Zweiundzwanzigstes Capitel.
Der Einzug. – Die erste Nacht auf dieser Küste. – Fritz und Jenny. – Besserung im Zustande des Kapitäns Gould. – Verhandlungen. – Die Ersteigerung des Steilufers unmöglich. – Die Nacht vom 26. zum 27. October.

[320] Ein besseres Unterkommen als in dieser Höhle wäre kaum zu finden gewesen. Die verschiedenen Nischen an der Innenwand gestatteten jedem, sich nach Bedürfniß von den anderen abzuschließen.

Daß diese ungleich tiefen Nischen auch während des Tages fast finster waren und auch die Höhle selbst halb dunkel blieb, hatte ja nicht viel zu bedeuten, da man sich, außer bei schlechtem Wetter, doch nur die Nacht über darin aufhielt. Auch Harry Gould sollte jeden Morgen hinausgetragen werden, um ihm den Genuß der belebenden salzhaltigen Luft und des wohlthätigen Sonnenscheines zu ermöglichen.

Im Innern richtete Jenny eine der seitlichen Wandvertiefungen für sich und ihren Gatten ein. James Wolston, seine Frau und der kleine Bob wurden in einer größeren, für alle drei ausreichenden Nische untergebracht. Franz sollte sich, in Gesellschaft mit Harry Gould und dem Obersteuermann, mit einem lauschigen Winkel der Höhle begnügen. An Platz fehlte es also nicht in dieser natürlichen Aushöhlung, deren Tiefe noch nicht einmal bekannt war.

Der Rest des Tages wurde ausschließlich der Ruhe gewidmet. Nach den vielfachen, aufregenden Vorkommnissen der letzten Woche mußten sich die Passagiere der Schaluppe von den so muthvoll ertragenen Beschwerden erst tüchtig erholen.

Daneben galt es doch auch, sich an die neue Lage der Dinge etwas zu gewöhnen. Der Entschluß, etwa vierzehn Tage an dieser Bai zu verweilen, wo ja für die nöthigsten Bedürfnisse nichts zu fehlen schien, war gewiß zu billigen. Auch wenn der Zustand des Kapitäns Gould es nicht erfordert hätte, würde John Block nicht zugestimmt haben, sofort weiter zu fahren. Zunächst galt es, an die Gegenwart zu denken – an die Zukunft erst später.

Und doch, was barg diese in ihrem Schoße, wenn das Land hier nur eine kleine, im Großen Ocean verlorene Insel war, wenn sie sie wieder verlassen und sich in ihrem gebrechlichen Fahrzeug aufs neue den hier so häufigen, mächtigenStürmen aussetzen mußten?... Wie würde ihnen das aufgedrungene Wagniß ausgehen?

Am Abend und nach einer zweiten Mahlzeit, die aus Bouillon. Eiern und Fleisch von Schildkröten bestand, sprach Franz für alle noch ein Gebet, und dann zogen sie sich jeder nach seinem Platze in der Höhle zurück.


Man erkannte, daß man diesen ohne Benützung der Schaluppe nicht umgehen konnte. (S. 312.)
Man erkannte, daß man diesen ohne Benützung der Schaluppe nicht umgehen konnte. (S. 312.)

Dank der Pflege Jennys und Dolls wurde der Kapitän jetzt schon nicht mehr vom Fieber geschüttelt. Auch von seiner, bereits in Vernarbung begriffenen Wunde litt er weit weniger, und es war wohl zu hoffen, daß er nun einer schnellen und vollkommenen Genesung entgegenginge.

Die Nacht über brauchte niemand zu wachen; an diesem öden Strande war weder von Wilden, noch von Raubthieren etwas zu fürchten. Diese düstere, traurige Einöde hatte gewiß noch keines Menschen Fuß betreten. Nur der heisere und melancholische Schrei der nach den Vertiefungen im Steilufer heimkehrenden Seevögel unterbrach die herrschende Stille. Auch der Wind legte sich mehr und mehr und kein Lufthauch rührte sich bis zum Wiederaufgang der Sonne.

Schon mit dem Morgenrothe traten die Insassen der Höhle ins Freie John Block ging als der erste längs des Vorberges nach dem Ufer hinunter und begab sich nach der Stelle wo die Schaluppe lag. Augenblicklich schwamm sie noch, mit weiter vorschreitender Ebbe mußte sie bald auf dem Trockenen liegen. Durch Seile an jeder Seite festgehalten, war sie selbst beim höchsten Wasserstande nicht gegen die Felsen gestoßen, und so lange der Ostwind stand, lief sie auch keinerlei Gefahr. Für den Fall, daß die Brise nach Süden umschlug, sollte ein anderer Ankerplatz für das Fahrzeug gesucht werden. Das Wetter schien aber sehr beständig zu sein, und überdies war jetzt die schöne Jahreszeit.

