Siebenundzwanzigstes Capitel.
Eine Grotte am Fuße des Bergrückens. – Rückblick auf die Vergangenheit. – Durch den Wald. – Fang einer Antilope. – Der Montrose-Fluß. – Das Grünthal. – Der Hohlweg der Cluse. – Eine Nacht in der Einsiedelei Eberfurt.

[386] Die Grotte, worin Herr Wolston, Ernst und Jack vor vier Monaten bei Gelegenheit ihres Ausfluges nach der Bergkette übernachtet hatten, am Tage vorher, wo die englische Flagge auf dem Gipfel des Pic Jean Zermatt gehißt[386] worden war, widerhallte heute von der berechtigtsten Freude, von der lebhaftesten Bewegung. Lauter Jubel überall. Wenn heute Nacht keiner einen ruhigen Schlummer fand, so lag die Ursache dieser Schaflosigkeit nicht in bösen, beängstigenden Träumen, sondern in der geistigen Aufregung, in dem Wirbel der Gedanken, den die letzten Vorfälle erzeugt hatten.

Nachdem sie dem Schöpfer den innigsten Dank dargebracht hatten, wollten der Kapitän Gould, Fritz, Franz, James, der Obersteuermann, Jenny, Doll und Suzan Wolston keine Minute länger auf dem Berggipfel verweilen. Zwei Stunden waren noch übrig, ehe es dunkel wurde, und diese Zeit mußte genügen, bis zum Fuße der Bergkette zu gelangen.

»Es müßte merkwürdig zugehen, bemerkte Fritz, wenn wir dort nicht eine Aushöhlung fänden, die genügend groß wäre, uns alle aufzunehmen...

– Wenn aber nicht, fiel Franz ein, so schlafen wir dort unter den Bäumen... unter Bäumen der Neuen Schweiz... der Neuen Schweiz!«

Franz konnte sich nicht enthalten, den theueren, von allen gesegneten Namen zu wiederholen.

»Sagen Sie mir ihn auch einmal, liebe Doll, fuhr er fort, damit ich ihn noch einmal höre...

– Ja, der Neuen Schweiz! rief das junge Mädchen, deren Augen vor Freude erglänzten.

– Der Neuen Schweiz!« wiederholte auch Jenny, die ihrem Fritz die Hand drückte.

Selbst von dem kleinen Bob ertönte das Wort gleich einem Echo, wofür ihm mancher Kuß als Belohnung zutheil wurde.

»Liebe Freunde, begann jetzt der Kapitän Gould, wollen wir noch hinabsteigen und bis nach jenen Bergen gehen, so ist keine Zeit mehr zu verlieren.

– Und wie steht's mit dem Essen, fragte John Block, mit der Besorgung des unterwegs nöthigen Proviantes?

– Binnen achtundvierzig Stunden sind wir in Felsenheim, versicherte Franz.

– Und auf den Ebenen der Neuen Schweiz giebt es ja Wild in Ueberfluß, setzte Fritz hinzu.

– Was nützt uns das, da wir keine Gewehre haben, fragte der Kapitän Gould So gewandt Fritz und Franz auch sein mögen, glaub' ich doch nicht, daß, wenn sie sich nur so stellen, als ob sie schießen wollten...[387]

– Bah! fiel ihm Fritz ins Wort, wir haben doch flinke Beine! Das werden Sie schon noch sehen, Herr Kapitän! Morgen vor der Mittagsstunde haben wir gutes, richtiges Fleisch an Stelle des Schildkrötenfleisches...

– Fritz, sprich mir nichts schlechtes über die Schildkröten, bat Jenny, und wenn es nur aus Dankbarkeit wäre...

– Ja, Du hast recht, liebes Frauchen; doch vorwärts nun! Bob will nicht länger mehr hier bleiben; nicht wahr, Bob?

– Nein, nein, antwortete das Kind, wenn Papa und Mama mitkommen...

– Natürlich kommen sie mit, versicherte Jenny, und sie werden nicht die letzten im Zuge sein.

– Vorwärts... zum Aufbruch!...«

Alle riefen es wie aus einem Munde.

