Sechzehntes Capitel.
Jacks Bericht. – Im Walde verirrt. – Die Wilden auf der Insel. – Zunehmende Beunruhigung. – Das Ausbleiben der »Licorne«. – Drei Wochen des Wartens. – Bei der kleinen Kapelle von Felsenheim.

[243] Die beiden Familien kehrten, trotz Jacks beunruhigender Mittheilung, freudig klopfenden Herzens nach dem Speisezimmer zurück. Alle dachten ja nur an das Eine: Jack ist wieder da!

Und doch hätte man sich eine ernsthaftere Kunde, als die von der Anwesenheit jener Wilden an der Küste der Neuen Schweiz, kaum vorstellen können. Jetzt gewann man auch die Ueberzeugung, daß der leichte Dunst, den Wolston bemerkt hatte, als die Pinasse damals von der Mündung des Montrose-Flusses wegfuhr, und dann noch einmal, als sie alle drei auf dem Gipfel des Pics sich befanden, der Rauch aus einem an diesem Theile der Küste aufgeschlagenen Lager gewesen sei.

Jack brach vor Hunger fast zusammen. Er mußte sich erst etwas stärken und nahm an dem Tische Platz, an den sich alle gesetzt hatten. Dann begann er seine Abenteuer zu berichten.

»Liebe Eltern, ich bitte dringend um Verzeihung wegen des Kummers, den ich Euch bereitet habe... ja, ich gestehe es, ich ließ mich nur durch den Wunsch, einen jungen Elephanten zu fangen, so arg verleiten. Ich hörte nicht auf Herrn Wolston und auf Ernst, die mich zurückriefen, und es ist fast ein Wunder, daß ich noch heil und gesund zurückgekommen bin. Meine Unbesonnenheit wird aber wenigstens die eine gute Folge haben, daß es uns nun ermöglicht ist, eine bessere Vertheidigung vorzubereiten, falls die Wilden bis zum Gelobten Lande vordrängen und Felsenheim entdeckten.

»Ich war also bei der Verfolgung der drei Elephanten tief in den Tannenwald eingedrungen, ohne eigentlich zu wissen, wie es mir gelingen könnte, den kleinsten abzufangen. Dessen Vater und Mutter gingen ruhig dahin, brachen sich durch alles Buschwerk Bahn und bemerkten wohl gar nicht, daß ich ihnen nachschlich. Freilich verbarg ich mich möglichst sorgsam vor ihren Blicken, dachte aber kaum daran, wohin sie mich und Falb – der nicht weniger beutelustig schien als ich – verleiten könnten, und auch nicht daran, ob es mir möglich[243] sein würde, mich rückwärts zurecht zu finden. Eine unwiderstehliche Macht trieb mich vorwärts, und dabei irrte ich über zwei Stunden lang immer weiter, vergeblich darauf bedacht, wie ich den kleinen Elephanten von dem großen Paare trennen könnte.

»Hätte ich versuchen wollen, die großen Thiere zu erlegen, so würde das zahllose Kugeln gekostet haben, ehe es zum Ziele führen konnte, und vielleicht wäre die einzige Folge davon die gewesen, daß die beiden Riesen wüthend wurden und über mich herfielen.

»Inzwischen kam ich immer tiefer und tiefer in den Tannenwald hinein, dachte dabei aber weder an die verflossene Zeit, noch an die Entfernung, in der ich mich befand, ebenso weder an die Schwierigkeit, Herrn Wolston und Ernst wiederzufinden, noch – mögen sie mir darum nicht gar zu sehr zürnen! – an die schlimme Lage, in die ich sie versetzte, wenn sie nach mir suchen wollten.

»Meiner Schätzung nach hatte ich, ohne jeden Erfolg, wohl zwei reichliche Lieues nach Osten hin zurückgelegt. Damals kam ich, in Rücksicht auf meine Lage vielleicht etwas spät, mehr zur Vernunft. Da die drei Thiere nicht Anstalt machten, einmal stehen zu bleiben, sagte ich mir, es sei für mich wohl das beste, einfach umzukehren.

