Fünftes Capitel.
Rückkehr nach Felsenheim. – Fahrt der »Elisabeth« nach der Perlenbucht. – Eine Rettung. – Ein menschliches Wesen. – Jenny Montrose. – Schiffbruch des »Dorcas«. – Zwei Jahre auf dem Rauchenden Felsen. – Was Fritz berichtete.

[68] Der Leser wird sich leicht die quälende Unruhe vorstellen, die der ältere Zermatt bei dem Gedanken an die Gefahren empfand, denen sein Sohn sich jetzt aussetzte. Da er diesen aber weder davon zurückhalten, noch mit ihm gehen konnte, mußte die Schaluppe nach dem Cap der Getäuschten Hoffnung zurückkehren.

In Felsenheim eingetroffen, wollte Zermatt weder seinen Kindern, noch seiner Frau, etwas von der Fahrt Fritzens und von der Veranlassung dazu mittheilen.[68] Damit hätte er diese nicht nur unnütz geängstigt, sondern in ihnen jedenfalls auch leere Hoffnungen erweckt. Er sprach also nur von einer genaueren Besichtigung des westlichen Küstenstriches. Als Fritz aber auch nach dreitägiger Abwesenheit noch nicht wieder erschien, beschloß Zermatt, der sich jetzt selbst ängstigte, ihn womöglich aufzusuchen.

Frühmorgens am 20. April lichtete die »Elisabeth« die Anker. Die ganze Familie hatte sich darauf eingeschifft und für die Fahrt reichlich mit allen Bedürfnissen versorgt.

Einen günstigeren Wind, als den eben herrschenden, konnte man sich gar nicht wünschen. Von Südosten wehte eine mäßige Brise, die es ermöglichte, ziemlich dicht am Lande hinzufahren. Am Nachmittage erreichte die Pinasse das Bogengewölbe, das umschifft wurde, und darauf glitt sie in die Perlenbucht hinein.

Zermatt ließ neben der Muschelbank und an der Flußmündung Anker werfen, wo sich noch die Ueberreste des ersten Lagers vorfanden, und alle schickten sich bereits an, ans Land zu gehen. Da rief Ernst erschreckt:

»Ein Wilder!... Ein Wilder!«

In der That bewegte sich ein Canot, augenscheinlich bestrebt, von der Pinasse aus unbemerkt zu bleiben, im Westen der Bucht zwischen den bewaldeten Holmen hin.

Bisher hatte noch nichts darauf hingedeutet, daß die Neue Schweiz bewohnt sein könnte. Aus Vorsorge gegen einen etwaigen Angriff, machte die »Elisabeth« »klar zum Gefecht«. ihre kurzen Kanonen wurden geladen und die Gewehre schußbereit gehalten. Als der vermeintliche Wilde sich aber einmal um mehrere Kabellängen genähert hatte, rief Jack:

»Das ist ja Fritz... unser Fritz!«

Dieser war es in der That. Er saß in seinem Kajak allein. Da er die Pinasse, der er hier zu begegnen ja nicht vermuthen konnte, aus größerer Entfernung nicht gleich erkannte, war er nur vorsichtig weiter gefahren und hatte sich überdies Gesicht und Hände geschwärzt.

Als er dann auf die Pinasse gekommen war und seine Mutter und seine Brüder – nicht ohne auf deren Wangen etwas abzufärben – freudig begrüßt hatte, nahm er seinen Vater etwas zur Seite.

»Es ist mir gelungen! flüsterte er ihm zu.

– Was?... Befindet sich die Engländerin bei dem Rauchenden Felsen?[69]

– Ja, sie ist da... und zwar jetzt auf einer Insel der Perlenbucht, antwortete Fritz. Ich hatte Euch zuerst für Wilde gehalten und wollte mich keiner Gefahr aussetzen...«

Ohne seiner Gattin und seinen Kindern ein Wort zu sagen, steuerte Zermatt die Pinasse jetzt nach der ihm von Fritz bezeichneten Insel im Westen der Bucht. Näher herangekommen, sah man darauf einen Palmenhain, der fast bis ans Ufer reichte, und darin eine Hütte nach Art der Hottentottenwohnungen.

Alle gingen aus Land. Nachdem Fritz hier einen Pistolenschuß in die Luft abgegeben hatte, gewahrten die Ankömmlinge einen jungen Mann, der von einem Baume,. auf dem er sich versteckt gehalten hatte, sehr gewandt herunterkletterte.

