Erstes Capitel.
Die Wiederkehr der schönen Jahreszeit. – Fritz und Jack. – Die Abfahrt des Kajak. – Besuch der Haifischinsel. – Feuer aus zwei Geschützen. – Drei Kanonenschüsse auf dem Meere.

[5] Die schönere Jahreszeit begann wieder in der zweiten Woche des Octobers, des ersten Frühlingsmonats der südlichen Erdhälfte. Der Winter unter dem[5] neunzehnten Breitengrade zwischen Aequator und Wendekreis des Steinbockes war nicht sehr rauh gewesen. Die Bewohner der »Neuen Schweiz« konnten ihre gewöhnlichen Arbeiten wieder aufnehmen.

Nach elf auf diesem Lande verlebten Jahren erschien es nicht zu frühzeitig, sich Gewißheit zu verschaffen, ob dieses zu einem der Festländer gehörte, die den Indischen Ocean begrenzen, oder ob es die Geographen einer Inselgruppe dieses Meerestheiles zurechneten.

Seit die junge Engländerin von Fritz an dem Rauchenden Felsen gerettet worden war, hatten sich Herr Zermatt, seine Gattin, seine vier Söhne und Jenny Montrose eines ungetrübten Glückes erfreut. Gewisse Befürchtungen wegen der Zukunft und die so unwahrscheinliche Aussicht, daß ihnen Rettung von außen kommen könne, die Erinnerung an die Heimat, das Verlangen, mit der übrigen Menschheit zu verkehren, machten sich wohl zuweilen fühlbar, doch das ist ja in Naturgesetzen begründet, denen sich keiner zu entziehen vermag.

Heute am frühen Morgen trat Zermatt durch die Umfriedigung von Felsenheim hinaus und ging am Ufer des Schakalbaches hin Fritz und Jack waren, mit ihren Fischereigeräthen ausgerüstet, schon vor ihm ausgegangen. Franz holte sie bald ein. Nur Ernst, der etwas träger und langschläfriger Natur war und immer gerne etwas länger unter den Decken träumte, hatte das Bett noch nicht verlassen.

Inzwischen waren Frau Zermatt und Jenny schon an die gewohnten häuslichen Beschäftigungen gegangen.

»Sieh, Vater, begann Jack, das scheint ein schöner Tag zu werden!

– Ich glaub' es auch, mein Kind, antwortete Zermatt. Ich hoffe auch, ihm werden noch andere folgen, die nicht weniger schön sind, da wir doch Frühlingsanfang haben.

– Und was wollt Ihr heute beginnen? fragte Franz.

– Wir wollen fischen gehen, erklärte Fritz, auf Netz und Schnüre zeigend.

– In der Bai? fragte Zermatt.

– Nein, erwiderte Fritz; wenn wir am Schakalbache bis zur Barre hinausgehen, werden wir dort mehr Fische fangen, als wir zum Frühstücke brauchen.

– Und nachher?... fragte Jack weiter.

– Nachher, liebes Kind, fiel der ältere Zermatt ein, wird es uns auch nicht an Arbeit fehlen. Heute Nachmittag denk' ich noch nach Falkenhorst zu[6] gehen, um nachzusehen, ob unsere Sommerwohnung nicht da und dort der Ausbesserung bedarf. Außerdem werden wir die ersten schönen Tage benützen, unsere anderen Meiereianlagen, Waldegg, Zuckertop, die Einsiedelei Eberfurt und die Villa auf dem Prospect-Hill zu besichtigen. Dann haben wir auch für die Thiere zu sorgen, die Anpflanzungen zu pflegen...

– Ganz recht, Vater, ließ sich Fritz vernehmen. Da wir aber heute Morgen noch über eine oder zwei Stunden verfügen können... so kommt nur mit, Jack und Franz, kommt mit!