»Sapperment, sagte der Obersteuermann schalkhaften Tones, wenn man nun bedenkt, daß wir da unten... weiter südlich... ein schönes Strandgebiet haben, wo es von Schildkröten und Muschelthieren wimmelt, dazu eine prächtige Grotte mit allen Vorräthen für mehrere Wochen... in dieser Grotte die molligsten Lager auf sauberem Tang... und jetzt, jetzt sollen wir das alles im Stiche lassen...

– Oho, wir kehren schon noch einmal zurück, um unsere Schätze zu holen, verlprach Fritz.

– Ja... aber wann... fuhr John Block fort.

– Will Er gleich schweigen, verwünschter Block! befahl Harry Gould scherzend.

– Ich bin ja schon mäuschenstill, Herr Kapitän, und möchte nur noch zwei Worte sagen.

– Die wären?...

– Vorwärts marsch!«

Seiner Gewohnheit entsprechend, setzte sich Fritz an die Spitze. Die übrigen gruppirten sich in der hergebrachten Weise. Ohne Schwierigkeiten gelangten sie über den Abhang des Kegels zum Fuße der Bergkette hinab. Ein glücklicher Instinct, ein wirklicher Orientirungssinn hatte sie geleitet, denselben Weg einzuschlagen, dem Herr Wolston, Ernst und Jack früher gefolgt waren, und dabei erreichten sie noch vor acht Uhr den Saum des großen Tannenwaldes.

Durch einen glücklichen Zufall – warum darüber erstaunen, wo sich jetzt alles zu ihrem Besten zu gestalten schien? – entdeckte der Obersteuermann auch[388] die Grotte, in der Herr Wolston und die beiden Brüder Unterkunft gefunden hatten. Daß sie etwas beschränkt war, bekümmerte niemand, wenn sie nur für Jenny, Doll, Suzan und den kleinen Bob ausreichte, die Männer waren gern bereit, unter freiem Himmel zu übernachten. An der weißlichen Asche einer Feuerstatt erkannte man übrigens, daß sich hier schon früher jemand aufgehalten hatte.

Vielleicht waren also der ältere Zermatt mit Herrn Wolston, Ernst und Jack, vielleicht auch die Frauen mit ihnen, durch diesen Wald gewandert, hatten den Kegel erklommen und darauf die britische Flagge aufgepflanzt. Und wenn die einen auf dem Wege etwa voraus waren und die anderen zurückblieben, hatten sie sich hier recht gut wieder treffen können.

Nach dem Abendessen und als der kleine Bob in einer Ecke der Grotte eingeschlummert war, entwickelte sich, trotz der Mühsale des Tages, noch ein lebhaftes Gespräch über die Erlebnisse auf der »Flag«.

In den acht Tagen, wo der Kapitän Gould, der Obersteuermann, Fritz, Franz und James eingesperrt gewesen waren, mußte das Schiff nach Norden zu gesegelt sein. Das war jedenfalls nur die Folge widriger Winde, denn Borupt und der Mannschaft lag sicherlich viel daran, nach dem fernen Gebiete des Pacifischen Oceans zu entkommen. War das nicht gelungen, so lag die Schuld dafür gewiß nur am Wetter. Alles deutete darauf hin, daß die »Flag« mehr nach dem Indischen Ocean und in die Nähe der Neuen Schweiz verschlagen worden war. Mit Berücksichtigung der verflossenen Zeit und der Fahrtrichtung, als die Schaluppe ausgesetzt worden war, ließ sich ohne Irrthum annehmen, daß Harry Gould und seine Gefährten sich an jenem Tage vielleicht kaum hundert Lieues weit von der Insel befunden hatten, von der sie sich weit mehr entfernt glaubten, da die Schaluppe damals ja schon nach acht Tagen die Neue Schweiz erreicht hatte.

Freilich erfolgte die Landung an dem Theile der Südküste, den Fritz und Franz noch nicht kannten, hinter der Bergkette, die sie zum erstenmale beim Heraustreten aus dem Grünthale gesehen hatten. Wer hätte auch ahnen können, daß hinsichlich der Natur des Bodens und seiner Erzeugnisse zwischen der reichen Gegend im Norden des Bergrückens und dem trostlos öden Plateau von dem Kegelberge aus bis hinab zum Meere ein se greller Unterschied bestehen könnte?