Das vorliegende Geheimniß wurde bald enthüllt. Dieses menschliche Wesen – das erste, dem die Schiffbrüchigen vom »Landlord« seit zehn Jahren begegneten – war kein junger Mann, sondern ein junges Mädchen von höchstens zwanzig Jahren, das die Kleidung eines Leichtmatrosen trug. Jenny Montrose war es, die junge Engländerin vom Rauchenden Felsen.

Frau Zermatt, Ernst, Jack und Franz erfuhren nun, unter welchen Umständen Fritz die traurige Lage dieser Unglücklichen auf einer vulcanischen Insel außerhalb der Perlenbucht kennen gelernt, auch daß er mit einigen Zeilen geantwortet hatte, die das junge Mädchen allerdings nicht zu Gesichte bekam, da der Albatros nach dem Rauchenden Felsen nicht zurückgekehrt war.

Wie sollen wir den Empfang schildern, der jetzt Jenny Montrose zu theil wurde, und die Zärtlichkeit, mit der Frau Zermatt sie ans Herz drückte? Jenny sollte ihre Geschichte später erzählen; die der Neuen Schweiz und der Schiffbrüchigen vom »Landlord« war ihr schon durch Fritz bekannt geworden.

Die Pinasse verließ nun mit der ganzen, um die junge Engländerin vermehrten Familie sofort die Perlenbucht. Man sprach dann einmal englisch und einmal deutsch, um sich möglichst zu verständigen. Wie viele Beweise aufrichtiger Zuneigung wurden schon auf dieser Rückfahrt der Geretteten zu theil! Jenny hatte hier ja einen Vater, eine Mutter und mehrere Brüder gefunden. Eine Tochter war es für Zermatt und seine Gattin, eine Schwester für Fritz, Ernst, Jack und Franz, die sie jetzt ihrer geliebten Wohnstätte in Felsenheim zuführten.[70]

Selbstverständlich trug die »Elisabeth« auch die wenigen Geräthe, die sich Jenny selbst angefertigt, und die der Kajak von dem Rauchenden Felsen her mitgebracht hatte. Es war ja zu natürlich, daß die arme Verlassene besonderen Werth auf diese Gegenstände legte, die für sie schmerzliche und doch theuere Andenken bildeten.

Auch von zwei lebenden Wesen, zwei getreuen Begleitern, wollte sich das junge Mädchen auf keinen Fall trennen – von einem zum Fischfange abgerichteten Cormoran und einem gezähmten Schakal, der sich mit dem Jacks gewiß gut vertragen würde.

Von der Abfahrt an wurde die »Elisabeth« durch eine frische Brise begünstigt, die alle ihre Segel zu benützen erlaubte. Die Witterung erschien so beständig, daß der ältere Zermatt dem Verlangen nicht widerstehen konnte, nach Umschiffung des Caps der Getäuschten Hoffnung der Reihe nach bei allen Anlagen und Bauten auf dem Gelobten Lande anzulegen.

Zuerst geschah das bei der Villa des Prospect-Hill, die auf dem von üppigem Grün bedeckten Hügel lag, welcher Aussicht bis nach Falkenhorst hin gewährte. Hier wurde die Nacht zugebracht... es war eine lange Zeit vergangen, seit Jenny sich eines so friedlichen Schlummers wie in dieser Nacht erfreut hatte.

Fritz und Jack waren dann gleich am frühesten Morgen mit dem Kajak abgefahren, um in Felsenheim alles zur Aufnahme der jungen Engländerin vorzubereiten. Nach ihnen stieß auch die Pinasse wieder vom Ufer und legte darauf an der Walfischinsel an, die von vielen Kaninchen bevölkert war. Der ältere Zermatt überwies Jenny die kleine Insel als Eigenthum, ein Geschenk, das mit großem Danke angenommen wurde.

Von hier aus hätten die Insassen der »Elisabeth« ihren Weg vollends zu Lande zurücklegen und dabei die Meierei von Waldegg und die in der Luft, d. h. auf jenem Riesenbaume gelegene Wohnung Falkenhorst besuchen können. Zermatt und seine Gattin wünschten aber, das Vergnügen, die neue Lebensgefährtin dahin zu führen, ihrem Fritz zu überlassen.