Bei der Rückkehr begegnete der alte Seemann Fritz und sprach mit ihm über dieses Thema.

»Ich meine, es verlohnt sich der Mühe, sagte er, daran bei Zeiten zu denken. Das Boot ist für uns doch das wichtigste. Eine wohlverwahrte Grotte... na ja, die ist recht schön, man kann aber nicht an Bord einer Grotte übers Meer fahren, und wenn dafür die Stunde geschlagen hat, dürfen wir doch nicht daran verhindert sein.

– Natürlich nicht, Block, sagte Fritz, und wir werden auch dafür sorgen, daß die Schaluppe keine Havarie erleidet. Vielleicht findet sich an der anderen Seite des Vorberges ein noch besserer Ankerplatz.[323]

– Das werden wir sehen, Herr Fritz, und da auf dieser Seite hier alles gut steht, werde ich nach der anderen hinübergehen, um Schildkröten zu fangen. Wollen Sie mich nicht begleiten?

– Nein, Block, gehen Sie nur allein. Ich begebe mich zum Kapitän zurück; die ungestörte Nachtruhe wird wohl sein Fieber vollends besiegt haben. Wenn er erwacht, wird er sich gewiß zu unterrichten wünschen, wie es mit uns steht, und ich möchte ihm darüber Aufschluß geben.

– Ganz recht, Herr Fritz, ganz recht; sagen Sie ihm nur auch, daß vorläufig nicht das geringste zu fürchten ist.«

Der Obersteuermann begab sich nach dem Ende des Vorberges, sprang da von Felsblock zu Felsblock, stieg dann nach der Einbuchtung hinunter und wendete sich schließlich nach der Stelle, wo Franz und er am Tage vorher auf die Schildkröten getroffen waren.

Fritz schritt wieder der Grotte zu, in deren Nachbarschaft Franz und James beschäftigt waren, neuen Vorrath an trockenem Tang zu sammeln. Frau Wolston kleidete den kleinen Bob an.

Jenny und Doll waren noch beim Kapitän. In dem Winkel am Vorberge knisterte das Feuer im Kochofen, der Kessel fing an zu singen und bald drangen weiße Dampfstrahlen daraus hervor.

Als Fritz den Kapitän Gould über alles aufgeklärt hatte, begab er sich mit Jenny nach dem Strande, und nach einigen fünfzig Schritten wendeten beide sich dem Steilufer zu, das sie gleich einer Kerkermauer einschloß.

»Liebe Frau, begann da Fritz mit tiefbewegter Stimme, ich muß mein Herz einmal gegen Dich ausschütten, denn es ist übervoll von dem, was vorgefallen ist, seit ich das Glück hatte, Dich vom Rauchenden Felsen zu retten. Ich sehe uns noch im Kajak, dort... in der Perlenbucht, dann trafen wir die Pinasse und segelten alle vereint nach Felsenheim. Zwei glückliche Jahre sind mir mit Dir bescheert gewesen, voller Freude und Befriedigung über unser stilles, durch nichts gestörtes Leben. Wir waren so glücklich in unseren beschränkten Verhältnissen, daß die Welt außerhalb unserer Insel für uns gar nicht existirte. Wenn es nicht um Deines Vaters willen gewesen wäre, liebste Jenny, so wären wir wohl nicht mit der »Licorne« fortgefahren, hätten wir die Neue Schweiz vielleicht niemals verlassen...

– Wohin willst Du hinaus, lieber Fritz? fragte Jenny, die ihre Erregung zu bemeistern suchte.[324]

– Ach, ich will Dir nur offenbaren, wie bedrückt ich mich im Herzen fühle, seit das Unglück sich gegen uns verschworen hat. Ja, mich martern Gewissensbisse, Dich dazu verleitet zu haben, es mit mir zu theilen.

– Dieses Unglück, antwortete Jenny, solltest Du nicht so sehr fürchten. Darf sich denn ein Mann voll Muth, ein Mann voll Thatkraft der Verzweiflung hingeben?

– Laß mich vollenden, was ich Dir sagen wollte, Jenny. Weit da draußen war eines Tages die »Licorne« im Gewässer der Neuen Schweiz erschienen. Sie ist auch zurückgesegelt und hat uns nach Europa gebracht. Seitdem hat das Unglück Dich unaufhörlich verfolgt. Dein Vater war gestorben, ohne seine Tochter wiedergesehen zu haben...

