dem zehnten Jahrhundert abgebaut werden; das Bergwerk von Vayda Hunyad, aus dessen Erzen ein vorzüglicher Stahl hergestellt wird; ferner Steinkohlengruben, die in diesem einstigen Seegebiete schon in den obersten Schichten schöne Kohle enthalten und deshalb[33] leicht zu bearbeiten sind (hierzu gehören die Gruben in den Bezirken Hatszeg, Livadzel und Petroseny, zusammen eine ungeheure Ablagerung, deren Inhalt auf zweihundert Millionen Tonnen abgeschätzt ist); endlich die Goldfundstätten beim Schlosse Offenbanya bei Topansalga, jenes Gebiet der Goldwäscher, wo unzählige, sehr einfach construirte Mühlen den kostbaren Sand von Verés-Patak auswaschen und jährlich für eine Million Gulden des edlen Metalls ausführen.


Ein halbes Dutzend Nachbarn hatten sich eingefunden. (S. 30.)
Ein halbes Dutzend Nachbarn hatten sich eingefunden. (S. 30.)

Nach dem Vorstehenden scheint hier also ein von der Natur recht begünstigtes Land zu sein, und doch hat dieser Reichthum zum weiteren Gedeihen der Bewohner nicht im mindesten beigetragen. Wenn auch die wichtigeren Ortschaften, Toretzko, Petroseny und etwa Lonyi, einige Fortschritte, wie sie die ausgebildete Industrie mit sich bringt, aufweisen, wenn diese Flecken regelmäßige, nach Winkelmaß und Schnur errichtete Gebäude besitzen, und neben diesen Schuppen, Magazine, wirkliche Arbeiterviertel, wenn man in denselben vereinzelte Wohnungen findet, die mit Balcons und Veranden geschmückt sind, so darf man etwas Aehnliches doch weder im Dorfe Vulcan, noch in Werst suchen wollen.

Der einzigen Straße sind hier wohlgezählte sechzig Häuser oder Häuschen angereiht, alle mit seltsamen Dächern, deren Sparrenwerk über die Lehmwand hinausragt, die eigentliche Façade nach dem Garten zu gerichtet; als Stockwerke haben sie Kornböden mit Luken, daneben angebaute Scheuern, die halb zerfallen erscheinen und mit Stroh abgedeckt sind; da und dort zeigt sich ein Ziehbrunnen mit langem Schaukelbalken, an dessen einem Ende der Schöpfeimer hängt, endlich einige Wassertümpel, die bei jedem Gewittersturme »entfliehen« (soll heißen, deren Wasser durch den starken Wind hinausgetrieben wird), nebst den veränderlichen kleinen »Bächen« in den Wagen-Karrenspuren – das ist das Bild der zu beiden Seiten der Straße zwischen den schrägen Bergabhängen erbauten Dorfschaft Werst. Dennoch sieht das Ganze frisch und anziehend aus; da giebt es Blumen an den Fenstern und Thüren; grünende Vorhänge bekleiden die Wände, wirr durcheinander wachsende Grashalme, die sich mit dem alten Stroh der Dächer vermischen; Pappeln, Ulmen, Buchen, Tannen, Ahornbäume, die über die Häuser emporragen, »so weit ihnen das möglich ist«. Ueber dem Allen erheben sich die Stufen der Mittelschichten der Bergkette und ganz im Hintergrunde die Gipfel von Einzelbergen, die im blauen Schimmer der Ferne mit dem Azur des Himmels verschwimmen.[34]

In Werst spricht man, ebenso wie in diesem ganzen Theile Transsylvaniens, weder deutsch noch ungarisch, sondern rumänisch, selbst in den wenigen Zigeunerfamilien, die in den verschiedenen Dörfern des Comitats weniger umherziehen, als seßhaft sind. Diese Fremdlinge nehmen die Sprache des Landes und wohl auch dessen herrschende Religion an. Die von Werst bilden eine Art kleinen Clans unter der Aufsicht eines Woiwoden, mit ihren Hütten, ihren »Barakas« mit spitzem Dache, ihrer Legion von Kindern: sie unterscheiden sich aber durch ihre Sitten und die Regelmäßigkeit ihrer Lebensführung vortheilhaft von denjenigen ihrer Stammesgenossen, die durch ganz Europa ein unstetes Wanderleben führen. Sie huldigen sogar dem griechischen Ritus, indem sie sich unschwer dem Glaubensbekenntnisse der Christen angliedern, in deren Mitte sie leben. Werst besitzt nämlich als geistlichen Herrn einen Popen, der aber in Vulcan wohnt und dem die Seelsorge in den beiden, nur eine Wegstunde von einander liegenden Dörfern anvertraut ist.