Die Pinasse segelte also weiter längs des Ufers bis zum Schakalbache hin. Schon als sie in die Rettungsbai einfuhr, wurde sie durch eine Salve von drei Kanonenschüssen von der Batterie der Haifischinsel begrüßt. Gleichzeitig hißten Fritz und Franz die roth und weiße Flagge zu Ehren des jungen Mädchens.


Der junge Mann bemerkte ein Stück grobes Segeltuch. (S. 63.)
Der junge Mann bemerkte ein Stück grobes Segeltuch. (S. 63.)

Nachdem diese Salve mit den zwei kleinen Stücken der Pinasse erwidert worden war, stieß Zermatt in demselben Augenblick ans Ufer, wo Fritz und Jack aus dem Kajak stiegen, und nun ging die ganze wiedervereinigte Familie das Land hinauf, um nach Felsenheim zu gelangen.[71]


 Ein Wilder!... Ein Wilder!« (S. 69.)
Ein Wilder!... Ein Wilder!« (S. 69.)

Jenny war nicht wenig überrascht, als sie den kühlen, mit freundlichem Grün geschmückten Raum betrat und die Einrichtung und Ausstattung der einzelnen Abtheilungen darin betrachtete; noch mehr aber, als sie im Speisezimmer die große Tafel erblickte, die Fritz und sein Bruder zurecht gemacht[72] hatten, das Porzellangeschirr, die Trinkschalen aus Bambusrohr, die Schüsseln aus Cocosnuß, die Tassen aus Straußeneiern und daneben die Bestecke europäischer Herkunft, die einst vom »Landlord« geborgen worden waren.

Die Mahlzeit bestand aus frischen Fischen, einem Geflügelbraten, einem Wasserschweinschinken und aus Früchten verschiedener Art, wozu Meth und Canarienwein als angenehme Getränke aufgetragen waren.

Jenny Montrose bekam bei Tische den Ehrenplatz zwischen Herrn und Frau Zermatt. Und neue Thränen perlten ihr aus den Augen, warme Freudenthränen,[73] als sie ein oben über die Tafel gespanntes und mit Blumen geschmücktes Band gewahrte und darauf die Worte las:

»Ein Lebehoch für Jenny Montrose!... Gesegnet sei ihr Erscheinen in dem Gebiete des schweizerischen Robinson!«

Das junge Mädchen erzählte nun ihre Geschichte.

Jenny war die einzige Tochter des Majors William Montrose, eines Officiers der indischen Armee, und hatte von der frühesten Kindheit an ihren Vater von Garnison zu Garnison begleitet. Ihrer Mutter schon im Alter von sieben Jahren beraubt, war sie unter der Fürsorge ihres Vaters mit dem Ziele erzogen worden, sie für die Kämpfe des Lebens zu befähigen, wenn sie einmal ihre letzte Stütze auf Erden verlieren sollte.

Neben der Unterweisung in allem, was für ein junges Mädchen wissenswerth erschien, wurde sie vorzüglich zu stärkenden Körperübungen angehalten, vor allem zum Reiten und zur Jagd, wofür sie übrigens eine für ihr Geschlecht ungewöhnliche Vorliebe zeigte.

In der Mitte des Jahres 1812 erhielt der inzwischen zum Oberst ernannte Major Montrose den Befehl, nach Europa an Bord eines Kriegsschiffes zurückzukehren, das Veteranen der englisch-indischen Armee wieder in die Heimath befördern sollte.

Zur Führung eines Regiments auf einer Expedition in weiter Ferne berufen, kehrte er von dieser, aller Wahrscheinlichkeit nach, nur zurück, um seinen Abschied zu nehmen. Seine zur Zeit siebzehnjährige Tochter war deshalb genöthigt, in ihr Vaterland zurückzukehren, wo sie bei einer in London wohnenden Tante, einer Schwester des Obersten, Aufenthalt nehmen sollte. Hier hatte sie gedacht, die Rückkehr ihres Vaters abzuwarten, der dann endlich von den Strapazen eines so lange Zeit dem Heeresdienst gewidmeten Lebens ausruhen sollte.

Da Jenny sich nicht wohl an Bord eines zum Truppentransport bestimmten Fahrzeugs einschiffen konnte, vertraute sie ihr Vater, der ihr noch eine Dienerin mitgab, einem seiner Freunde, dem Kapitän Greenfield an, der den »Dorcas« befehligte. Dieses Schiff segelte einige Tage vor dem ab, das den Oberst heimführen sollte.