.. – Mein armer, guter Vater! schluchzte Jenny, sich ihrem Schmerz überlassend. Ja, die Freude, mich in seine Arme zu drücken, ist ihm versagt geblieben, und auch die, meinem Retter dadurch zu danken, daß er unsere Hände ineinander legte... Gott hat es nicht gewollt, Fritz, ihm müssen wir uns fügen!

– Ja gewiß, mein Herz, erwiderte Fritz, doch Du... Du befandest Dich wieder in England, hattest Deine Heimat wiedergesehen... Du konntest dort bei einer Verwandten bleiben, dort die Ruhe finden und das Glück...

– Das Glück? unterbrach ihn Jenny. Ohne Dich, Fritz?

– Und dann, meine Jenny. hättest Du jede neue Gefahr vermieden nach der, der Du wie durch ein Wunder entronnen warst. Und dennoch hast Du Dich bereit erklärt, mir zu folgen, nach unserer Insel zurückzukehren...

– Du vergißt wohl ganz, daß ich Dein Weib bin, Fritz! Hätte ich denn zaudern können, Europa zu verlassen, um da draußen die wiederzusehen, die ich liebe, Deine Familie, Fritz, die ja inzwischen auch die meinige geworden ist?

– O, Jenny, Jenny, es ist darum nicht minder wahr, daß ich Dich in neue Gefahren geführt habe, in Gefahren, an die ich nur mit Entsetzen denken kann... ja, mit Entsetzen, wenn ich mir die Lage vorstelle, in der wir uns befinden! Und Du, Du hattest doch Deinen Antheil an Prüfungen dieser Welt schon reichlich überstanden! O, die Elenden, die an unserem Unglück schuld sind.. die uns verlassen und ausgesetzt haben... die Dich, schon ein Opfer des schiffbrüchigen »Dorcas«, auf ein unbekanntes Land geworfen haben, das noch weniger bewohnbar erscheint, als der Rauchende Fels!

– Ich bin hier aber nicht allein, bin bei Dir, mein herzliebster Mann, bei Deinem Bruder und unseren Freunden, bei entschlossenen Männern, und ich[325] zittere vor den gegenwärtigen Gefahren ebenso wenig, wie vor zukünftigen. Ich weiß, Du wirst alles thun zum Heile aller!

– Alles, mein geliebtes Weib, rief Fritz; doch obwohl der Gedanke, daß Du mit hier bist, meinen Muth verdoppeln müßte, bedrückt mich dieser Gedanke doch gar so sehr, und ich möchte Dir zu Füßen sinken, Dich um Vergebung anflehen! Es ist ja meine Schuld, daß...

– Fritz, fiel die junge Frau, sich ihren Gatten ans Herz werfend, ein, kein Mensch konnte doch voraussehen, was da vorgefallen ist... eine Meuterei an Bord... die Folgen dieser Empörung, auch nicht unsere Aussetzung auf offenem Meere. Ist es nicht besser, die traurigen Erlebnisse zu vergessen und die Augen auf die glücklichen zu richten? Wir konnten von den Meuterern der »Flag« hingemordet, konnten verurtheilt werden, in unserer Schaluppe alle Qualen des Hungers und Durstes auszukosten; wir konnten in einem Sturme umkommen, und doch ist das alles nicht geschehen! Wir haben vielmehr ein Land erreicht, wo es doch nicht an allen Hilfsquellen fehlt und das uns ein hinreichendes Obdach bietet. Wissen wir jetzt noch nicht, welches dieses Land ist, so werden wir das doch zu ergründen suchen, und es auch wieder zu verlassen, wenn das nothwendig wird...

– Um wohin zu gehen, meine arme Jenny?

– Anderswohin, wie unser wackerer Obersteuermann sagen würde, dahin zu gehen, wohin Gott uns führt! Ich vertraue auf ihn, lieber Fritz, wie auf alle unsere Gefährten...

– Ach, liebste Frau, rief Fritz, Deine Worte haben meinen Muth wieder belebt, doch ich hatte das unabweisbare Bedürfniß, das Herz vor Dir auszuschütten. Ja ja, wir werden kämpfen, werden keiner Verzweiflung anheimfallen! Wir werden an die kostbaren Leben denken, die uns anvertraut sind, und werden sie retten, retten mit der Hilfe des Herrn...