»Es mochte gegen vier Uhr sein. Rings um mich standen die Bäume jetzt weiter voneinander ab und ließen auch da und dort wirkliche Lichtungen frei. Hier muß ich im Vorübergehen einfügen, daß man sich geraden Wegs nach Südosten zu wenden hat, wenn jemand nach dem Pic Jean Zermatt gehen will...

– Ja... der Zettel von Ernst hat es uns gemeldet... Ihr habt ihm meinen Namen gegeben, fiel der ältere Zermatt ein.

– Lieber Vater, antwortete Ernst, das geschah auf den Vorschlag des Herrn Wolston hin.

– Versteht es sich denn nicht von selbst, mein guter Freund, setzte Wolston hinzu, daß der höchste Punkt der Neuen Schweiz nach dem Namen des Familienoberhauptes getauft wurde?

– Na, meinetwegen, so mag es bei dem Pic Jean Zermatt bleiben, antwortete der ältere Zermatt mit einem Danke an Wolston. Jetzt mag aber Jack weiter erzählen und uns über die Wilden berichten.

– Sie sind nicht mehr weit, erklärte Jack.[244]

– Nicht weit? rief Frau Zermatt erschrocken.

– In meiner Geschichte nämlich, liebste Mutter, in meiner Geschichte treten sie nun bald auf. Thatsächlich dürften sie von Felsenheim gut zehn Lieues entfernt sein.«

Diese Antwort war ja in gewissem Maße beruhigend, und Jack fuhr nun mit folgenden Worten fort:

»Ich befand mich also vor einer ziemlich ausgedehnten Blöße im Tannenwalde und wollte, entschlossen, nicht weiter zu gehen, Halt machen, als die Elephanten ebenfalls stehen blieben. Falb ware gleich auf sie zugeeilt, wenn ich ihn nicht zurückgehalten hätte.

»Sollten die Thiere, so fragt' ich mich, hier ihr gewohntes Lager haben, hier, wo sich ein Rio durch das hohe Gras hinschlängelte? Die Burschen – ich betrachtete sie schon als meine Beute – löschten aus dem Wasserlauf, indem sie die Rüssel senkten, ihren Durst.

»War's ein Wunder, daß mein Jagdfeuer wieder aufloderte, als ich sie so ruhig, so ahnungslos dastehen sah? Mich packte ein unwiderstehliches Verlangen, den kleinen zu isoliren, nachdem ich die beiden anderen erlegt hätte, und sollte mir das auch meinen letzten Schuß Pulver kosten! Vielleicht genügten ja schon zwei Kugeln, wenn sie nur die richtige Stelle trafen, und welcher Jäger vertraut nicht, gerade wenn er's braucht, auf sein Glück? Daran, wie ich den kleinen Elephanten einfangen sollte, wenn ich die beiden großen erlegt hätte, oder wie es mir gelingen sollte, ihn dann nach Felsenheim zu bringen, dachte ich im ersten Augenblicke nicht im geringsten. Ich legte das mit Kugeln geladene Gewehr an; zwei Schüsse krachten, und wenn sie auch die Elephanten trafen, so waren diese doch offenbar nicht ernstlich verwundet, denn sie begnügten sich, die Ohren zu schütteln und sich noch einmal eine tüchtige Menge Wasser ins Maul zu gießen.

»Kurz, sie drehten sich nicht einmal um, um zu sehen, von wo aus die Schüsse gekommen wären, und bekümmerten sich auch gar nicht um das Bellen Falbs. Ehe ich ein zweitesmal feuern konnte, waren sie weiter getrottet, diesmal aber so schnellen Schrittes, fast gleich dem Galopp eines Pferdes, daß ich auf ihre Verfolgung verzichten mußte.