Die Civilisation gleicht der Luft oder dem Wasser. Wo sich nur ein Durchgang bietet, und wär's nur eine Spalte, ein Riß, der ihr offen steht, da dringt sie hindurch und drückt ihren Stempel auf alle Verhältnisse des Landes und Lebens.

Leider muß man aber zugestehen, daß sich in diesem südlichen Theile der Karpathen noch keine solche Spalte aufgethan hat. Da Elisée Reclus von Vulcan noch sagen konnte, »daß es der äußerste Posten der Civilisation im Thale der walachischen Sil sei«, so ist es gar nicht zu verwundern, in Werst eines der am meisten zurückgebliebenen Dörfer des Comitats von Kolosvar zu finden. Wie könnte es auch anders sein in diesen Ortschaften, wo Jeder geboren wird, aufwächst und wieder stirbt, ohne sie jemals verlassen zu haben!

Und doch, wird der Leser hier einwenden, gab es einen Schulmeister und einen Ortsrichter in Werft? – Jawohl. Der Magister Hermod war aber nur im Stande zu lehren, was er selbst verstand, und das beschränkte sich auf ein wenig Lesen, ein wenig Schreiben und das nothdürftigste Rechnen. Seine eigene Ausbildung reichte eben nicht weiter. Von Naturwissenschaft, Geschichte, Geographie und Literatur wußte er nur, was in den Volksliedern und Sagen des Landes niedergelegt war. In phantastischen Erzählungen war er sehr stark, und verschiedene Schüler aus dem Dorfe machten bei ihm hierin recht erstaunliche Fortschritte.[35]

Was den Ortsrichter angeht, so muß man von der Bedeutung dieser, dem ersten Gemeindebeamten von Werst verliehenen Würde eine etwas genauere Kenntniß nehmen.

Der Biró Meister Koltz war ein kleiner Mann von fünfundfünfzig bis sechzig Jahren, von Geburt Rumäne, trug kurz geschorene, halbgraue Haare, einen noch schwarzen Schnurrbart und hatte mehr sanfte, als lebhafte Augen. Untersetzt gebaut, wie der Sohn der Berge, bedeckte sein würdiges Haupt ein großer Filzhut; den Leib umschloß ein breiter Gürtel mit erhabenen Verzierungen; dazu trug er eine ärmellose Weste, eine kurze, halbweite Hose, die in den hohen Lederstiefeln steckte. Mehr Gemeindevorstand als Richter, obwohl er die Verpflichtung hatte, unter Nachbarn entstandene Streitigkeiten zu schlichten, verwaltete er sein Dorf ganz nach eigenem Gutdünken und nicht ohne einige Vortheile für seinen Geldbeutel. So waren alle das Gericht berührenden Angelegenheiten – Käufe und Verkäufe – mit einer ihm zufallenden Taxe belegt, ohne von den Wegegeldern u. dgl. zu sprechen, die alle Fremden, Lustreisende oder Handelsleute, in seine Tasche fließen lassen mußten.

Diese recht ergiebige Stellung hatte den Meister Koltz eine gewisse Behäbigkeit gewinnen lassen. Während die meisten Bauern des Comitats schon durch den Wucher ausgesaugt sind, der in nicht zu ferner Zeit das ganze Land in die Hand von Israeliten überliefern wird, hatte sich der Biró der Raubsucht der Letzteren zu entziehen gewußt. Auf sein von Hypotheken, von »Intabulationen«, wie man hier zu Lande sagt, freies Gut war er keiner Seele etwas schuldig. Er hätte eher Gelder ausleihen können, und hätte das gewiß gethan, ohne den armen Teufeln die Kehle abzuschnüren. Ihm gehörten verschiedene Weiden, schöne Grasplätze für seine Heerden, ziemlich gut in Stand gehaltenes Ackerland, obwohl er von den neueren Culturmethoden nichts wissen wollte; ferner Weinberge, die seiner Eitelkeit schmeichelten, wenn er längs der mit Trauben beladenen Rebengelände hinspazierte und deren reichen Herbst er mit Nutzen verkaufte – natürlich mit Ausnahme der ziemlich beträchtlichen Menge, die für seinen eigenen Bedarf zurückbehalten wurde.