– Dessen Güte man nie vergeblich anruft! sagte Franz, der die letzten Worte seines Bruders gehört hatte. Habe nur Vertrauen zu ihm, der Allgütige verläßt seine Kinder nicht!«

Jenny hatte ihrem Gatten mit so großer Zuversicht geantwortet, daß dieser all seine Energie wiedergewann. Durch Muth und Opferwilligkeit konnte sich ja noch alles zum Besten wenden. Daran fehlte es Fritz nicht, und auch die anderen waren gewiß bereit, selbst übermenschliche Anstrengungen auf sich zu nehmen.[326]

Gegen zehn Uhr konnte der Kapitän Gould, da das Wetter sehr schön war, am Ende des Vorberges in den belebenden Sonnenschein gebracht werden. Der Obersteuermann kehrte eben von seinem Ausgange zurück, den er um die Ausbuchtung bis zum Fuße des Hügels im Osten ausgedehnt hatte. Weiter hinaus war nicht zu gelangen. Selbst bei Tiefebbe hätte man vergeblich versucht, den Fuß der von den Strömungen umspülten Uferhöhe zu umgehen.

John Block hatte James schon auf dem Strande getroffen, und beide brachten jetzt Schildkröten und Eier von solchen mit zurück. Die Chelidonier kamen an diesem Theile des Ufers zu Hunderten vor. In Voraussicht einer baldigen Weiterfahrt konnte man leicht große Vorräthe von deren schmackhaftem Fleische ansammeln, das die Ernährung der Passagiere sicherstellte.

Nach dem Frühstück plauderte man von dem und jenem, während Jenny, Doll und Suzan sich mit der Reinigung der benützten Leibwäsche im Wasser des Baches beschäftigten. Bei der starken Luftwärme mußten die Wäschestücke, der Sonne ausgesetzt, sehr bald trocknen. Dann sollten die Kleider ausgebessert werden, damit jeder an dem Tage, wo die Weiterfahrt beschlossen würde, auch zur Abreise fertig wäre.

Die Lage des Landes hier war noch immer unbekannt, und ohne Benützung von Instrumenten ließ sich höchstens dessen geographische Breite durch Beobachtung der Mittagshöhe der Sonne auf einige Grade genau bestimmen. Noch an demselben Tage ergab eine solche Beobachtung, daß das Land, wie der Kapitän Gould schon früher angenommen hatte, zwischen dem vierzigsten und dem dreißigsten Parallelkreise liegen mußte. Welcher Meridian aber es von Norden nach Süden durchschnitt, das nachzuweisen, fehlte es an jedem Mittel, höchstens wußte man, daß die »Flag« nach dem westlichen Theile des Pacifischen Oceans zu gesteuert worden war.

Jetzt handelte es sich zunächst noch darum, das Hochplateau zu ersteigen, da es ja erwünscht schien, vor der völligen Wiederherstellung des Kapitäns Gould darüber klar zu sein, ob die Schaluppe ein Festland, eine Insel oder nur ein Eiland angelaufen habe. Vielleicht war von sieben- bis achthundert Fuß Höhe aus in nicht zu großer Entfernung noch ein anderes Land zu sehen. Fritz, Franz und der Obersteuermann beschlossen deshalb, eine Ersteigung des Steilufers zu versuchen.

Mehrere Tage verstrichen ohne jede Aenderung der Sachlage. Alle empfanden die Nothwendigkeit, eine solche herbeizuführen, freilich mit der Besorgniß, ihre[327] Lage vielleicht gar verschlimmert zu sehen. Das Wetter blieb immer schön. Trotz starker Wärme zeigte sich doch keine Gewitterneigung.

Wiederholt hatten John Block, Fritz und Franz die Ausbuchtung im Westen vom Vorberge bis zu dem Hügel am anderen Ende durchstreift, doch vergebens nach einer Schlucht, einem Einschnitt oder einem sanfteren Abhang gesucht, von wo aus es möglich gewesen wäre, das Oberland zu erreichen. Die lothrechte Felsenwand erhob sich wie die Mauer einer Façade.

Inzwischen nahte die Stunde der völligen Genesung des Kapitäns heran. Seine jetzt vernarbte Wunde war nur noch von einer leichten Binde bedeckt. Die Fieberanfälle hatten sich allmählich abgeschwächt und blieben jetzt gänzlich aus. Die Kräfte des Leidenden nahmen freilich nur sehr langsam zu; immerhin konnte sich Harry Gould bereits ohne fremde Unterstützung auf dem Strande ergehen. Da erörterte er nun mit Fritz und dem Obersteuermann die Aussichten, die eine Weiterfahrt in nördlicher Richtung bieten könnte. Im Laufe des 25. vermochte er sich sogar selbst bis zu dem Hügel im Westen zu begeben, und überzeugte sich hier mit eigenen Augen von der Unmöglichkeit, dessen Fuß zu umgehen.