Seine Fahrt gestaltete sich schon von Anfang an recht schlimm. Kaum über den Golf von Bengalen hinausgekommen, gerieth es in Stürme, die mit ganz ungewöhnlicher Wuth auftraten; ferner wurde es von einer französischen Fregatte[74] verfolgt, und diese zwang den »Dorcas«, im Hafen von Batavia Schutz zu suchen.

Als der Feind diese Meeresgegend verlassen hatte, ging der »Dorcas« wieder unter Segel und schlug den Curs nach dem Cap der Guten Hoffnung ein. Dabei wurde seine Fahrt aber durch rauhes Wetter und grobe See außerordentlich gestört und ungünstige Winde hielten ihn lange Zeit zurück. Schließlich wurde der »Dorcas« sogar durch einen starken Südweststurm gänzlich aus seinem Curs verschlagen. Eine ganze Woche hindurch konnte der Kapitän kein Besteck machen (d. h. bestimmen, an welcher Stelle das Schiff sich befand). Er hätte also nicht anzugeben vermocht, nach welchem Theile des Indischen Oceans sein Schiff getrieben worden war, als es in der Nacht plötzlich gegen eine Klippe stieß.

In geringer Entfernung zeigte sich eine unbekannte Küste und sofort sprang die Mannschaft in die große Schaluppe, um dahin zu gelangen. Jenny Montrose, ihre Dienerin und einige Passagiere nahmen im zweiten Boote Platz. Das Schiff begann schon zu bersten, es galt also, schnell davon fortzukommen.

Eine halbe Stunde später kenterte das zweite Boot unter einer furchtbaren Woge, während das erste in der stark dunstigen Luft verschwunden war.

.Als Jenny, die ohnmächtig geworden war, wieder zum Bewußtsein kam, sah sie sich auf einem Strande, wohin die Wellen sie geworfen hatten, und anscheinend als einzige Ueberlebende aus dem Schiffbruch des »Dorcas«.

Wie viel Zeit seit dem Untergange des Bootes verstrichen war, hätte das junge Mädchen unmöglich sagen können. Es erschien als ein wahres Wunder, daß sie noch Kraft genug fand, sich nach einer naheliegenden Höhle zu schleppen, wo sie einige Eier verzehrte und dann vor Erschöpfung einschlummerte.

Nach langem Schlafe erhob sie sich endlich wieder. Jetzt trocknete sie an der Sonne zuerst die Mannskleidung, die sie im Augenblicke des Schiffsunfalles angelegt hatte, um in ihrer Bewegung weniger behindert zu sein. In einer Tasche hatte sie auch einen Feuerstahl gefunden, der es ihr ermöglichte, dürre Blätter und dergleichen in Brand zu setzen.

Bei einem Gange längs des Inselstrandes konnte Jenny von ihren früheren Reisegefährten niemand entdecken. Nur Schiffstrümmer lagen verstreut umher... einige Holzstücke, die sie zur Unterhaltung ihres Feuers benützte.

Das junge Mädchen erfreute sich trotz ihrer mißlichen Lage einer solchen körperlichen und seelischen Energie – wohl infolge ihrer fast männlichen[75] Erziehung – daß sie auch jetzt keineswegs verzweifelte. Sofort ging sie an die Einrichtung der Höhle. Einige Nägel, die sie aus Trümmern des »Dorcas« löste, bildeten zunächst freilich ihre einzigen Werkzeuge. Mit den Händen sehr geschickt und erfindungsreichen Geistes, gelang es ihr aber doch, damit die allernothwendigsten Gegenstände anzufertigen. So stellte sie sich einen Bogen her und fertigte sich einige Pfeile, um Haar- und Federwild zu erlegen, das auf dieser Küste sehr reichlich vorhanden war, und damit ihre tägliche Nahrung zu sichern. Sie fing sogar einige Thiere, die sich zähmen ließen, und zwar einen Schakal und einen Cormoran, welche sich bald gewöhnten, sie zu begleiten.

Inmitten der kleinen Insel, auf die das Meer die junge Schiffbrüchige geworfen hatte, erhob sich ein vulcanischer Berg. aus dessen Krater Rauch und Flammen emporstiegen. Als Jenny bis nahe an seinen, etwa hundert Toisen über das Meer aufragenden Gipfel hinausgegangen war, hatte sie am Horizonte kein weiteres Land sehen können.