Selbstverständlich war das Haus des Meisters Koltz, in einer Ecke der die lange Straße kreuzenden Terrasse, das schönste des Dorfes. Es bestand aus wirklichem Mauerwerk, hatte die Façade ebenfalls nach dem Garten zu und die Thüre zwischen dem dritten und vierten Fenster. Grüne Schlingpflanzen umsäumten die Dachrinne mit ihrem wirren Gezweig, und zwei große Buchen[36] breiteten über dem blumendurchsetzten Strohdache ihre massigen Aeste aus. Dahinter lag ein hübscher Garten mit rechtwinkelig angeordneten Gemüsebeeten und geradlinigen Obstbaumreihen, die auch noch ein Stück an der Berglehne hinaufreichten. Das Innere des Gebäudes enthielt einige für die hiesigen Verhältnisse stattliche und sauber gehaltene Räume, Eßzimmer, mehrere Schlafzimmer mit angestrichenem Mobiliar, Tischen, Betten, Bänken, Stühlen und Schemeln, ferner Gestelle mit Töpfen und blinkenden Schüsseln. Oben traten die Balken der Decke sichtbar hervor und daran hingen mit Bändern und lebhaft gefärbten Stoffen geschmückte Vasen; an den Wänden standen schwere, mit dicken wollenen und seinen gesteppten Decken überzogene Kisten, die als Truhen und Schränke dienten; an den hellen Wandflächen endlich hingen die roh illuminirten Bilder der rumänischen Helden – unter Andern das des volksthümlichen Heros aus dem fünfzehnten Jahrhundert, des Woiwoden Vayda-Hunyad.

Das Ganze bildete eine recht freundliche Wohnstätte, die für einen einzelnen Mann nur zu groß gewesen wäre. Der Meister Koltz hauste hier auch nicht allein. Seit etwa zehn Jahren Witwer, besaß er doch eine Tochter, die schöne Miriota, die von Werst bis Vulcan, und auch noch darüber hinaus, allgemein bewundert wurde. Sie hätte wohl einen der seltsamen heidnischen Namen, Florica, Daïna, Daurilia oder einen ähnlichen, haben können, wie sie in walachischen Familien noch vielfach bevorzugt werden. Doch nein, sie hieß einfach »Miriota«, das heißt »das Lämmchen«. Dieses Lämmchen war freilich im Laufe der Jahre aufgewachsen und jetzt ein schlankes Mädchen von zwanzig Jahren mit blondem Haar und rehbraunen Augen, die so sanft in die Welt hinausblickten und ihren lieblichen Gesichtszügen und der angenehmen Haltung noch einen weiteren Reiz verliehen. – In der That, gerade genug, daß sie den bestechendsten Eindruck machte in der schmucken, am Halse, an den Schultern und den Handgelenken rothabgestickten Leibwäsche, der doppelten, roth und blau gestreiften, an der Taille befestigten Schürze, den niedlichen gelbledernen Stiefeln, dem leichten, geschickt geordneten Kopftuche und den langen, dicken Zöpfen, deren Geflecht mit einem rothen Band und einzelnen Metallflittern verziert war.

Ja, sie galt nicht mit Unrecht für eine schöne Dirne, die Miriota Koltz, noch dazu, da sie – gewiß kein Fehler – für dieses im Grunde der Karpathen verlorene Dorf obendrein noch reich zu nennen war. Wirthschaftlich mußte sie ja wohl auch sein, da sie das Hauswesen ihres Vaters schon längere Zeit tadellos führte... Gebildet?... O, in der Schule des Magister Hermod hatte sie lesen,[37] schreiben und rechnen gelernt, und sie rechnet, schreibt und liest ohne Fehler; weiter freilich ist sie nicht gekommen – wozu auch? Dagegen ist sie trotz Einem vertraut mit den Fabeln und Sagen Transsylvaniens, deren sie ebenso viel zu erzählen weiß, wie ihr Lehrer. Sie kennt die Legende von Leany-Kö, dem Felsen der Jungfrau, wo eine junge, etwas phantastische Fürstentochter sich den Nachstellungen der Tataren zu entziehen wußte; die Sage der Drachengrotte im Thale der »Königsstufe«; die von der Festung Deva, die »zur Zeit der Feen« erbaut wurde; die Legende der Detunata, der »Blitzgetroffenen«, jenes berühmten Basaltberges in der Gestalt einer riesigen Geige, auf deren Saiten der Gottseibeiuns in Sturm und Wetternächten zum Tanz aufspielt; die des Retyezat mit seinem von einer Hexe rasirten Gipfel; die Sage vom Tordapasse, den der heilige Ladislaus dereinst durch einen gewaltigen Schwerthieb eröffnete. Miriota schenkte allen diesen Erdichtungen vollen Glauben, deshalb blieb sie aber doch ein reizendes liebenswerthes Mädchen.