»Noch ein paar Minuten hindurch tauchten die Kolosse zwischen den Bäumen und den Büschen auf, von denen sie mit dem Rüssel grüne und dürre Zweige abknickten, und dann waren sie völlig verschwunden.[245]

»Jetzt handelte es sich für mich darum, den Rückweg zu finden und zunächst um die Richtung, die ich einschlagen sollte. Die Sonne neigte sich dem Untergange zu und im Tannenwalde mußte es bald dunkel werden. Selbstverständlich mußte ich nach Westen zu gehen, doch ob ich mich dabei mehr nach links oder nach rechts zu halten hätte, dafür fehlte mir jeder Anhalt. Ich hatte weder Ernsts Compaß zur Hand, noch verfügte ich über das ihm eigene Orientierungsvermögen, das ja fast dem eines Chinesen gleichkommt. Natürlich war ich in nicht geringer Verlegenheit.

»Schließlich mußte es mir doch gelingen, meine eigene Fährte oder wenigstens die der Elephanten zu entdecken, wenn das auch durch die zunehmende Dunkelheit erschwert wurde. Außerdem kreuzten sich im Walde zahlreiche Fährten. Aus der Ferne hörte ich auch die Trompetenstößen ähnlichen Laute von Elephanten; die Thiere kamen wahrscheinlich des Abends nach dem kleinen Wasserlaufe zusammen.

»Ich sah bald ein, daß ich meinen Weg vor dem Aufgang der Sonne nicht wiederfinden würde, und auch Falb fand sich trotz seines Instinctes offenbar nicht mehr zurecht.

»Eine Stunde lang irrte ich so aufs Gerathewohl dahin, ohne zu wissen, ob ich der Küste näher kam oder mich von ihr entfernte. Ach, liebe Mutter, glaube mir, daß ich mir meiner Unüberlegtheit wegen schwere Vorwürfe gemacht habe, am meisten bekümmerte mich aber der Gedanke, daß Herr Wolston und Ernst es wahrscheinlich noch nicht aufgegeben hätten, nach mir zu suchen. Das mußte ihre Rückkehr nach Felsenheim verzögern und Euch hier nicht wenig Sorge machen, indem wir nicht zu der auf Ernsts Zettel angesagten Zeit ankamen. Für diesen und Herrn Wolston bedingte das noch weitere Beschwerden, und alles das war meine Schuld!

– Ja freilich, Deine Schuld, mein Sohn, sagte der ältere Zermatt, und wenn Du, als Du allein davon gingst, nicht an Dich dachtest, hättest Du doch an Deine Begleiter und an uns denken sollen.

– Das ist nicht zu bestreiten, fiel Frau Zermatt, ihren Sohn umarmend, ein, er hat einen großen Fehler begangen, einen Fehler, der ihm hätte das Leben kosten können. Doch da wir ihn wieder haben, sei ihm das verziehen!«

Jack erzählte weiter.

»Ich komme nun zu dem Theile meiner Abenteuer, wo sich meine Lage arg verschlimmerte.[246]

»Bisher hatte ich ja keine ernste Gefahr zu erleiden gehabt. Mit meinem Gewehre konnte ich für die nöthige Nahrung sorgen, selbst wenn eine ganze Woche verging, ehe ich den Weg nach Felsenheim wiederfand. Folgte ich nur der Küste, so mußte ich ja früher oder später dahin kommen. Mit den Raubthieren, deren es in jenem Theile der Insel viele zu geben scheint, hoffte ich ebensogut fertig zu werden, wie bei so mancher früheren Gelegenheit.

»Vorzüglich zürnte ich mir, weil ich annehmen mußte, daß Herr Wolston und Ernst sich so vergeblich abmühen würden, meine Fährte zu entdecken. Vielleicht hatten sie, wie ich, eine östliche Richtung durch den hier weniger dichten Wald eingeschlagen und waren womöglich gar nicht so weit entfernt von der Stelle, wo ich Halt gemacht hatte...

»Der schlimmste Umstand war, daß es nun bald Nacht werden mußte. Deshalb hielt ich es für das beste, gleich an jener Stelle zu bleiben und hier ein Feuer anzuzünden, einmal, weil Herr Wolston und Ernst das vielleicht hätten bemerken können, und dann, weil dessen Gluthschein jedenfalls die verdächtigen Thiere verscheuchte, die ich in der Umgebung heulen, grunzen und brüllen hörte.

»Vorher rief ich aber noch einmal nach allen Himmelsgegenden die Namen meiner verlorenen Gefährten hinaus.

»Keine Antwort.

»Nun blieb mir nur übrig, einige Schüsse abzufeuern. Das that ich wiederholt.

»Kein Flintenknall antwortete mir.

»Dagegen glaubte ich, rechts von mir ein Rascheln im Gestrüppe zu vernehmen

»Ich horchte und wollte schon wieder rufen... da fiel mir aber ein, daß Herr Wolston und Ernst doch unmöglich von dieser Seite kommen könnten; sie hätten wohl auch schon nach mir gerufen und wir wären einander schon in die Arme gesunken gewesen...

»Hier schlichen also offenbar Thiere heran... Raubthiere... vielleicht gar eine Schlange.

»Ich fand nicht mehr die Zeit, mich zur Abwehr zu rüsten. Vier große Gestalten von menschlicher Form tauchten aus dem Schatten auf, nicht etwa Affen wie ich im ersten Augenblicke glaubte. Auf mich zuspringend, riefen sie einander in einer mir unverständlichen Sprache irgend etwas zu, und ich konnte nicht mehr zweifeln, es hier mit Wilden zu thun zu haben.[247]

»Wilde Menschen auf unserer Insel!

»Sofort wurde ich niedergeworfen und fühlte, daß zwei Knie auf meiner Brust lasteten; dann wurden mir die Hände gefesselt, ich mußte mich erheben, wurde an den Schultern gepackt, und die abscheulichen Kerle trieben mich rasch vorwärts.

»Einer von ihnen hatte mein Gewehr ergriffen, ein anderer sich meine Jagdtasche angeeignet. Es schien aber, wenigstens vor der Hand, nicht so, als ob sie mir nach dem Leben trachteten.

»Die ganze Nacht über marschirten wir weiter... in welcher Richtung, davon hatte ich keine Ahnung. Ich bemerkte nur, daß der Hochwald nach und nach lichter wurde; der Mondschein drang bis auf den Erdboden, und jedenfalls näherten wir uns der Küste.

»Ach, jetzt dachte ich wahrlich nicht mehr an mich, sondern nur an Euch, meine Lieben! Ich stellte mir die Gefahren vor, die die Anwesenheit von Eingeborenen auf unserer Insel mit sich brachte. Diese brauchten ja nur am Ufer bis zum Montrose-Flusse hinauszuziehen und diesen zu überschreiten, um das Cap im Osten zu erreichen; dann konnten sie leicht bis nach Felsenheim hinunterschwärmen. Kamen sie aber hierher noch vor dem Wiedereintreffen der »Licorne«, so würdet Ihr kaum imstande gewesen sein, sie zurückzutreiben.

– Hast Du nicht vorhin gesagt, Jack, fragte der ältere Zermatt, daß jene vom Gelobten Lande noch recht entfernt wären?

– Gewiß, Vater, sechs bis sieben Lieues südlich vom Montrose, also etwa zehn Lieues von hier.

– Nun also: vor Ablauf von vierzehn, vielleicht nur von acht Tagen, wird die »Licorne« in der Rettungsbucht vor Anker liegen, bemerkte der ältere Zermatt, und dann haben wir nichts mehr zu fürchten. Doch, erzähle erst weiter.«

Jack fuhr mit folgenden Worten fort:

»Erst in der Morgenfrühe und nach einem sehr langen Marsche, der durch keine Rast unterbrochen wurde, kamen wir an dem die Küste beherrschenden Steilufer an.

»Unten an diesem war ein Lager aufgeschlagen, in dem sich noch gegen hundert jener ebenholzschwarzen Spitzbuben aufhielten – lauter halbnackte Kerle, die da und dort in Aushöhlungen am Ufer der Felswand hockten. Meiner Ansicht nach waren es Fischer, die von dem stürmischen Ostwinde nach unsererInsel verschlagen sein mochten. Ihre Piroguen hatten sie nach dem Strande heraufgezogen.

»Alle kamen auf mich zugelaufen. Sie betrachteten mich ebenso überrascht wie verwundert, als wäre es zum erstenmale, daß sie einen weißen Mann sähen. Das dürfte übrigens zutreffen, da europäische Schiffe diesen Theil des Indischen Oceans ja kaum jemals durchkreuzen.

»Nachdem sie alles an mir genau besichtigt und untersucht hatten, verfielen sie wieder ihrer angeborenen Indifferenz.


Das Meer war öde und leer bis zur äußersten Linie des Horizontes. (S. 253.)
Das Meer war öde und leer bis zur äußersten Linie des Horizontes. (S. 253.)

Mißhandelt wurde ich nicht. Man reichte mir einige geröstete Fische. die ich begierig verzehrte, denn ich starb schon fast vor Hunger, und meinen Durst konnte ich mit Wasser aus einem Rio stillen, der vom Steilufer herunterstürzend über den Strand hin verlief.

»Eine gewisse Befriedigung gewährte es mir, daß mein Gewehr, dessen Gebrauch die Wilden offenbar nicht kannten, und meine, übrigens unversehrt gebliebene Jagdtasche am Fuße eines Felsblockes niedergelegt worden waren, und ich nahm mir vor, bei sich bietender Gelegenheit den Burschen meine Gefangennahme mit ein paar Schüssen heimzuzahlen.

»Da sollte ein unerwarteter Zwischenfall die Sachlage plötzlich ändern.

»Abends gegen neun Uhr erhob sich am Saume des Waldes, der an das Steilufer grenzte ein gewaltiges Geräusch. bei dem den Eingeborenen der Schrecken in alle Glieder fuhr. Wie erstaunte ich aber, zu erkennen, daß dieser Lärm von einer Herde Elephanten – es mochten wohl ihrer dreißig sein – herrührte. Sie trotteten ruhig im Bette des Rio dahin...

»Ah das gab aber ein Entsetzen! Unzweifelhaft sahen sich die Wilden zum erstenmale den riesigen Vierfüßlern gegenüber, Thieren mit furchtbar langer Nase und einer Art Finger daran.

»Als die Rüssel sich dann erhoben, wieder hinabkrümmten, durcheinanderfuchtelten und die bekannten Trompetentöne von sich gaben, da war bei den Wilden kein Halten mehr! Die einen flüchteten in das Felsengewirr, die anderen suchten ihre Piroguen eiligst flott zu machen, die Elephanten aber sahen dem Getümmel mit größter Gemüthsruhe zu.

»Ich erblickte in dem Vorfalle nur die sofort zu benützende Gelegenheit zum Entkommen, und ohne mich darum zu kümmern, wie dieses Zusammentreffen der Eingeborenen mit den Elephanten enden würde, lief ich dem Steilufer zu, kletterte einen Spalt darin hinauf und flüchtete in das Gehölz, wo ich[251] meinen Falb wiederfand, der hier, mich suchend, umherirrte. Natürlich hatte ich Gewehr und Jagdtasche, die mir ja ganz unentbehrlich waren, vorher aufgerafft und mitgenommen.

»Nun wanderte ich die ganze Nacht, den ganzen nächsten Tag hindurch, erlegte mir einiges Wild zur Nahrung und rastete nur, um dieses zuzubereiten und zu verzehren, und nach vierundzwanzig Stunden erreichte ich das rechte Ufer des Montrose, nicht weit von dessen Barre.

»Jetzt wußte ich endlich, wo ich war. Ich ging bis zu dem Bache hinunter, den mein Vater und ich schon einmal stromaufwärts gefahren waren. Weiterhin hatte ich über freies Flachland und durch Wälder zu marschieren, wobei ich mich in der Richtung nach dem Grünthale hielt, und da langte ich heute am Nachmittag glücklich an. Ich ging durch die Schlucht der Cluse; wie traurig wäre es für mich aber gewesen, liebe Eltern und liebe Freunde, wenn Ihr schon ausgezogen gewesen wäret, mich vielleicht irgendwo an der Küste zu suchen, wenn ich Euch in Felsenheim nicht angetroffen hätte!«

Das war der eingehende Bericht, den Jack erstattete, und der nur zwei- oder dreimal durch Bemerkungen, die wohl Beachtung verdienten, unterbrochen worden war.

Zunächst handelte es sich um die Frage, wer jene Eingeborenen wären und woher sie gekommen sein möchten. Jedenfalls von der Westküste Australiens, des hier am nächsten gelegenen Landes, wenn sich in diesem Theile des Indischen Oceans nicht eine noch ebenso unbekannte Inselgruppe befand, wie die Neue Schweiz vor dem Eintreffen der englischen Corvette. Waren jene Wilden aber Australier, gehörten sie der auf der untersten Sprosse der Stufenleiter der Menschheit stehenden Rasse an, so war es kaum erklärlich, daß sie an Bord ihrer Piroguen eine Strecke von etwa dreihundert Lieues hätten zurücklegen können. Wahrscheinlich konnte sie dann nur das stürmische Wetter so weit verschlagen haben.

Jetzt, wo sie Jack getroffen hatten, wußten sie, daß die Insel von Leuten einer anderen Rasse als der ihrigen bewohnt war. Was würden sie nun beginnen? War etwa zu befürchten, daß sie mit den Piroguen längs der Küste hinführen und schließlich die Rettungsbucht und die Wohnstätte Felsenheim entdeckten?

Die »Licorne« mußte ja nun bald wiederkommen. Nach einer, höchstens zwei Wochen donnerten ihre Kanonen gewiß zur Begrüßung. Ankerte sie erst in wenigen Kabellängen Entfernung, so war keine Gefahr mehr zu fürchten.[252]

Heute, am 5. October, war nahezu ein Jahr seit der Abfahrt der Corvette verstrichen. Der Verabredung nach sollte sie nicht länger als zwölf Monate ausbleiben. Jeden Tag hoffte man also, sie am Horizonte auftauchen zu sehen, und die Batterie auf der Haifischinsel war schon instand gesetzt, den Gruß zu erwidern, den der Lieutenant Littlestone der auf der Spitze des Pic Jean Zermatt wehenden Flagge entbieten würde.

Es schien also, als ob es nicht sofort nöthig wäre, sich auf eine Abwehr der Wilden einzurichten. Vielleicht hatten sich diese im Schreck über den Anblick der Elephanten überhaupt schon wieder eingeschifft und waren nach der australischen Küste oder irgendwelcher Insel in der weiteren Umgebung zurückgefahren. Dann brauchte in der Lebensführung der beiden Familien zunächst nichts geändert zu werden, außer daß man die Meeresfläche vor Felsenheim immer scharf im Auge behielt.

So wurden also nach Verlauf der wenigen aufregenden Tage die gewöhnlichen Arbeiten, vorzüglich aber die an der Kapelle, wieder aufgenommen.

Alle gingen hier kräftig ans Werk, da der Bau bei der Ankunft der »Licorne« fertig sein sollte Die mit Seitenfenstern versehenen vier Mauern erhoben sich bereits bis zur Dachhöhe und im Hintergrunde erhielt die Chorhaube ihre Beleuchtung durch eine kreisrunde Oeffnung. Wolston begann das Dachgerüst aufzustellen, das, dicht genug, jeden Platzregen auszuhalten, mit Bambus eingedeckt wurde. Die Ausschmückung des Innern der Kapelle hatten Frau Zermatt, Frau Wolston und Annah übernommen, und an deren gutem Geschmack konnte man nicht zweifeln.

Diese Arbeiten zogen sich bis zum 15. October, bis zu dem Tage hin, wo die »Licorne« hatte wieder eintreffen sollen Verspätete sie sich um acht oder vierzehn Tage, so war das im Hinblick auf die weite Fahrstrecke noch kein Grund zur Beunruhigung, höchstens wurde damit die Geduld der beiden Familien auf die Probe gestellt. Freilich konnte diese in Felsenheim bald niemand mehr so recht bewahren.

Am 19. hatte noch kein Kanonenschuß die Annäherung der Corvette gemeldet. Jack bestieg deshalb seinen Onagre und ritt nach dem Prospect-Hill und nach dem Cap der Getäuschten Hoffnung hinaus. Vergebens! Das Meer war öde und leer bis zur äußersten Linie des Horizontes.

Auch am 27. wiederholte er diesen Ausflug, doch ebenso erfolglos wie vorher. Jetzt trat nun erklärlicherweise die Unruhe an die Stelle der Ungeduld.[253]

»O, ich bitte Euch, mahnte der ältere Zermatt, der seine kleine Welt zu beruhigen sachte, wiederholt, vierzehn Tage, selbst drei Wochen bilden doch hier keine so ernstliche Verspätung...

– Zumal da wir gar nicht wissen, setzte Wolston hinzu, ob die »Licorne« England wirklich zur verabredeten Zeit hat verlassen können.

– Die Admiralität, bemerkte Frau Zermatt sehr arglos, muß sich aber doch beeilt haben, von der neuen Colonie Besitz zu ergreifen.«

Wolston lächelte bei dem Gedanken, daß die britische Admiralität es je mit etwas eilig gehabt haben solle.

Immerhin behielt man außer der Ueberwachung des Meeres vor dem Cap der Getäuschten Hoffnung auch das Wasser vor dem Cap im Osten stets scharf im Auge. Mehrmals an jedem Tage richteten sich die Fernrohre nach der Elephantenbucht hinaus, wie man den Theil der Küste, wo das Lager der Wilden gewesen war, getauft hatte.

Bisher war keine einzige Pirogue bemerkt worden. Waren die Wilden nicht wieder abgesegelt, so schien es mindestens, als ob sie ihren Lagerplatz nicht zu verlassen gedächten. Sollten sie aber dennoch an der Spitze des Caps im Osten auftauchen und etwa nach der Rettungsbucht zu steuern, so konnte man sie doch mittels der Batterie der Haifischinsel und der Geschütze auf der Anhöhe bei Felsenheim jedenfalls zurückweisen.

Besser war es allemal, sich gegen sie nach der Seite des Meeres, als nach der des Landes hin zu vertheidigen, denn die größte Gefahr drohte dann, wenn sie nach der Erstürmung der Schlucht der Cluse zur Wohnstätte der Ansiedler vordrangen.

Fielen so gegen hundert Wilde hier ein, so war ein Angriff auf Felsenheim voraussichtlich kaum abzuwehren. Vielleicht müßten die Ansiedler dann nach der Haifischinsel flüchten, wo sie sich bis zum Eintreffen der englischen Corvette eher zu halten vermochten.

Die »Licorne« erschien aber nicht, das Ende des Octobers, des zwölften Monats seit ihrer Abfahrt, kam schon heran. Jeden Morgen hofften der ältere Zermatt, Ernst und Jack durch den Donner von Geschützen geweckt zu werden. Das Wetter war prächtig. Der leichte Dunst über dem Horizonte verschwand gleich beim Aufgang der Sonne.

So weit, wie das Auge nach dem offenen Meere hinausreichte, suchten alle ängstlich nach der »Licorne«.[254]

Noch am 7. November aber mußten sie sich, bei einem nach dem Prospect-Hill unternommenen Ausfluge, leider überzeugen, daß noch immer kein Segel zwischen den beiden Caps blinkte. Vom Cap der Getäuschten Hoffnung her erwartete man die Erfüllung der sehnlichsten Wünsche... vom Cap im Osten her konnte das schlimmste Unheil kommen.

In tiefem Schweigen standen alle auf dem Gipfel des kleinen Hügels – gebannt unter die Herrschaft eines Gefühls, in dem sich Furcht und Hoffnung zu gleichen Theilen mischten.

Ende des ersten Theiles.[255]

Quelle:
Jules Verne: Das zweite Vaterland. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXXVII–LXXVIII, Wien, Pest, Leipzig 1901, S. 243-249,251-256.
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