– Wir sind bereit, rief Fritz, ich fühle schon eine prächtige Forelle an meiner Angel zappeln... Hope-la! Hope-la!«

Jack machte eine Bewegung, als ob er den mit seinem Angelhaken gefangenen imaginären Fisch schon tödtete, und darauf rief er mit heller, lustiger Stimme:

»Also vorwärts!«

Franz wäre vielleicht lieber in Felsenheim zurückgeblieben, wo er die Morgenstunden meist seinen Studien zu widmen pflegte. Sein Vater drängte ihn aber mitzugehen, und so schloß er sich den Brüdern an.

Die drei jungen Leute wendeten sich schon nach dem rechten Ufer des Schakalbaches, als der ältere Zermatt sie noch einmal zum Anhalten veranlaßte.

»Euer Verlangen, fischen zu gehen, meine Kinder, sagte er, hat Euch wohl ganz vergessen lassen...

– Was denn? fragte Jack.

– Was wir an den ersten Tagen der schönen Jahreszeit immer zu thun gewöhnt waren.«

Fritz kehrte noch einmal zum Vater zurück, rieb sich die Stirne und sagte:

»Was könnte das denn sein?

– Wie, Du entsinnst Dich dessen nicht, Fritz?... Und Du auch nicht, Jack? erwiderte Zermatt.

– Meinst Du vielleicht, daß wir es unterlassen hätten, Dich zu Ehren des Frühlings mit einer Umarmung zu begrüßen? fragte Jack.

– Ach nein, das nicht! ließ sich da Ernst vernehmen, der eben sich die Augen reibend und die Glieder dehnend, aus der Umfriedigung hervorgetreten war.

– Dann also wohl, weil wir ohne gefrühstückt zu haben aufgebrochen sind, Du Leckermäulchen Ernst? erwiderte Jack, der damit auf die kleine Schwäche seines Bruders anspielte, welcher immer zuerst ans Essen dachte und ein Liebhaber von guten Bissen war.[7]

– Nein, erklärte Ernst, darum handelt es sich nicht.


Franz und seine Mutter.
Franz und seine Mutter.

Der Vater will Euch nur daran erinnern, daß es bei uns Regel ist, zu dieser Zeit des Jahres jedesmal die beiden Geschütze der Haifischbatterie abzufeuern.

– Ganz recht«, bestätigte der ältere Zermatt.

Das war wirklich hier stets die Regel gewesen. An einem Tage der zweiten Octoberwoche, nach Beendigung der Regenzeit, hatten Fritz und Jack die Gewohnheit, sich nach dem Halm am Eingange der Rettungsbucht zu begeben, die Flagge der Neuen Schweiz zu entfalten und sie mit zwei Kanonenschüssen, die man in[8] Felsenheim deutlich hörte, zu begrüßen.


Jack und Fritz.
Jack und Fritz.

Dann ließen die beiden, eigentlich ohne jede Hoffnung, mehr maschinenmäßig, die Blicke über die weite Meeresfläche schweifen.

Vielleicht wurden die Schüsse auf einem Fahrzeuge, das diese Gegend kreuzte, doch einmal vernommen. Vielleicht wendete dieses daraufhin und kam in Sicht der Bai. Vielleicht konnten auch Schiffbrüchige irgendwo hier ans Ufer geworfen worden sein, die das Land für unbewohnt hielten, und diese würden dann durch den Geschützdonner eines Besseren belehrt worden sein.[9]

»Ja, ja, Du hast recht, sagte Fritz, wir hätten bald unsere Pflicht versäumt. Komm, Jack, wir wollen den Kajak klar machen; binnen einer Stunde können wir schon zurück sein.«

Da nahm Ernst noch einmal das Wort:

»Wozu nützt aber dieser Höllenlärm?... Jahr für Jahr haben wir unsere Geschütze hinausdonnern lassen, eigentlich nur, um das Echo von Falkenhorst und Felsenheim damit zu wecken. Warum aber sollen wir das Pulver in dieser Weise verschwenden?

– Daran erkenn' ich unseren Ernst, rief Jack. Wenn ein Kanonenschuß so und so viel kostet, hat er auch ebensoviel einzubringen, oder das Rohr hat zu schweigen!

– Du hast unrecht, in dieser Weise zu sprechen, sagte Zermatt zu seinem zweiten Sohne, ich finde diese Ausgabe gar nicht nutzlos. Eine Flagge auf der Haifischinsel zu hissen, das genügt nicht, denn sie kann auch vom Meere her nicht weit sichtbar sein, während unsere Kanonenschüsse sich noch in einer Entfernung von einer Meile vernehmbar machen. Es wäre unvernünftig, diese Möglichkeit, einem vorüberkommenden Schiffe unser Hiersein zu melden, ohne Noth unbenützt zu lassen.

– Dann wäre es aber geboten, wendete Ernst ein, wenigstens jeden Morgen und jeden Abend einen Signalschuß abzugeben...

– Gewiß, wie das bei allen Kriegsflotten Gebrauch ist, bestätigte Jack.

– Ja, bei den Kriegsflotten kommt man nur nicht in die Gefahr, sich seiner Munition zu berauben, bemerkte Ernst, der sich nicht so leicht überzeugen ließ und bei weitem der starrsinnigste der vier Brüder war.

– Sei nur darüber ruhig, mein Sohn, an Pulver wird es uns so bald nicht fehlen, versicherte Zermatt. Zweimal im Jahre, vor und nach dem Winter, je zwei Kanonenschüsse, das ist ein unbedeutender Aufwand. Ich meine, daß wir auf diese Gewohnheit nicht verzichten dürfen.

– Der Vater hat ganz recht, stimmte Jack ein. Sind die Echos von Felsenheim und Falkenhorst darüber unzufrieden, in ihrem Schlummer gestört zu werden, ei, so wird Ernst ihnen ein paar hübsche Verse widmen, über die sie entzückt sind. Nun vorwärts, Fritz!

– Vorher sollten wir doch wohl der Mutter eine Mittheilung machen...

– Und auch unserer lieben Jenny, setzte Fritz hinzu.[10]

– Das werd' ich schon besorgen, erklärte Zermatt. Sie könnten sich über die Kanonenschüsse wundern und vielleicht gar zu dem Glauben kommen, daß ein Schiff in die Rettungsbai einlaufe.«

In diesem Augenblick erschienen aber bereits Frau Zermatt und Jenny Montrose, die zufällig aus dem Hause getreten waren, am Thore der Einfriedigung.

Nachdem Fritz zuerst seine Mutter umarmt hatte, streckte er dem jungen Mädchen, das ihm zulächelte, die Hand entgegen. Und da diese Jack nach dem kleinen Einschnitte gehen sah, worin die Schaluppe und die Pinasse angebunden lagen, begann sie:

»Wollt Ihr denn diesen Morgen aufs Meer hinaus?

– Jawohl, Jenny, antwortete Jack zurückkommend. Fritz und ich, wir rüsten uns zu einer weiten Ueberfahrt aus.

– Einer weiten Ueberfahrt? wiederholte Frau Zermatt, die sich wegen solcher Ausflüge immer etwas beunruhigte, trotz des Vertrauens, das sie auf die Geschicklichkeit ihrer Söhne in der Führung des Kajaks hatte.

– Beruhige Dich nur, liebe Betsie, und Sie auch, Jenny, sagte Zermatt. Jack scherzt ja blos... es handelt sich nur um eine Fahrt nach der Haifischinsel, um dort bei dem Aufziehen der Flagge zwei Kanonenschüsse zu lösen. Unsere jungen Leute kehren dann sofort zurück, nachdem sie sich überzeugt haben, daß dort alles in Ordnung ist.

– Schön, antwortete Jenny, und während sich Fritz und Jack nach dem Eilande begeben, werden Ernst, Franz und ich unsere Angelschnüre auslegen, vorausgesetzt, daß Frau Betsie meiner nicht bedarf.

– Nein, mein liebes Töchterchen, antwortete Frau Zermatt; ich werde inzwischen alles für unsere nächste große Wäsche zurechtmachen.«

Alle gingen darauf nach dem Landeinschnitte am Bache hinunter, wohin Jack den Kajak gezogen hatte, in dem Fritz und er nun Platz nahmen. Die anderen wünschten ihnen noch glückliche Fahrt, und bald trieb das leichte Fahrzeug rasch nach der kleinen Bucht an der Mündung zu.

Das Wetter war schön, das Meer ruhig und die herrschende Ebbe für sie günstig. Einer vor dem andern und jeder in der engen, im Bootsdeck ausgesparten Oeffnung sitzend, ruderten die beiden Brüder geschickt mit den Pagaien und entfernten sich schnell von der Wohnstätte in Felsenheim. Da die Strömung etwas nach Osten zu lief, mußte der Kajak sich mehr an der gegenüberliegenden[11] Küste halten und durch den schmalen Sund fahren, der die Rettungsbucht mit dem offenen Meere verband.

Jener Zeit zählte Fritz fünfundzwanzig Jahre. Gewandt, kräftig, in allen Körperübungen erprobt, ein unermüdlicher Fußgänger und unerschrockener Jäger, machte der älteste der Familie dieser alle Ehre. Seine früher etwas barsche Natur hatte sich gemildert. Seine Brüder litten nicht mehr, wie vorher, von seiner an Hitze streifenden Lebhaftigkeit, die ihm von Vater und Mutter sonst manchen Vorwurf eingebracht hatte. Ferner hatte noch ein anderes Gefühl dazu geholfen, seine natürlichen Neigungen zum Besseren zu verändern.

Er konnte sich nämlich das junge Mädchen nicht aus dem Sinn schlagen, das er vom Rauchenden Felsen her ins Elternhaus gebracht hatte, und Jenny Montrose konnte es nicht vergessen, daß sie ihm Heil und Rettung verdankte. Jenny war eine liebreizende Erscheinung mit ihrem blonden, in seidenweichen Locken herabwallenden Haar, ihrer geschmeidigen Gestalt, mit ihren seinen Händen und dem frischen Teint, der ihr Gesicht schmückte. Als sie in die ehrenwerthe und arbeitsame Familie gekommen war, hatte sie dieser mitgebracht, woran es bisher fehlte: die Freude des Hauses, und so wurde sie zum guten Genius des häuslichen Herdes.

Doch wenn Ernst, Jack und Franz sie nur als Schwester betrachteten, lag das bei Fritz etwas anders. Es war ein anderes Gefühl, das sein Herz oft höher schlagen ließ. Auch Jenny empfand wohl etwas mehr als Freundschaft für den muthigen, jungen Mann, der ihr einst zu Hilfe gekommen war. Schon waren fast zwei Jahre seit dem aufregenden Vorfalle beim Rauchenden Felsen verflossen... Fritz hatte nicht in Jennys Nähe leben können, ohne sich von ihr bezaubern zu lassen. Und wie oft mochten wohl sein Vater und seine Mutter davon gesprochen haben, wie sich die Zukunft in dieser Beziehung noch gestalten möge!

Was Jack betrifft, hatte sich auch dessen Charakter ein wenig verändert, und zwar insofern, als seine an sich schon große Vorliebe für alles, was Kraft, Muth und Gewandtheit verlangte, noch weiter zunahm, und in dieser Hinsicht brauchte er seinen Bruder Fritz jetzt nicht mehr zu beneiden. Zur Zeit einundzwanzig Jahre alt, von mittlerer Größe, schlank und kräftig, war er immer der prächtige, lustige und gefällige Bursche, und auch so gut, dienstwillig und opferfreudig, daß er seinen Eltern niemals eine trübe Stunde bereitet hatte. Zuweilen trieb er wohl seinen Scherz mit Fritz, Ernst und Franz, doch diese[12] verziehen ihm das gerne, war er doch der beste Kamerad, den sie sich wünschen konnten.

Gleich einem Pfeile schoß inzwischen der Kajak über das glatte Wasser dahin. Das kleine Segel, das dieser bei günstigem Winde trug, hatte Fritz nicht gesetzt, weil es jetzt vom hohen Meere her wehte. Für die Rückfahrt sollte der Mast aber aufgerichtet werden, und dann bedurfte es der Pagaien nicht mehr, um die Mündung des Schakalbaches zu erreichen.

Nichts erregte bei der dreiviertel Lieue langen Ueberfahrt die besondere Aufmerksamkeit des Brüderpaares. Nach Osten zu wies das unfruchtbare, verödete Ufer nichts auf, als eine Reihe gelblicher Dünen. Auf der anderen Seite dehnte sich das grünende Uferland aus, das hier von der Mündung des Schakalbaches bis zu der des Flamingoflusses hin sichtbar war und sich jenseits dieses noch bis zum Cap der Getäuschten Hoffnung hin fortsetzte.

»Offenbar, begann Fritz, liegt unsere Neue Schweiz nicht in der Fahrstraße der Schiffe, und dieser Theil des Indischen Oceans scheint überhaupt wenig besucht zu sein.

– O, erwiderte Jack, mir läge gar nichts daran, daß jemand unsere Neue Schweiz entdeckte. Ein Schiff, das hier anlegte, würde sie doch sofort in Besitz nehmen wollen. Wenn es hier seine Flagge aufpflanzte, was würde dann aus der unseren? Eine schweizerische Flagge könnte jene ja nicht sein, da die der Schweiz über keinem Meere flattert, und wir würden uns dann hier nicht mehr heimisch fühlen.

– Doch die Zukunft, Jack, bedenke die Zukunft! warf Fritz dagegen ein.

– Die Zukunft? wiederholte Jack. Ja, das wird die Fortsetzung der Gegenwart sein, und wenn Dir das nicht genügt...

– O... uns vielleicht... sagte Fritz. Du vergißt aber Jenny... ihren Vater, der in dem Glauben lebt, daß sie beim Schiffbruche des »Dorcas« umgekommen sei. Sollte sie nicht von ganzem Herzen wünschen, wieder bei ihm zu sein? Sie weiß, daß er weit da draußen in England lebt, und nie könnte sie zu ihm kommen, wenn hier nicht eines Tages ein Schiff auftaucht.

– Das ist ja richtig!« antwortete Jack lächelnd, der recht wohl errieth, was in der Seele seines Bruders jetzt vorging.

Nach einer Fahrt von vierzig Minuten legte der Kajak an den niedrigen Felsen der Haifischinsel an.

Fritzens und Jacks erste Sorge war es nun, deren Inneres zu besichtigen und dann noch um sie herumzugehen. Sie mußten sich überzeugen, in[13] welchem Zustande sich die Anpflanzungen befanden, die seit einigen Jahren rings um den Batteriehügel angelegt worden waren.

Diese Pflanzungen waren dem Nord- und dem Nordostwinde sehr ausgesetzt, und gerade diese stürmten am heftigsten gegen das Eiland an, ehe sie sich, durch den Sund der Rettungsbucht wehend, wie in einem Trichter singen. An dieser Stelle kam es zuweilen zu ungewöhnlich starken atmosphärischen Störungen, die die Bedeckung des offenen Schuppens, worin die beiden Geschütze standen, schon wiederholt abgerissen hatten.

Dieses Jahr hatten die Anpflanzungen nicht gelitten. Nur am nördlichen Theile lagen einige Bäume am Strande, und diese konnten recht gut zerlegt werden, um die Holzvorräthe in Felsenheim zu ergänzen.

Die Verhaue und Hütten, worin die Antilopen sich befanden, waren so fest hergestellt, daß Fritz und Jack daran nicht die geringste Beschädigung wahrnehmen konnten. Die Thiere fanden hier einen überreichen Graswuchs, der ihre Ernährung das ganze Jahr hindurch sicherte. Diese Heerde zählte augenblicklich etwa fünfzig Köpfe, versprach aber, sich noch weiter zu vermehren.

»Was sollen wir nun mit allen diesen Thieren anfangen? fragte Fritz, während er die graziösen Wiederkäuer betrachtete, die an der lebenden Hecke der Umfriedigung hin und her liefen.

– O, die verkaufen wir zuletzt, antwortete Jack.

– Du nimmst also doch an, daß eines schönen Tages hier Schiffe erscheinen, an die wir sie verkaufen könnten? fragte Fritz.

– Keineswegs, versetzte Jack, wenn wir sie einmal verkaufen, so wird das auf einem Jahrmarkte der Neuen Schweiz geschehen.

– Auf einem Jahrmarkte, Jack! Deiner Rede nach, wäre die Zeit nicht mehr fern, wo die Neue Schweiz besuchte Märkte hätte?

– Natürlich, Fritz, ganz wie sie Dörfer, Flecken, Städte und sogar eine Hauptstadt – selbstverständlich Felsenheim – haben wird.

– Und wann wäre das?

– Sobald die Bezirke der Neuen Schweiz mehrere tausend Einwohner beherbergen.

– Etwa Fremde?

– O nein, Fritz, nein! versicherte Jack, Schweizer, nichts als Schweizer. Unser Heimatland ist volkreich genug, uns einige hundert Familien herzusenden.[14]

– Es hat aber niemals Colonien gehabt, und ich bezweifle, daß das in Zukunft je der Fall sein werde.

– Nun gut, Fritz, so wird es später doch eine solche besitzen.

– Hm, machte Fritz. unsere Landsleute scheinen nicht viel Neigung zum Auswandern zu haben.

– Ja, was haben wir selbst denn gethan? rief Jack. Hat uns nicht das Verlangen getrieben, eine Colonie zu gründen, was uns auch nicht zum Schaden gereicht hat?

– O, wir... wir sind dazu gezwungen gewesen, erwiderte Fritz. Wenn sich die Neue Schweiz überhaupt einmal mehr bevölkert, fürchte ich sehr, daß sie ihren Namen nicht mehr rechtfertigen wird, und daß der größte Theil ihrer Bewohner angelsächsischen Stammes sein dürfte!«

Fritz hatte damit gewiß recht, und Jack verstand ihn so gut, daß er nichts anderes thun konnte, als das Gesicht zu verziehen.

Zur Zeit betrieb von allen europäischen Mächten Großbritannien mit größtem Eifer die Erweiterung seines Colonialreiches. Allmählich ging der ganze Indische Ocean in seinen Besitz über. Kam nun überhaupt ein Schiff vor der Neuen Schweiz in Sicht, so trug es höchst wahrscheinlich die britische Flagge und sein Capitän beeilte sich, das Land in Besitz zu nehmen, indem er sofort die Farben Großbritanniens auf der Höhe des Prospecthügels entfaltete.

Nach vollendeter Besichtigung des Eilandes stiegen die beiden Brüder die kleine Anhöhe hinauf und kamen nach dem offenen Schuppen der Batterie.

Zunächst blieben sie hier am Rande der oberen Fläche stehen und durchmusterten, das Fernrohr in der Hand, den weiten Meerestheil, der sich zwischen dem Cap der Getäuschten Hoffnung und dem andern, die Rettungsbai an der Ostseite abschließenden Cap ausdehnte.

Das Meer war verlassen wie immer. Bis zu der Linie, wo Himmel und Wasser sich berührten, konnten sie nichts entdecken, außer, etwa anderthalb Lieue im Nordwesten, dem Risse, an dem der »Landlord« einst gescheitert war.

Ihre Blicke nach dem Cap der Getäuschten Hoffnung richtend, erkannten Fritz und Jack zwischen den Bäumen des Hügels die Terrasse und Veranda der Villa des Prospect-Hill. Diese Sommerwohnung stand noch immer auf dem alten Flecke, gewiß zur großen Befriedigung für den Vater Zermatt, der sich immer noch mit der Befürchtung trug, daß sie von den Winterstürmen einmal ganz hinweggefegt werden könnte.[15]

Die beiden Brüder traten unter den Schuppen, der ebenfalls unbeschädigt geblieben war, obgleich in den zweieinhalb Monaten des Winters recht oft heftige Winde und verderbliche Böen geweht hatten.

Während Jack nun die Flagge von ihrer Umhüllung befreite und ihre obere und untere Ecke an der Zugleine des Mastes befestigte, untersuchte Fritz die zwei kleinen Kanonen, deren Mündung nach dem Meere hinaus gerichtet war. Sie erwiesen sich bestens instand und brauchten also nur geladen zu werden. Um Pulver zu sparen, stopfte Fritz, wie er es immer gethan hatte, einen Lehm- und Graspfropf über dieses, wodurch der Knall des Schusses wesentlich verstärkt wurde. Dann steckte er in das Zündloch die Schnur, die die Explosion bewirken sollte, sobald die Flagge an der Mastspitze flatterte.

Es war jetzt halb acht Uhr morgens. Von den Dünsten des ersten Tagesgrauens befreit, strahlte der Himmel in voller Klarheit. Nur weit im Westen lagerten einzelne Wolken. Der Wind zeigte Neigung zum Abflauen. Die im Widerschein der Sonne glänzende Bai lag spiegelglatt vor ihnen ausgebreitet.

Als Fritz mit der Ladung fertig war, fragte er seinen Bruder, ob er bereit sei.

»Sobald Du willst, Fritz, antwortete Jack, der nur noch nachsah, daß sich die Zugleine nicht an einem Dachvorsprünge fangen könnte.

– Erstes Geschütz... Feuer!... Zweites Geschütz... Feuer!« rief Fritz, der seine Rolle als Artillerist immer sehr ernst nahm.

Kurz nacheinander krachten die beiden Schüsse hinaus, während die roth und weiße Flagge emporstieg und sich in dem schwachen Winde entfaltete.

Fritz machte sich schon daran, die beiden Rohre wieder zu laden, doch kaum hatte er die Kartusche ein Stück weit in das zweite Geschütz hineingeschoben, als er sich plötzlich aufrichtete.

Ein entfernter Knall hatte sein Ohr getroffen.

Sofort bogen sich Jack und er über den Schuppen hinaus.

»Ein Kanonenschuß! rief Jack.

– Nein, meinte Fritz, das ist nicht möglich! Wir müssen uns getäuscht haben!

– Horch!« fuhr Jack fort, der kaum zu athmen wagte.

Da erschütterte die Luft ein zweiter dumpfer Knall, dem nach etwa einer Minute ein dritter folgte.

»Ja... ja... das waren Kanonenschüsse! wiederholte Jack.


 »Horch!« fuhr Jack fort, der kaum zu athmen wagte. (S. 16.)
»Horch!« fuhr Jack fort, der kaum zu athmen wagte. (S. 16.)

– Die von Osten her kamen,« setzte Fritz hinzu.

Hatte wirklich ein Schiff, das in der Nähe der Neuen Schweiz dahinsegelte, auf die zwei Signalschüsse von der Haifischinsel geantwortet und würde es nun wohl seinen Curs nach der Rettungsbai einschlagen?...

Quelle:
Jules Verne: Das zweite Vaterland. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXXVII–LXXVIII, Wien, Pest, Leipzig 1901, S. 5-17,19.
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