Daß sie vielen jungen Burschen des Landes ausnehmend gefiel, ist nicht zu verwundern, und dabei dachten diese noch kaum daran, daß sie die einzige Erbin des Biró Koltz, des ersten Gemeindebeamten von Werst war. Uebrigens hatte es keinen Zweck, ihr den Hof zu machen, denn sie war ja Nicolas Deck's erklärte Verlobte. Dieser Nicolas oder vielmehr Nic Deck war ein hübscher Rumäne von fünfundzwanzig Jahren, ziemlich groß, von kräftigem Körperbau, der den Kopf gerade aufrecht trug. Er hatte schwarzes Haar, das der weiße Kolpak bedeckte, einen offenen Blick, trug eine ausgeschnittene, mit Stickereien verzierte Weste aus Lämmerleder, dabei zeigte er sein geformte Glieder – die Beine eines Hirsches – und in Gang und sonstigen Bewegungen eine unleugbare Entschlossenheit des Charakters. Von Beruf war er Forstwächter, das heißt ebensoviel Militär wie Civilist. Da er in der Umgebung von Werst einiges Ackerland sein Eigen nannte, gefiel er dem Vater, und da er sich als liebenswürdiger junger Mann mit einem gewissen Stolz zeigte, noch mehr der Tochter, die übrigens Niemand hätte versuchen sollen, ihm abwendig zu machen oder nur mit verlangendem Auge anzusehen.

Die Hochzeit Nic Deck's und der Miriota Koltz sollte – noch fehlten vierzehn Tage an der festgesetzten Zeit – etwa in der Mitte des nächsten Monats gefeiert werden. Bei dieser Gelegenheit gab's natürlich ein Fest fürs ganze Dorf. Meister Koltz würde seine Sache schon machen, geizig war er ja nicht. Wenn er es liebte, Geld zu verdienen, so wehrte er sich auch nicht, es bei passender[38] Gelegenheit auszugeben. Nach der Trauung sollte Nic Deck im Familienhause mit Wohnung nehmen, das ihm von dem Biró dereinst zufallen mußte, und wenn dann Miriota ihn neben sich wußte, dann fürchtete sie sich gewiß nicht mehr, daß, wenn sie eine Thür auffällig knarren hörte oder ein Möbelstück in den langen Winternächten einen Sprung erhielt, dann irgend ein aus ihren Lieblingssagen entsprungenes Gespenst ihr seine Aufwartung machen wolle.

Um die Liste der Notablen von Werst zu vervollständigen, müssen wir noch zwei, und zwar die nicht mindest wichtigen Personen anführen – nämlich den Lehrer und den Arzt.

Der Magister Hermod war ein langer Mann mit Brille, zählte fünfundfünfzig Jahre und hatte stets das gebogene Mundstück seiner Pfeife mit Porzellankopf zwischen den Lippen; die etwas dünn gewordenen Haare standen wie Borsten von dem ziemlich flachen Schädel ab. Das sonst glatte Gesicht zeigte auf der linken Wange eine kleine Narbe. Seine Hauptbeschäftigung lief darauf hinaus, daß er die Federn seiner Schüler schnitt, denen er den Gebrauch von Stahlfedern streng untersagt hatte; da hätte man ihn sehen sollen, wie er den Schnabel der Gänsekiele mit dem alten wohlgeschliffenen Federmesser formte, und mit welcher Sicherheit er mit den Augen blinzelnd die Feder spaltete. Vor Allem hielt er auf eine gute Handschrift. Dahin zielten seine ernsten Bemühungen, und die Erlangung einer solchen konnte den Zöglingen eines so sorgsamen Schulmeisters nicht mißglücken. Der sonstige Unterricht kam erst in zweiter Linie – wir wissen ja schon, was Magister Hermod lehrte, und was die Generation von Knaben und Mädchen auf seinen Schulbänken lernen konnte.

Jetzt zu dem Arzte Patak.