Fritz, der ihn mit Franz und John Block begleitete, schlug deshalb vor, einfach ins Meer zu springen, um das darüber hinaus gelegene Ufer zu erreichen. Obwohl er ein vortrefflicher Schwimmer war, mußte der Kapitän den tollkühnen jungen Mann wegen der starken Strömung am Hügelfuße doch abhalten, diese gefährliche Absicht auszuführen. Wer konnte wissen, ob Fritz, einmal von der Strömung gepackt, das Ufer wieder zu erreichen vermöchte?

»Nein, sagte der Kapitän, das wäre eine Unklugheit, ein nutzloses Wagniß. Wir werden die Schaluppe zu Hilfe nehmen, um diesen Theil des Ufers zu besichtigen, und von einigen Kabellängen Entfernung aus werden wir es auch in größerer Ausdehnung übersehen können. Leider fürchte ich, daß es sich ebenso unwirthlich wie der uns bekannte Theil des Landes erweisen werde.

– Wir befänden uns demnach, folgerte Franz aus diesen Worten, auf einer Art Eiland?

– Das ist wohl anzunehmen, antwortete Harry Gould.

– Mag sein, setzte Fritz hinzu, vielleicht liegt dieses Eiland aber nicht so allein hier, vielleicht gehört es zu einer im Norden, Osten oder Westen verstreuten Gruppe von Inseln.

– Welcher Gruppe denn, mein lieber Fritz? erwiderte der Kapitän. Wenn die Meeresgegend hier, wie alles anzudeuten scheint, zu den Gewässern Australiens[328] oder Neuseelands gehört, so findet sich keine Inselgruppe in diesem Theile des Pacifischen Oceans.

– Nun, daß die Karten keine solche enthalten, wandte Fritz ein, ist doch noch kein Beweis dafür, daß keine vorhanden wären. Die Lage der Neuen Schweiz war lange Zeit eben so wenig bekannt, und dennoch...


Das Erklimmen des Vorberges war ein sehr gefährliches Unternehmen. (S. 331.)
Das Erklimmen des Vorberges war ein sehr gefährliches Unternehmen. (S. 331.)

– Ja, gewiß, antwortete Harry Gould, das erklärt sich aber durch deren Lage außerhalb der gewöhnlichen Schiffswege. Nur sehr selten kommen Fahrzeuge in den Theil des Indischen Oceans, wo sie liegt, während das Meer im[329] Süden von Australien sehr viel befahren wird, und eine Inselgruppe von nur einiger Bedeutung wäre den Schiffern auf keinen Fall entgangen.

– Da bleibt aber noch immer die Hypothese übrig, meinte Franz, daß wir uns in der Nähe von Neuholland befinden.

– Das ist nicht abzuweisen, antwortete der Kapitän, und es würde mich gar nicht wundern, wenn das Land hier zu seinem südwestlichen Ausläufer, etwa in der Nachbarschaft des Caps Leuwin, gehörte. In diesem Falle hätten wir leider von den wilden Eingeborenen Australiens das schlimmste zu befürchten.

– Es ist auch stets besser, meinte der Obersteuermann, auf einem Eiland und dadurch vor einem Zusammentreffen mit Cannibalen gesichert zu sein.

– Und darüber würden wir uns klar sein, sagte Franz, wenn wir das Steilufer hätten ersteigen können.

– Jawohl, sagte Fritz, leider ist das nur an keiner Stelle möglich.

– Auch nicht über den Rücken des Vorberges hin? fragte der Kapitän Gould.

– Bis zur halben Höhe, erklärte Fritz, wäre das wohl ohne besondere Schwierigkeiten ausführbar, die oberen Wände fallen aber völlig senkrecht ab. Da müßten wir geradezu Leitern zu Hilfe nehmen, und auch solche könnten noch unzureichend sein. In einem Einschnitte und mittels langer Seile könnte man das Plateau vielleicht erreichen; ein Einschnitt, eine Schlucht ist aber nirgends vorhanden.

– So benützen wir also die Schaluppe, um die Küste zu untersuchen, entschied nun Harry Gould.

– Nicht eher, als bis Sie gänzlich hergestellt sind, Herr Kapitän, erklärte Fritz. Wir haben ja einige Tage Zeit...

– O. mein lieber Fritz, ich fühle mich schon weit besser; wie hätte das auch bei der mir gewidmeten Pflege anders sein können? Frau Wolston, Ihre Gattin und Doll hätten mich schon dadurch geheilt, daß sie mich ansahen. Spätestens nach achtundvierzig Stunden unternehmen wir die kleine Fahrt...

– Und steuern nach Osten oder nach Westen? fragte Fritz.

– Das wird auf die Windrichtung ankommen, erwiderte der Kapitän.

– Und ich hoffe, setzte der Obersteuermann hinzu, daß der kleine Ausflug nicht ohne Nutzen für uns sein wird.«

Um hierauf später nicht wieder zurückzukommen, sei gleich noch eingeschaltet, daß Fritz, Franz und John Block das menschenmögliche versucht hatten, den[330] Vorberg zu erklimmen. Etwa zweihundert Fuß hoch waren sie trotz der sehr steilen Abhänge, mitten unter Trümmerstücken von einem Felsblock zum anderen klimmend und mit der Geschmeidigkeit der Gemse bis auf ungefähr ein Drittel der Höhe hinausgelangt... ein sehr gefährliches Unternehmen, bei dem der Obersteuermann bald Hals und Bein gebrochen hätte. Von da aus war aber ein weiterer Aufstieg vollkommen unmöglich. Der Vorberg endete weiter oben mit einer lothrechten Wand aus ganz ebenen Steinplatten. Nirgends bot sich ein Stützpunkt für den Fuß, nirgends ein Vorsprung oder eine Spitze, woran die Haltetaue der Schaluppe hätten befestigt werden können. Bis zur Kante des Steilufers war es aber noch sechs- bis siebenhundert Faß hoch.

Nach der Grotte zurückgekehrt, machte der Kapitän Gould die anderen mit dem gefaßten Beschlusse bekannt. Binnen zwei Tagen, am 27 October, sollte das Fahrzeug seinen Ankerplatz verlassen und längs der Küste hinsegeln. Wäre ein mehrtägiger Ausflug beabsichtigt gewesen, so hätten wohl alle daran theilgenommen. Da es sich aber nur um eine oberflächliche Auskundschaftung handelte, erschien es eigentlich besser, sie nur von dem Kapitän, von Fritz und dem Obersteuermann unternehmen zu lassen. Diese genügten ja zur Führung der Schaluppe und sie würden sich auch nicht mehr als nöthig nach Norden zu entfernen. War das Ufer nur das eines vereinzelt liegenden Eilandes, das vielleicht nur zwei bis drei Lieues Umfang hatte, so würden sie ringsherum fahren und spätestens nach vierundzwanzig Stunden wieder zurückgekehrt sein.

So kurz die Trennung auch sein sollte, verursachte sie bei allen doch einige Unruhe. James Wolston und seine Gattin, Franz, Jenny und Doll würden ihre Gefährten nicht ohne eine gewisse Beklemmung absegeln sehen, wußte doch niemand, was ihnen unterwegs zustoßen könnte. Und wenn sie nun gar von Wilden überfallen wurden... wenn ihre Rückkehr sich verzögerte... wenn sie vielleicht gar nicht wiederkamen?...

Jenny machte ihre Bedenken mit der Energie geltend, die alle ihre Gedanken und Handlungen kennzeichnete. Sie verlangte, daß man zu so vielen Prüfungen und Besorgnissen nicht noch die hinzufügte, die ein vielleicht verlängertes Ausbleiben erzeugen müßte. Fritz begriff ihre Gründe, der Kapitän billigte sie, und schließlich kam man überein, daß alle an der geplanten Ausfahrt theilnehmen sollten.

Dieser Entschluß fand allgemeinen Beifall, und John Block ging deshalb sofort daran, die Schaluppe bestens instand zu setzen. Nicht, daß sie eigentlicher[331] Reparaturen bedurft hätte, denn sie war seit ihrer Aussetzung aufs Meer kaum beschädigt worden, es empfahl sich aber, sie mit allem nothwendigen für den Fall auszurüsten, daß die Fahrt etwa nach einem benachbarten Lande fortgesetzt werden sollte. Der Obersteuermann bemühte sich auch, das kleine Vorderdeck gänzlich abzuschließen, um wenigstens den weiblichen Passagieren Schutz gegen scharfe Winde und überschlagendes Wasser zu gewähren.

Jetzt galt es also nur noch zu warten und Mundvorräthe einzuladen, wenn die Fahrt sich unerwarteterweise verlängerte. Wurde es nöthig, die Schildkrötenbucht endgiltig zu verlassen, so erforderte es die einfache Klugheit, das ohne Säumen zu thun und die schönere Jahreszeit zu benützen, die in diesem Theile der südlichen Halbkugel erst unlängst begonnen hatte. Eine Ueberwinterung hier erschien doch wahrlich nicht wünschenswerth. Wohl bot die Höhle Schutz gegen die Stürme aus Süden, die in diesen Gegenden des Großen Oceans mit furchtbarer Gewalt auftreten, und der Kälte hätte man bei der reichlichen, am Fuße des Steilufers angehäuften Menge dürren Tangs und Seegrases allenfalls Trotz bieten können; würde es dann aber nicht an Schildkröten fehlen und sollte man sich allein auf die Erzeugnisse des Meeres beschränkt sehen? Konnte die Schaluppe denn bis über den Bereich der Wellen hinausgeschafft und im Winter auch der andrängenden Fluth entzogen werden, die offenbar bis zum Hintergrunde des Strandes hinaufschäumte? Harry Gould, Fritz und die anderen hatten ja nur ihre Arme, kein Werkzeug, keinen Hebel, keine Winde, und das Fahrzeug war doch so schwer, daß ihre Kräfte zu seiner Bergung auf dem Lande voraussichtlich nicht hinreichten.

In der jetzigen Jahreszeit waren zum Glück nur vorübergehende Gewitterstürme zu erwarten. Dabei hatten die vierzehn Tage des Aufenthaltes am Lande allen die leiblichen und seelischen Kräfte und eine frohe Zuversicht wiedergegeben.

Die nöthigsten Vorbereitungen waren am Morgen des 26. beendigt. Gegen Mittag bemerkte Fritz mit einiger Unruhe, daß vom Süden her Wolken herauszogen. Trotz ihrer großen Entfernung ließen sie doch eine fahle Färbung erkennen. Ein Luftzug war kaum zu spüren. Die schweren Wolken wälzten sich dicht gedrängt heraus. Wenn das Wetter losbrach, mußte es gerade über die Schildkrötenbucht hinwegziehen.

Bisher hatten die äußersten Felsblöcke vor dem Vorberge die Schaluppe gegen die Ostwinde geschützt. Auch von der anderen Seite hätten die Westwinde[332] ihr wenig anhaben können, da sie, von den Tauen festgehalten, so leicht nirgends anstoßen konnte. Rollten aber hohe Wogen vom offenen Meere herein, so fehlte dem Fahrzeug der Schutz und es konnte vielleicht zertrümmert werden.

An die Aufsuchung eines anderen Ankerplatzes an der Rückseite des Högels oder des Vorberges war gar nicht zu denken. weil hier selbst bei ruhigem Wetter eine heftige Brandung stand.

»Was sollen wir nun thun?« fragte Fritz den Obersteuermann, der freilich auch keinen Rath wußte.

Noch bestand die Hoffnung, daß das Unwetter sich austobte, ehe es die Küste hier erreichte. Lauschte man aufmerksam, so ließ sich trotz der Windstille doch schon ein fernes Grollen hören. Offenbar war das Meer weiter draußen stark aufgewühlt, und auch in der Nähe huschte zuweilen ein leichter Windstoß, der ihm eine bleigraue Färbung verlieh, darüber hin.

Harry Gould betrachtete den Horizont.

»Wir sind von einem schlimmen Wetter bedroht, sagte Fritz zu ihm.

– Das fürchte ich auch, antwortete Harry Gould, von einem schlimmeren, als wir es erwarten konnten.

– Herr Kapitän, mischte sich der Obersteuermann ein, jetzt ist aber nicht die Zeit, die Hände in den Schoß zu legen, jetzt heißt's: die Arme einölen, wie die Matrosen sagen.

– Wir wollen versuchen, die Schaluppe weit auf den Strand herauf zu schleppen, drängte Fritz, der nach James und seinem Bruder rief.

– Ja, versuchen wir das, stimmte Harry Gould ein, die steigende Fluth wird uns dabei unterstützen. Inzwischen wollen wir unser Fahrzeug so viel wie möglich erleichtern.«

Das war jedenfalls das einzige, was zu thun war. Alle gingen an die Arbeit, die Segel wurden auf den Ufersand geworfen, der Mast niedergelegt, das Steuer ausgehoben, Bänke und Spieren ausgeladen und in die Höhle geschafft.

Als das Wasser den höchsten Stand erreicht hatte, konnte die Schaluppe gegen zehn Toisen weiter herausgezogen werden. Um sie aber gegen den Anprall der Wellen zu sichern, mußte sie wenigstens um das Doppelte aufs Land hinauf geschleppt werden.

Mangels anderer Hilfsmittel, ließ der Obersteuermann Planken unter ihren Kiel legen, worauf sie leichter hingleiten könnte, und alle vereinigten sich nun,[333] sie von der Stelle zu ziehen. Vergebliche Mühe! Das schwere, zum Theil im Sande liegende Fahrzeug rückte nicht einen Fuß weiter über die letzte Fluthgrenze hinaus.

Gegen Abend drohte der Wind sich zum Orcan zu entwickeln. Aus den am Zenith angehäuften massigen Wolken zuckten häufige Blitze hernieder, denen furchtbare, vom Echo am Steilufer noch verstärkte Donnerschläge folgten

Obwohl die Schaluppe bei fortschreitender Ebbe jetzt schon hätte wieder trocken liegen sollen, stürmten die höher angeschwollenen Wogen doch unter ihr dahin und hoben sie wenigstens am Hintertheile in die Höhe.

Jetzt stürzte auch der Regen in großen, gleichsam mit Luftelektricität geladenen Tropfen herab, die beim Aufschlagen auf den Ufersand zu explodiren schienen.

»Meine liebe Jenny, sagte Fritz, Du darfst nicht länger mehr hier draußen bleiben. Ich bitte Dich... geh' in die Grotte zurück, auch Sie, Doll, und Sie ebenfalls, Frau Wolston.«

Jenny wollte ihren Mann nicht gern verlassen, doch jetzt mischte sich auch der Kapitän ein.

»Ziehen Sie sich zurück, Frau Zermatt, sagte er.

– Und Sie, Herr Kapitän, erwiderte die junge Frau, Sie sollten sich doch mehr schonen!

– Ich habe nichts mehr zu befürchten, entgegnete Harry Gould.

– Jenny... ich wiederhole Dir... geh' zurück... es ist die höchste Zeit!« sagte Fritz.

Jenny, Doll und Suzan flüchteten nach der Höhle in dem Augenblick, wo der mit Hagelkörnern vermischte Regen in Masse herabzustürzen anfing.

Harry Gould, der Obersteuermann, Fritz, Franz und James, die bei dem Fahrzeuge blieben, hatten große Mühe, sich gegen den über den Strand hinfegenden Sturm aufrecht zu halten. Schon hüllte der Wasserstaub der überbrechenden Wogen die ganze Bucht in einen dichten, feuchten Schleier.

Die Lage war gefährlich angesichts der Ungewißheit, ob die Schaluppe bei den heftigen Stößen, die sie von einer Seite zur anderen warfen, würde festgehalten werden können. Wenn sie zertrümmert wurde, wie sollten dann Harry Gould und die übrigen vor dem Winter von dieser Küste wegkommen können?

Sie standen alle fünf beisammen, und wenn das weiter herausschlagende Wasser das Fahrzeug aufhob, klammerten sie sich an die Bordwände, um es an der Stelle zu halten.[334]

Bald tobte das Gewitter in voller Wuth. Gleich von zwanzig Punkten zischten die Blitze hervor. Wenn ein Strahl die Vorberge traf, hörte man abgesprengte Felstrümmer auf die Tanganhäufung herunterpoltern. Ach, wenn die Blitze doch das Steilufer gespalten. eine Bresche hineingelegt hätten, wie ein schweres Geschoß in eine Mauer... eine Bresche, die es ermöglicht hätte, bis zum oberen Theile der Wand zu gelangen!

In diesem Augenblicke wälzte sich eine vom Orcan aufgethürmte, fünfundzwanzig bis dreißig Fuß hohe Riesenwoge einer Wasserhose ähnlich über den Strand.

Von dem mächtigen Schwalle gepackt, wurden die Männer bis zu dem Seegrashaufen im Hintergrunde zurückgeschleudert, und es war ein Wunder zu nennen, daß keiner davon mit weggeschwemmt wurde, als das Wasser wieder ins Meer zurücksank.

Das schon gefürchtete Unglück war jetzt aber geschehen. Von ihrem Lager gerissen, war die Schaluppe erst auf das Uferland geworfen und dann gegen die äußersten Felsblöcke des Vorberges geschleudert worden. Dabei war sie zerbrochen, und ihre, kurze Zeit in dem Schaume der Brandung schwimmenden Trümmer verschwanden hinter der Erhebung.

Quelle:
Jules Verne: Das zweite Vaterland. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXXVII–LXXVIII, Wien, Pest, Leipzig 1901, S. 320-321,323-335.
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