Der ungefähr zwei Lieues im Umfange messende Rauchende Fels zeigte nur an der Ostseite ein enges Thal, durch das sich ein kleiner Bach hinschlängelte. Gegen verheerende Winde geschützte Bäume verschiedener Art verhüllten es mit ihren dichtbelaubten Kronen. Auf einem hierunter befindlichen Mango-(Leuchter-)Baum richtete sich Jenny ein dürftige Wohnung ein, ganz wie es die Zermatt'sche Familie mit ihrer Wohnstätte Falkenhorst gethan hatte.

Die Jagd in der Umgebung des Thales und der Fischfang im Bache und zwischen den Uferfelsen, den sie mittels einfacher, aus Nägeln hergestellter Angelhaken betrieb, ferner eßbare Schotenfrüchte und Beeren, die ihr verschiedene Büsche lieferten, und endlich mehrere in den drei auf den Schiffbruch folgenden Tagen aus Land geworfene Kisten mit Conserven nebst einigen Fäßchen mit Wein gestatteten der jungen Engländerin eine willkommene Abwechslung in ihrer Nahrung, die anfänglich aus Wurzeln und Muschelthieren bestanden hatte.

Wie lange lebte nun Jenny Montrose in dieser Weise auf dem Rauchenden Felsen, bis endlich der Tag ihrer Erlösung kam?

Zuerst hatte sie gar nicht daran gedacht, weder die Tage, noch die Wochen zu zählen. Dadurch aber, daß sie sich an gewisse Vorkomnisse erinnerte und für diese die dazwischen vergangene Zeit berechnete, gelang es ihr, die seit dem Untergange des »Dorcas« verstrichenen Monate annähernd genau zu bestimmen. Ihrer Ansicht nach hatte ihr Aufenthalt hier gegen zweiundeinhalb Jahre gedauert, und damit mochte sie wohl recht haben.[76]

So viele Wochen lang, in der Regenzeit wie in der heißen Jahreszeit, war kein Tag vergangen, ohne daß das junge Mädchen den weiten Horizont überblickt hatte, doch niemals hob sich ein Segel von dem Himmel dahinter ab. Vom höchsten Punkte der Insel aus und bei heiterer Witterung glaubte sie jedoch im Osten Land zu erkennen. Doch wie hätte sie dahingelangen können, und welches Land mochte es wohl sein?

Herrschte hier innerhalb der Tropenzone auch niemals eine strengere Kälte, so hatte Jenny doch in der Regenzeit recht schwer zu leiden. Sie mußte sich dann in der gleich am ersten Tage entdeckten Höhle aufhalten und konnte niemals jagen oder fischen gehen, so daß ihr zuweilen ein empfindlicher Nahrungsmangel drohte. Zum Glück konnte sie mit Eiern, die sich zahlreich zwischen nahen Felsenspalten fanden, mit Muscheln, die sie dicht am Fuße der Höhle einsammelte, und mit mancherlei für diese Zeit aufbewahrten Früchten wenigstens ihr Leben fristen.

Kurz, jedenfalls waren schon mehr als zwei Jahre verstrichen, als ihr – gleich einer Eingebung des Himmels – der Gedanke kam, am Fuße eines Albatros, den sie gefangen hatte, ein Stück Leinen mit der Mittheilung ihrer Existenz auf dem Rauchenden Felsen zu befestigen. Die Lage dieses Felsens auch nur anzudeuten, war sie freilich nicht imstande. Sobald sie den Vogel freigelassen hatte, flog dieser in der Richtung nach Nordosten davon, kehrte wahrscheinlich aber niemals nach dem Rauchenden Felsen zurück.

Mehrere Tage vergingen, ohne daß er wieder erschien. Die schwache Hoffnung, die das junge Mädchen auf diesen Versuch gesetzt hatte, war allmählich erloschen. Dennoch wollte sie nicht verzweifeln. Wurde die ersehnte Hilfe ihr nicht auf diesem Wege zu theil, so würde sie schon auf einem anderen kommen.

So lautete der eingehende Bericht, den Jenny der Familie Zermatt erstattete. Wiederholt lockte sie dabei den Anderen Thränen aus den Augen, denn es war unmöglich, ihr ohne tiefe Rührung zuzuhören, und immer wieder küßte Betsie die ihr neugeschenkte Tochter, um ihre feuchten Augen zu verbergen.

Nun war noch von Fritz zu hören, wie er den Rauchenden Felsen gefunden hatte.

Wie der Leser schon weiß, war Fritz beim Verlassen der Perlenbucht in seinem Kajak der Schaluppe zuerst vorausgefahren und hatte seinem Vater dann einen Zettel eingehändigt, mit dem er ihm mittheilte, daß er sich zur Aufsuchung[77] der jungen Engländerin aufmachen wolle. Nachdem die beiden Fahrzeuge das Bogengewölbe passirt hatten, folgte er nicht weiter der Küste im Osten, sondern schlug die entgegengesetzte Richtung ein.

Der Küstenstrich war mit Rissen übersäet und wurde von gewaltigen Felsmassen eingerahmt. Hinter diesen zeigten sich ebenso prächtige Bäume, wie die bei Waldegg oder bei Eberfurt. Zahlreiche Wasserläufe ergossen sich im Grunde kleiner Einbuchtungen. Diese nordwestliche Küste glich im übrigen aber nicht der, die sich zwischen der Rettungs- und der Nautilusbucht hin ausdehnte.

Die am ersten Tage sehr starke Wärme nöthigte Fritz, einmal anzulegen und im Schatten Erquickung zu suchen. Er mußte dabei auch nicht geringe Vorsicht beobachten, denn mehrere Flußpferde, die sich an den Mündungen der Wasserläufe tummelten, hätten seinen Kajak gar zu leicht zerstören können.

Sobald er nahe dem Saume eines dichten Gehölzes ans Land gegangen war, zog er deshalb sein leichtes Boot bis an den Fuß eines Baumes heraus. Dann übermannte ihn aber die Müdigkeit und er fiel in tiefen Schlaf.

Vom nächsten Morgen an wurde die Fahrt wieder bis zur Mittagszeit fortgesetzt. Bei dem Halt, den er dann machte, mußte sich der junge Mann des Angriffes eines Tigers erwehren. Es glückte ihm, das gefährliche Raubthier an der Seite schwer zu verwunden, während sein Adler diesem die Augen auszuhacken suchte. Zwei Pistolenschüsse machten dem Tiger dann vollends den Garaus.

Zum großen Kummer für Fritz sah dieser aber, daß der Adler, dem ein Tatzenschlag den Leib aufgerissen hatte, auch todt war. Er mußte den armen Blitz also im Sande verscharren und bestieg dann wieder sein Boot, ganz untröstlich, einen so treuen Jagdgefährten eingebüßt zu haben.

Am zweiten Tage ruderte Fritz immer längs des Ufers hin, doch verrieth nach der Seeseite zu noch keine Dampfwolke das Vorhandensein des Rauchenden Felsens. Da das Meer auffallend ruhig war, beschloß der junge Mann, sich weiter darauf hinauszuwagen, um zu sehen, ob vielleicht am südwestlichen Horizonte eine Rauch- oder Dampfwolke aufstiege. Er steuerte den Kajak also in dieser Richtung hin. Dessen kleines Segel wurde von günstigem Landwinde geschwellt. Nach zweistündiger Fahrt gedachte er eben umzukehren, als er eine leichte, aufsteigende Wolke zu bemerken glaubte.

Fritz vergaß darauf alles, seine Erschöpfung, die Beängstigung, die sein langes Ausbleiben in Felsenheim hervorrufen mußte, und ebenso die ihm selbst[78] drohende Gefahr, wenn er sich so weit aufs Meer hinaus begab. Mit Hilfe der Pagaien flog der Kajak jetzt über das Wasser hin. Eine Stunde später befand er sich etwa noch sechs Kabellängen von einer Insel entfernt, die ein vulcanilcher Berg überragte, aus dem mit Rauch gemischte Flammen emporzüngelten.

Die Ostküste der Insel erschien ganz dürr und unfruchtbar. Weiterhin sah Fritz aber, daß sie durch die Mündung eines Baches unterbrochen war, der aus einem frischgrünen Thale herabkam.

Da trieb er den Kajak in einen schmalen Landeinschnitt und zog ihn hier auf das Uferland.

In seiner Nähe bemerkte er zur Rechten eine Grotte, an deren Eingange eine menschliche Gestalt in tiefem Schlummer lag.

Ergriffen und doch auch erfreut betrachtete Fritz die arme Verlassene. Es war ein junges Mädchen von siebzehn bis achtzehn Jahren und bekleidet mit grobem Leinenstoff, der offenbar von einem Segel herrührte, doch sauber und für sie recht gut passend bearbeitet erschien. Ihre Züge waren reizend, ihr Gesichtsausdruck unendlich mild. Fritz wagte nicht, sie zu wecken, und doch winkte ihr ja die Erlösung, wenn sie die Augen aufschlug.

Endlich erwachte das junge Mädchen. Beim Anblicke eines Fremden konnte sie einen Aufschrei der Ueberraschung und des Erschreckens nicht unterdrücken.

Fritz beruhigte sie durch eine Handbewegung.

»Fürchten Sie nichts, Miß, redete er sie in englischer Sprache an, ich thue Ihnen nichts zu Leide... ich bin nur gekommen, um Sie zu retten.«


Ergriffen und erfreut betrachtete Fritz die arme Verlassene. (S. 79.)
Ergriffen und erfreut betrachtete Fritz die arme Verlassene. (S. 79.)

Und ehe sie noch zu antworten vermochte, erzählte er ihr, wie ihm ein Albatros in die Hände gefallen sei, ein Albatros mit der schriftlichen Mittheilung, daß eine junge Engländerin am Rauchenden Felsen um Rettung flehe. Er sagte ihr auch, daß sich nur wenige Lieues weit im Osten ein Land befinde, wo eine ganze Familie von Schiffbrüchigen lebe.

Das junge Mädchen sank erst in die Knie, um Gott ihren Dank darzubringen, dann reichte sie ihrem Retter die Hände, um auch diesem zu danken. Hierauf erzählte sie mit kurzen Worten ihre Geschichte und lud Fritz ein, in ihre dürftige Unterkunftsstätte mit einzutreten.

Mit dem Vorbehalte, daß dieser Besuch nicht lange dauere, nahm Fritz die Einladung an. Die Zeit drängte und ihn verlangte danach, die junge Engländerin nach Felsenheim zu bringen.[79]

»Morgen, erwiderte sie, morgen fahren wir ab, Herr Fritz! Lassen Sie mich noch einen Abend verbringen auf diesem Rauchenden Felsen, den ich, will's Gott, doch nie mehr wiedersehen werde!

– Also morgen,« antwortete der junge Mann.

Von den Mundvorräthen Jennys und denen, die sich im Kajak befanden bereiteten sie sich ein Abendessen und erzählten dabei einander ihre außergewöhnliche Geschichte. Nach einem stillen Gebete zog sich Jenny zuletzt nach dem Hintergrunde der Grotte zurück, während Fritz sich – gleich einem treuen Wachthunde[80] – an deren Eingange niederlegte. Mit Tagesanbruch wurden dann die wenigen Gegenstände, von denen Jenny sich nicht trennen wollte und auch ihr Schakal und ihr Cormoran, im Kajak untergebracht.


Ernst.
Ernst.

Das junge Mädchen, das jetzt wieder Männerkleidung trug, nahm auf dem hinteren Sitze des leichten Fahrzeuges Platz.

Das Segel wurde gehißt, die Pagaien peitschten das Wasser, und schon eine Stunde darauf verloren sich am Horizonte die letzten Spuren vom Rauchenden Felsen.[81]

Fritz beabsichtigte, den kürzesten Weg nach dem Cap der Getäuschten Hoffnung einzuhalten; der stark beladene Kajak war aber gegen eine Unterwasserklippe gestoßen und mußte zur Weiterfahrt erst ausgebessert werden. Fritz steuerte deshalb in die Perlenbucht hinein und brachte seine Schutzbefohlene hier auf ein Eiland, von wo aus die Pinasse diese aufgenommen hatte.

Das war es, was Fritz zu berichten wußte.

Inzwischen ging das Leben, zuweilen in Falkenhorst und zuweilen in Felsenheim, in gewohnter Weise weiter, gestaltete sich aber nur noch glücklicher, seit Jenny Montrose in die ehrbare, fleißige Familie mit eingetreten war. Mit der Unterhaltung der Meiereien und der Pflege der Thiere verstrichen die Wochen bei anregender Thätigkeit. Jetzt verband schon eine schöne Obstbaumallee den Schakalbach mit dem »Schlosse« Falkenhorst, und auch in Waldegg, Zuckertop, bei der Einsiedelei Eberfurt und auf dem Prospect-Hill waren mancherlei Verschönerungen geschaffen worden. Welch herrliche Stunden gab es da in diesem, aus Bambus nach dem Vorbilde der Schweizerhäuschen erbauten Landhause! Oben, vom Hügel aus, bot sich auf der einen Seite eine weite Aussicht über einen großen Theil des Gelobten Landes, und auf der anderen eine solche bis zu dem acht bis neun Lieues entfernten Horizonte, wo sich Himmel und Wasser berührten.

Dann trat wieder die Regenzeit ein, in der der Monat Juni ungemein reichliche Niederschläge brachte, die dazu nöthigten, Falkenhorst zu verlassen und nach Felsenheim zurückzukehren. Das waren dann zwei bis drei recht beschwerliche Monate, die das oft lange anhaltende schlechte Wetter noch unangenehmer machten.

Einige Gänge nach den Meiereien, die wegen der Versorgung der Thiere nicht gescheut werden durften, und gelegentlich eine kurze Jagd, auf die Fritz und Jack, doch nur in der nächsten Umgebung von Felsenheim, auszogen, das war alles, was jeden Tag unter freiem Himmel ausgeführt werden konnte.

Trotzdem blieb die kleine Welt hier nicht etwa müßig. Frau Zermatt leitete die häuslichen Arbeiten, und Jenny unterstützte sie dabei mit angelsächsischer Findigkeit, die der schweizerischen Gewohnheitsmäßigkeit oft recht zu gute kam.

Während sich ferner das junge Mädchen von dem älteren Zermatt die deutsche Sprache zu erlernen bemühte, lernte die Familie von ihr die englische Sprache, die Fritz schon nach einigen Wochen recht gut beherrschte. War es[82] denn ein Wunder, daß er von seinen Lectionen so großen Nutzen zog, wo er einen ihm so angenehmen Lehrer hatte?

Niemand klagte also besonders über die langen Tage der Regenzeit. Die Gegenwart Jennys verlieh ja den Abenden einen ganz neuen Reiz, und keiner dachte daran, sich zeitig in sein Zimmer zurückzuziehen. Frau Zermatt und Jenny beschäftigten sich dabei vielfach mit Nadelarbeiten, wenn das junge Mädchen, das eine prächtige Stimme hatte, nicht zum Singen aufgefordert wurde. Sie erlernte verschiedene schweizerische Lieder, deren nie veraltende Melodien an die Klänge aus den Bergen der Heimat erinnerten, und es war ein wirklicher Hochgenuß, sie aus ihrem Munde zu hören. Darauf las Ernst noch Das und Jenes vor, wozu er die besten Bücher aus der Bibliothek benützte, und so schien die Stunde der Ruhe allen stets zu früh zu schlagen.

Zermatt, seine Gattin und seine Kinder fühlten sich bei diesem trauten Beisammensein so glücklich wie möglich, wenn sie natürlich auch ihre Sorge um die Zukunft und die sehr schwache Aussicht, daß ihnen von irgendwoher Hilfe kommen könne, und die entfernte Heimat niemals vergaßen. Auch Jenny fühlte sich bei dem Gedanken an ihren Vater wohl oftmals recht bedrückt.

Von dem Schiffe, das sie heimführen sollte, dem »Dorcas«, hatte man nicht das geringste wieder gehört und mußte wohl annehmen, daß es bei einem Cyclon im Indischen Meere mit Mann und Maus untergegangen sei. Vollkommen kann ja auch nie das Glück Derer sein, die in der Einsamkeit zu leben gezwungen sind, denen jede Verbindung mit ihresgleichen abgeschnitten ist, und das traf doch nach allen Seiten für niemand mehr zu als für die Bewohner der Neuen Schweiz, für die einzigen Ueberlebenden aus dem Schiffbruche des »Landlord«.

Der Leser weiß schon, welch unerwarteter Zwischenfall diese Sachlage so gründlich ändern sollte.[83]

Quelle:
Jules Verne: Das zweite Vaterland. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXXVII–LXXVIII, Wien, Pest, Leipzig 1901, S. 68-84.
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