Wie – so hör' ich den Leser rufen – in Werst befand sich ein Arzt, und doch huldigte das ganze Dorf dem Glauben an übernatürliche Dinge? – Ja; doch man muß es eben verstehen, welche Bewandtniß es mit dem Arzttitel Patak's – ganz wie mit dem, den der Richter Koltz sich zulegte – hatte.

Patak, ein kleiner Mann, mit einem Schmerbäuchlein, übrigens stark und kurz und fünfundvierzig Jahre alt, betrieb in fleißigster Weise die Heilkunst, wie sie in Werst und Umgebung eben hergebracht war. Mit seiner unerschütterlichen Ruhe und betäubenden Redseligkeit flößte er nicht weniger Vertrauen ein, als der Schäfer Frik – und das will viel sagen. Er verkaufte gute Rathschläge und Arzneien, letztere aber immer so unschuldiger Natur, daß sie die[39] kleinen Leiden seiner Kunden niemals verschlimmern konnten und Letztere, wie es ja meist der Fall ist, von selbst wieder gesund wurden.


Miriota Koltz.
Miriota Koltz.

Uebrigens befand man sich auf dem Bergrücken des Vulcan vorzüglich wohl; die Luft ist hier von »erster Güte«; epidemische Krankheiten sind unbekannt, und wenn einer stirbt, so geschieht das, weil man einmal sterben muß, selbst in diesem bevorzugten Winkel Transsylvaniens. Was den »Doctor« Patak – ja, man nennt ihn wirklich »Doctor« – angeht, so fehlte ihm, obwohl man sich ihm hier gern anvertraute, doch jede Fachbildung, in der Heilkunde, der Arzneiwissenschaft, überhaupt in Allem.


»Der Chort!« versicherte Frik. (S. 42.)
»Der Chort!« versicherte Frik. (S. 42.)

[40] Er war weiter nichts, als ein früherer Krankenwärter der Quarantäne, dessen Aufgabe darin bestand, die Reisenden zu beobachten, die zur Erlangung eines Gesundheitspasses an der Grenze eine Zeit lang zurückgehalten wurden – weiter nichts. Das schien der anspruchslosen Bevölkerung von Werst vollkommen zu genügen. Wir müssen noch hinzufügen, daß Doctor Patak – wie sich das eigentlich von selbst versteht – ein starker Geist, um nicht zu sagen Freigeist war, und etwas derart muß ja wohl Jeder sein, der sich der Fürsorge und Pflege Seinesgleichen widmet. Er leugnete auch alle die abergläubischen[41] Geschichten, die man sich im Lande der Karpathen erzählte, sogar die, die sich auf die Burg bezogen. Er lachte, er scherzte einfach darüber, und sagte man ihm, daß seit langer, langer Zeit Niemand gewagt habe, sich dem Schlosse zu nähern, so antwortete er Jedem, der es hören wollte: »Mir könnt Ihr ruhig zutrauen, daß ich sofort bereit wäre, dem alten Ritterneste einen Besuch abzustatten.«

Da man es ihm zutraute und sich Jeder hütete, ihm zu widersprechen, hatte der Doctor Patak freilich keine Gelegenheit gefunden, seine Behauptung zu beweisen, und bei der herrschenden Leichtgläubigkeit blieb das Karpathenschloß nach wie vor in den undurchdringlichen Schleier des Geheimnisses gehüllt.

Quelle:
Jules Verne: Das Karpathenschloß. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXI, Wien, Pest, Leipzig 1894, S. 31-42.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Das Karpathenschloß
Das Karpathenschloss
Das Karpathenschloss
Das Karpathenschloss

Buchempfehlung

Stifter, Adalbert

Feldblumen

Feldblumen

Der junge Wiener Maler Albrecht schreibt im Sommer 1834 neunzehn Briefe an seinen Freund Titus, die er mit den Namen von Feldblumen überschreibt und darin überschwänglich von seiner Liebe zu Angela schwärmt. Bis er diese in den Armen eines anderen findet.

90 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Spätromantik

Große Erzählungen der Spätromantik

Im nach dem Wiener Kongress neugeordneten Europa entsteht seit 1815 große Literatur der Sehnsucht und der Melancholie. Die Schattenseiten der menschlichen Seele, Leidenschaft und die Hinwendung zum Religiösen sind die Themen der Spätromantik. Michael Holzinger hat elf große Erzählungen dieser Zeit zu diesem Leseband zusammengefasst.

430 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon