Vierundzwanzigstes Capitel.
Ein Gespräch über den Albatros. – Gutes Einvernehmen zwischen dem kleinen Bob und dem Vogel. – Anfertigung von Kerzen. – Ein neuer Gegenstand des Schmerzes. – Vergebliche Untersuchungen und Verzweiflung. – Ein Schrei des Albatrosses.

[349] Täuschte sich der Kapitän Gould über die Lage des Eilandes nicht, so konnte der Sommer hier höchstens noch drei Monate andauern. Nach diesen drei Monaten trat der schreckliche Winter ein mit seinen kalten Windstößen und[349] furchtbaren Stürmen. Die schwache Aussicht, draußen auf dem Meere ein Schiff zu erblicken und es durch Signale zu Hilfe zu rufen, war dann ganz entschwunden, denn in dieser Zeit des Jahres meiden die Seefahrer diese gefährlichen Meerestheile. Immerhin vollzog sich bis dahin vielleicht noch eine Aenderung der Sachlage, wenn es auch sehr kühn erschien, auf eine solche zu hoffen.

Das Leben ging also in derselben Weise weiter, wie seit dem 26. October, dem Unglückstage, an dem die Schaluppe zerstört worden war. Wie schwer wurde den arbeitsfrohen Verlassenen diese Eintönigkeit, diese Unthätigkeit, da es ihnen ja unmöglich war, nur irgend etwas zu unternehmen. Darauf beschränkt, längs des Fußes des Steilufers, das sie gefangen hielt, hinzuirren, ermüdeten ihre Augen durch die unablässige Beobachtung des immer öden Meeres, und sie bedurften wirklich einer außerordentlichen Willensstärke, nicht der Entmuthigung zu erliegen.

Die langen Tage verstrichen meist unter Gesprächen, die Jenny in Gang zu bringen sich bemühte. Die muthige junge Frau flößte ihrer ganzen Umgebung neues Leben ein, wußte sie zu zerstreuen und besprach Pläne, über deren Werth sie sich freilich keineswegs täuschte. Fritz und sie tauschten gegenseitig ihre Gedanken aus, ohne daß es dazu der Worte bedurft hätte. Der Kapitän Gould und John Block sprachen meist über die Zukunft. Zuweilen fragten sie sich wohl auch, ob die Lage des Eilandes wirklich die sei, die sie – als im Pacifischen Oceane – annahmen. Der Obersteuermann konnte sich hierüber eines leisen Zweifels nicht erwehren.

»Hat Sie das Eintreffen des Albatrosses auf solche Gedanken gebracht? fragte ihn eines Tages der Kapitän.

– Ja, so ist es, antwortete John Block, und ich glaube, nicht ohne berechtigten Grund.

– Wollen Sie daraus schließen, daß unser Eiland doch höher im Norden liege, als wir es vermutheten?

– Jawohl, Herr Kapitän, und – wer weiß es? – vielleicht in der Nähe des Indischen Oceans. Ein Albatros kann doch leichter Hunderte statt Tausende von Lieues weit fliegen, ohne einmal auszuruhen.

– Das weiß ich, Block, erwiderte Harry Gould, ich weiß aber auch, daß Borupt daran gelegen sein mußte, mit der »Flag« möglichst nach dem Pacifischen Ocean zu segeln. Die acht Tage über, die wir im Frachtraum eingesperrt[350] waren, hat es mir, und auch Ihnen. so geschienen. als wenn wir Westwind gehabt hätten.

– Das geb' ich zu, antwortete der Obersteuermann, und doch... dieser Albatros... ist er nur aus der Nähe oder ist er von weit her gekommen?...

– Und wenn es so wäre, Block, wenn wir uns über die Lage dieses Eilandes vorher getäuscht hätten, wenn es nur wenige Lieues von der Neuen Schweiz entfernt läge, ist das für uns, die wir es nicht verlassen können, nicht ganz dasselbe, als ob es Hunderte von Lieues bis dahin wären?«

Die Anschauung des Kapitäns Gould war leider gar zu berechtigt. Uebrigens mußte man immer noch annehmen, daß die »Flag« nach dem Pacifischen Ocean hin, also weit, weit weg aus der Gegend der Neuen Schweiz, gesteuert wäre. Was aber John Block dachte, das dachten die anderen ebenfalls. Es schien, als ob der Vogel vom Rauchenden Felsen alle mit neuer Hoffnung erfüllt hätte.

Nachdem sich der Albatros erholt hatte, zeigte er sich, wie das ja zu erwarten war, weder furchtsam, noch wild. Ihn noch weiter zu zähmen, war sehr leicht, und bald bewegte er sich über den Strand hin, nährte sich von Varecbeeren oder von Fischen, die er sehr geschickt fing, und zeigte gar keine Neigung, fortfliegen zu wollen.

Zuweilen stieg er doch längs des Vorberges auf und setzte sich, laut schreiend, am Rande des Steilufers nieder.

»Aha, sagte dann der Obersteuermann, der ladet uns ein, hinaufzukommen! Wenn er mir nur seine Flügel borgte, dann wollte ich schon bis dahin fliegen und auskundschaften, wie es auf der anderen Seite aussieht. Freilich, die Seite da drüben wird auch nicht mehr werth sein als diese hier; 's ist doch aber immer besser, das bestimmt zu wissen!«

Zu wissen?... Wußte man das nicht seit dem Tage, wo Fritz jenseit des Hügels dieselben nackten Felsen, dieselben unübersteiglichen Höhen gesehen hatte?

Einer der besten Freunde des Albatrosses war der kleine Bob. Zwischen dem Kinde und dem Vogel herrschte bald die größte Vertraulichkeit. Sie spielten zusammen auf dem Sande. Da war keine Neckerei von der einen, kein Schnabelhieb von der anderen Seite zu fürchten. Bei schlechtem Wetter zogen sich beide nach der Grotte zurück, worin der Albatros seinen Winkel hatte, den er jeden Abend einnahm.[351]

Außer diesem Zwischenfalle, an den sich doch auch keine Hoffnungen knüpfen ließen. ereignete sich nichts, was dem Kapitän Gould und seinen Gefährten das eintönige Leben unterbrochen hätte.

Jedenfalls war es jetzt nothwendig, ernstlich an die Wahrscheinlichkeit einer demnächstigen Ueberwinterung zu denken, die den armen Schiffbrüchigen vier bis fünf Monate rauher Jahreszeit in Aussicht stellte. Unter dieser Breite und inmitten des Pacifischen Oceans wüthen dann oft außerordentlich heftige Stürme, die auch eine sehr starke Temperaturerniedrigung herbeiführen können.

Der Kapitän Gould, Fritz und John Block tauschten zuweilen ihre Gedanken hierüber aus. Da sie die Unannehmlichkeiten der nächsten Zeit nicht vermeiden konnten, war es gewiß richtiger, ihnen gerade ins Gesicht zu sehen. Entschlossen zu kämpfen, fühlten sie jetzt nichts mehr von der Entmuthigung, die sie beim Verluste der Schaluppe befallen hatte.

»Wenn unsere Lage nur nicht durch die Anwesenheit der drei Frauen und des Kindes erschwert wäre, sagte öfters Harry Gould. Ja, wenn wir hier nur Männer wären...

– Wir haben deshalb nur die Verpflichtung, noch mehr zu thun, als wir sonst gethan hätten,« antwortete Fritz.

In der Voraussicht des Winters erhob sich noch eine recht ernste Frage, die nämlich, ob es bei strengerer Kälte, wenn Tag und Nacht ein Feuer unterhalten werden müßte, nicht schließlich an Brennmaterial fehlen würde.

Das war vielleicht nicht zu fürchten, wenn sie sich mit dem Tang begnügten, der bei jeder Fluth ausgeworfen und von der Sonne schnell getrocknet wurde. Da die Verbrennung dieser Seepflanzen aber einen beißenden Rauch erzeugte, konnte man sie nicht wohl zur Erwärmung der Grotte anwenden, worin die Luft sonst bald unathembar geworden wäre. Daneben machte es sich noch nöthig, deren Eingang mit den Segeln der Schaluppe, und zwar recht dicht und fest zu verschließen, um einen sicheren Schutz gegen die Windstöße zu haben, die im Winter gegen den Fuß des Steilufers anstürmten.

Endlich mußte die Grotte doch erleuchtet werden, wenn das Wetter alle Arbeiten im Freien verbot.

Der Obersteuermann und Franz gingen deshalb, von Jenny und Doll unterstützt, daran, einen großen Vorrath grober Kerzen aus dem Speck und Fett der Seehunde herzustellen, die an der östlichen Ausbuchtung in Menge vorkamen und deren Fang keine besonderen Schwierigkeiten bereitete.[352]

Ganz entsprechend dem in Felsenheim geübten Verfahren schmelzte John Block dieses Fett ein und erhielt dadurch ein Oel, das beim Erkalten erstarrte.


Suzans Verzweiflung machte sich in schweren Seufzern Luft. (S. 357.)
Suzans Verzweiflung machte sich in schweren Seufzern Luft. (S. 357.)

Da er keine Baumwolle, wie man sie in der Neuen Schweiz erntete, zur Verfügung hatte, mußte er sich mit den Fasern von Seegras begnügen, die immerhin brauchbare Dochte lieferten.

Außerdem kam endlich die Kleidung in Frage, womit alle nur dürftig versehen waren, und wie hätte diese, wenn sich der Aufenthalt hier verlängerte, ersetzt werden sollen?

»Ich bleibe dabei, sagte eines Tages der Obersteuermann, wenn man durch einen Schiffbruch auf eine wüste Insel geworfen wird, ist es klug und weise, ein Schiff oder ein Wrack zur Hand zu haben, worauf sich alles Nothwendige vorfindet. Anderenfalls ist das ein miserables Ding!«

Die Bewohner der Neuen Schweiz hatten sich freilich aus dem »Landlord« mit allem reichlich versorgen können.

Am Nachmittage des 17. erregte ein Vorfall, dessen Folgen niemand hätte voraussehen können, allgemein eine sehr lebhafte Unruhe.

Bob spielte bekanntlich gerne mit dem Albatros. Wenn er sich so auf dem Strande belustigte, behielt ihn seine Mutter stets im Auge, damit er sich nicht zu weit entfernte, denn er kletterte gerne einmal an den untersten Blöcken des Vorberges hinauf oder lief den heranrollenden Wellen entgegen. Blieb er dagegen mit dem Vogel in der Grotte zurück, so war keine Unannehmlichkeit zu fürchten.

Es mochte gegen drei Uhr sein. James Wolston half dem Obersteuermanne die Spieren zum Tragen des Vorhanges zuzurichten, der vor dem Eingange angebracht werden sollte. In dem Winkel nahe dem Kochofen saßen Jenny, Suzan und Doll mit dem Ausbessern ihrer Kleider beschäftigt.

Jetzt war die Zeit, wo Bob sein Vesperbrod zu verzehren pflegte.

Frau Wolston ging nach der Grotte zu und rief nach dem Kinde.

Bob antwortete nicht.

Suzan begab sich nach dem Strande und rief noch lauter, bekam aber wiederum keine Antwort.

Da erhob auch der Obersteuermann seine Stimme:

»Bob!... Bob!... Es ist Zeit zum essen!«

Das Kind zeigte sich nicht, man sah es auch nirgends auf dem Strande.

»Der Junge war hier... ganz in unserer Nähe... und vor kaum einer Minute! versicherte James.[355]

– Wo zum Kuckuck mag er denn stecken?« fragte sich John Block, der sich schon dem Vorberge zuwendete.

Der Kapitän Gould, Fritz und Franz gingen eben am Fuße der Felswand hin.

Bei ihnen war Bob auch nicht.

Der Obersteuermann legte die Hände zum Sprachrohr zusammen und rief wiederholt: »Bob!... Bob!«

Das Kind blieb unsichtbar.

James lief nach dem Kapitän und seinen zwei Brüdern.

»Habt Ihr denn Bob nicht gesehen? fragte er sehr beunruhigt.

– Nein, antwortete Franz.

– Vor einer halben Stunde, erklärte Fritz, sah ich ihn noch mit dem Albatros spielen.«

Nun zerstreuten sich alle nach allen Seiten und riefen nach dem Kleinen.

Vergebens.

Fritz und James eilten nach dem Vorberge, bestiegen die ersten Felsblöcke und ließen die Blicke über die ganze Bucht hin schweifen.

Weder das Kind, noch der Vogel waren zu bemerken.

Darauf kehrten beide zu Jenny und Doll und zu Frau Wolston zurück, die vor Angst ganz bleich geworden war.

»Hat denn jemand in der Grotte nachgesucht?« fragte da der Kapitän Gould.

Bob konnte ja wieder hineingelaufen sein, nur erschien es auffällig, daß er nicht herauskam, als nach ihm gerufen wurde.

Fritz war mit einem Sprunge in der Grotte, suchte darin alle Ecken und Winkel ab, kam aber, ohne das Kind mitzubringen, wieder heraus.

Frau Wolston irrte bestürzt und kaum ihrer Sinne mächtig hin und her Möglicherweise war das Kind zwischen den Felsblöcken hinabgeglitten... war vielleicht gar ins Meer gefallen... kurz, es schienen, da Bob nirgends gefunden wurde, die schlimmsten Befürchtungen gerechtfertigt.

Immerhin konnte man nichts anderes thun, als die Nachsuchungen am Ufer und bis nach der Bucht hin fortzusetzen.

»Fritz und James, sagte der Kapitän Gould, kommt Ihr beide mit mir, wir wollen den Fuß des Steilufers absuchen. Vielleicht ist Bob in einen Tanghaufen gerathen.[356]

– Ja, thun Sie das, antwortete der Obersteuermann, Franz und ich, wir werden die ganze Bucht untersuchen...

– Und den Vorberg auch, setzte Franz hinzu. Es kann ja sein, daß Bob darauf umhergeklettert und in ein Loch gefallen ist.«

Die Männer gingen nun nach rechts und nach links hin davon. Jenny und Doll blieben bei Frau Wolston, um diese in ihrer Herzensangst zu beruhigen.

Eine halbe Stunde später waren alle nach einer erfolglosen Bemühung zurück. Im ganzen Umkreise der Bucht war kein lebendes Wesen zu finden gewesen. Niemand hatte auch nur eine Spur von dem Kinde entdeckt und alles Rufen war ohne Antwort geblieben.

Suzans Verzweiflung machte sich in schweren Seufzern Luft. Dann befiel sie ein heftiger Brustkrampf, so daß man sie trotz ihres Sträubens in die Grotte schaffen mußte. Ihr Gatte, der mit ihr ging, brachte kein Wort über die Lippen.

Draußen sagte Fritz:

»Es ist gar nicht anzunehmen, daß das Kind verunglückt wäre. Ich wiederhole Euch, daß ich den Kleinen vor kaum einer Stunde auf dem Strande habe umherlaufen und springen sehen, doch nicht in der Richtung nach dem Meere zu Er hielt einen Strick mit einem Kiesel am Ende in der Hand.

– Ja, wo ist denn überhaupt der Vogel? fragte Franz, sich umsehend.

– Ja freilich, wo ist denn der?« wiederholte John Block.

An diesen hatte anfänglich niemand gedacht, und der Obersteuermann überzeugte sich, daß auch der Albatros jetzt fehlte.

»Sollten denn beide zusammen verschwunden sein? bemerkte Harry Gould.

– Das scheint fast so,« antwortete Fritz.

Die Männer richteten die Blicke nun nach allen Seiten hinaus, vorzüglich aber nach den Felsen, auf die der Vogel sich mit Vorliebe zu setzen pflegte.

Man sah ihn weder, noch vernahm man seinen Schrei, der von dem der Trauerenten, der Seeschwalben und der Möven so leicht zu unterscheiden war.

Daß der Albatros über das Steilufer hinweg und nach einer anderen Höhe geflogen wäre, war ja nicht ganz auszuschließen, trotz seiner Gewöhnung an den Strand hier, an die, die darauf lebten, und vor allem an Jenny. Jedenfalls konnte aber der Knabe nicht mit davongeflogen sein. Vielleicht war er aber bei der Verfolgung des Vogels auf dem Vorberge weiter hinaufgeklettert, wenn[357] das auch nach den Nachsuchungen Franzens und des Obersteuermannes kaum anzunehmen war.

Immerhin blieb ein Zusammenhang zwischen dem Verschwinden Bobs und dem des Albatrosses höchst wahrscheinlich. Gewöhnlich trennten sich ja diese beiden niemals, und jetzt sah man weder den einen noch den anderen. Das war doch merkwürdig genug.

Als der Abend herannahte und Vater und Mutter des Kleinen von der tödtlichsten Angst gefoltert wurden, konnten sich Jenny, Doll, der Kapitän Gould und die anderen beim Anblicke Suzans, deren unzusammenhängende Worte fast für ihren Verstand fürchten ließen, nur schweigend verhalten. Bei dem Gedanken aber, daß das Kind, wenn es in eine Vertiefung oder einen Spalt gestürzt wäre, die ganze Nacht über darin hilflos liegen müßte, wurden die Nachsuchungen doch noch einmal aufgenommen. Am äußeren Ende des Vorberges zündete man ein Feuer aus trockenem Tang an, das dem Kleinen als Führer dienen sollte, wenn dieser bis zur jenseitigen Ausbuchtung hinübergekommen wäre. Bis zu den spätesten Abendstunden wurden die Nachsuchungen fortgesetzt, dann mußte man die Hoffnung, Bob noch zu finden, aufgeben... aufgeben in der Befürchtung, am folgenden Tage vielleicht auch nicht erfolgreicher zu suchen.

Alle waren in die Grotte zurückgekehrt... nicht um zu schlafen, denn wem wäre das heute möglich gewesen? Bald schlich der eine, bald der andere wieder hinaus, spähte umher, lauschte auf das mindeste Geräusch neben dem Gurgeln der Brandung und kam zurück, um sich stumm niederzusetzen.

O, das war die schmerzlichste, die verzweiflungsvollste Nacht von allen, die der Kapitän Gould und die übrigen auf dieser öden Küste zugebracht hatten!

Gegen zwei Uhr des Morgens begann der bis dahin sternenklare Himmel sich zu bedecken. Der Wind war nach Norden umgeschlagen und trieb von dorther Wolken zusammen. Waren diese auch nicht gerade drohender Art, so jagten sie doch sehr schnell dahin, und jedenfalls war das Meer im Osten und Westen des Steilufers schon stark bewegt.

Jetzt war auch die Stunde, wo die steigende Fluth die Wellen wieder über das flache Ufer wälzte.

Da sprang Frau Wolston auf und stürzte, ohne daß sie jemand zurückzuhalten vermochte, eine Beute der Verzweiflung, hinaus ins Freie.

»Mein Kind... mein Kind!« rief die arme Mutter in herzzerreißendem Tone.[358]

Man mußte sie mit Gewalt zurückbringen. Wolston war seiner Gattin nachgeeilt, faßte sie am Arme und führte sie mehr todt als lebendig wieder in die Grotte.

Hier blieb die Unglückliche, stumpf vor sich hinblütend, auf dem Seegraslager liegen, wo Bob neben ihr zu schlummern pflegte. Jenny und Doll bemühten sich, sie wieder zu sich zu bringen, was ihnen aber nur mit großer Mühe einigermaßen gelang.

Die ganze Nacht hindurch heulte ein scharfer Wind über das Plateau des Steilufers hin. Zwanzigmal wohl suchten Fritz, Franz, Harry Gould und der Obersteuermann das Ufer ab, immer mit der Befürchtung, einen kleinen, auf den Strand gespülten Leichnam zu finden.

Vergeblich... es blieb nur noch die Annahme übrig, daß das Kind von den Wellen ins Meer hinausgetragen worden war.

Gegen vier Uhr, als beim Wechsel der Gezeiten die Ebbe wieder eintrat, zeigte sich am östlichen Horizonte der erste hellere Schimmer.

Da vernahm Fritz, der im Grunde der Grotte an der Wand lehnte, eine Art Aufschrei hinter der Steinwand. Er lauschte gespannt, und da er sich getäuscht zu haben fürchtete, wendete er sich an den Kapitän.

»Folgen Sie mir!« redete er diesen an.

Ohne zu wissen, was Fritz vorhätte, ja ohne ihn nur darum zu fragen, folgte Harry Gould dieser Aufforderung.

»Horchen Sie,« sagte Fritz.

Der Kapitän Gould spitzte die Ohren.

»Das war der Schrei eines Vogels, was ich eben hörte, erklärte er.

– Ja... der eines Vogels! bestätigte Fritz.

– Da muß sich also ein Hohlraum hinter der Wand befinden...

– Ohne Zweifel, und vielleicht ein Gang, der mit dem Freien in Verbindung steht... denn wie erklärte sich sonst...

– Ja, ja, Sie haben recht, Fritz.«

Inzwischen war John Block herangetreten und hörte, wovon die beiden sprachen. Nachdem auch er das Ohr kurze Zeit an die Wand gelegt hatte, rief er:

»Das ist die Stimme des Albatrosses... ich erkenne sie!

– Und wenn der Albatros da drüben ist, sagte Fritz, so wird, so maß der kleine Bob auch da sein...

– Wie hätten die beiden aber dorthin gelangen können? fragte der Kapitän.[359]

– O... das werden wir ja ermitteln,« erwiderte John Block.

Franz, Jenny und Doll wurden von den Wahrnehmungen unterrichtet. Wolston und seine Gattin schöpften wieder eine schwache Hoffnung.

»Er ist dort!... Er ist dort!« wiederholte Suzan.

John Block hatte eine der dicken Kerzen angezündet. Daß der Albatros sich hinter dieser Wand befand, war nicht mehr zu bezweifeln, denn man hörte ihn immer und immer wieder schreien.


Eine Minute später brachte er den ohnmächtigen Bob daraus mit hervor. (S. 362.)
Eine Minute später brachte er den ohnmächtigen Bob daraus mit hervor. (S. 362.)

Ehe man untersuchte, ob er vielleicht draußen durch einen Felsenspalt dahin geglitten sei, wo er sich jetzt befand, schien es[360] rathsamer, nachzusehen, ob nicht im Höhleninnern eine Oeffnung in der Wand zu finden sei.


Das Feuer verbreitete sich mit so rasender Schnelligkeit... (S. 366.)
Das Feuer verbreitete sich mit so rasender Schnelligkeit... (S. 366.)

Das Licht in der Hand, untersuchte deshalb der Obersteuermann sorgfältig die Hinterwand der Höhle. Er entdeckte zunächst nichts als einige Sprünge, die aber viel zu wenig klafften, als daß der Albatros und Bob erst recht hätten da hindurch gelangen können. Ganz unten fand sich indeß im Erdboden ein Loch von zwanzig bis fünfundzwanzig Zoll Durchmesser, groß genug also, das Kind und den Vogel hindurchschlüpfen zu lassen.[361]

Da der Albatros jetzt aber schwieg, fürchteten doch noch alle, daß sich der Kapitän Gould, Fritz und der Obersteuermann getäuscht haben könnten.

Jetzt trat Jenny an des letzteren Stelle, beugte sich nach dem Loche nieder und rief wiederholt nach dem Vogel, der an ihre Stimme ebenso wie an ihre Liebkosungen gewöhnt war.

Da antwortete ihr ein Schrei und kurz darauf kam der Albatros aus der Oeffnung hervor.

»Bob! Bob!« rief jetzt Jenny.

Das Kind antwortete weder, noch wurde es sichtbar. Sollte es doch nicht mit dem Vogel hinter der Wand gewesen sein? Seine Mutter konnte einen Aufschrei der Verzweiflung nicht unterdrücken.

»Warten Sie ein wenig,« sagte da der Obersteuermann.

Er kniete nieder, vergrößerte das Loch, aus dem er den Sand hinter sich warf, und nach einigen Minuten war dieses erweitert genug, daß er hinein- und hindurchkriechen konnte.

Eine Minute später brachte er den ohnmächtigen Bob daraus mit hervor; unter den Küssen seiner Mutter kam der Kleine aber bald wieder zur Besinnung.

Quelle:
Jules Verne: Das zweite Vaterland. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXXVII–LXXVIII, Wien, Pest, Leipzig 1901, S. 349-353,355-362.
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