Jetzt erklärte sich auch das Erscheinen des Albatrosses auf der Rückseite des Steilufers. Nach der Abfahrt Jenny Montrose's mochte der Vogel wohl nach[389] dem Rauchenden Felsen zurückgekehrt sein, von dem er zuweilen nach der Neuen Schweiz hinüberflog, ohne je bei Falkenhorst oder Felsenheim aufzutauchen. Welch großen Antheil hatte das Thier aber an der Rettung der Verlassenen! Ihm verdankten diese ja die Entdeckung der zweiten Grotte, wohin ihm der kleine Bob gefolgt war, und ferner die der Schlucht und des Hohlweges der auf dem Plateau des Steilufers ausmündete.

Das war die Verkettung der Umstände, die Reihenfolge der Thatsachen, woraus die dankbaren Herzen das Walten der gütigen Vorsehung erkannten. Uebrigens hatten sie, trotz aller Prüfungen und allen Unglückes, ja sogar gegenüber der Befürchtung, in der Grotte überwintern zu müssen, niemals das Vertrauen auf Gottes Hilfe verloren.

Das Gespräch dehnte sich begreiflicherweise sehr lange aus. Endlich überwältigte alle aber doch die Müdigkeit und sie verbrachten die letzten Nachtstunden in tiefem Schlafe. Am frühen Morgen und nach einem schnell eingenommenen Imbiß machten sie sich in heiterer und erwartungsvoller Stimmung wieder auf den Weg.

Nach den Ueberbleibseln der Feuerstätte in der Grotte fand die kleine Gesellschaft, als sie durch den Wald dahinzog, noch weitere Spuren. Die niedergetretenen Streifen im Grase und die da und dort abgebrochenen Zweige rührten jedenfalls von vorübergekommenen Raubthieren oder Wiederkäuern her, daneben zeigten sich aber auch mehrfach Spuren eines Lagers, über die man sich nicht täuschen konnte.

»Und wer anders als mein Vater, meine Brüder und Herr Wolston, bemerkte Fritz, hätte die Flagge auf jenem Gipfel anbringen sollen?

– Wenigstens wenn sie sich nicht von allein da aufgepflanzt hat! antwortete lachend der Obersteuermann.

– Das wäre von einer englischen Flagge auch kein besonderes Wunder, fuhr Franz im nämlichen Tone fort, denn es giebt gerade Orte genug, wo sie von selbst aus dem Boden gewachsen zu sein scheint!«

Der Kapitän Gould mußte über diese drolligen Bemerkungen unwillkürlich lächeln. Trotz aller vegetativen Eigenschaften, die der britischen Flagge zukommen mögen, unterlag es doch keinem Zweifel, daß die auf dem Gipfel von Menschenhand gehißt worden war. Der ältere Zermatt und die Seinen hatten also einen Ausflug nach den Bergen, und zwar auf dem kürzesten Wege ausgeführt, und es erschien als das einfachste, ihren Spuren zu folgen.[390]

Von Fritz geführt, stiegen die anderen die ersten Abhänge hinab, die theilweise vom Walde bedeckt waren.

Daß besondere Schwierigkeiten zu überwinden oder auf dem Wege zwischen der Bergkette und dem Gelobten Lande noch Gefahren zu bestehen wären, erschien kaum annehmbar.

Die Entfernung zwischen diesen beiden Punkten mochte der Schätzung nach acht Lieues betragen. Bei einer Tagesleistung von vier Lieues, unterbrochen durch eine zweistündige Mittagsrast und ausreichende Nachtruhe, mußte es möglich sein, am Abende des folgenden Tages den Hohlweg der Cluse zu erreichen.

Von hier aus nach Felsenheim oder Falkenhorst zu kommen, war dann nur noch die Sache von einigen Stunden.

»O, sagte Franz, hätten wir hier nur unsere beiden wackeren Büffel, Sturm und Brummer, oder Rasch, Fritzens Onagre, oder auch Brausewind, Jacks schnellfüßigen Strauß, so brauchten wir nicht einen vollen Tag, um Felsenheim zu erreichen.

– Nun ja, bemerkte Jenny scherzend, Franz wird doch vergessen haben, den Brief zur Post zu geben, worin wir baten, uns die Thiere entgegenzuschicken.

– Wie, Franz, Du? fuhr Fritz in komischem Ernste fort, Du, ein so überlegter, ein so aufmerksamer junger Mann?...

– Ach nein, entgegnete Franz, Jenny hat nur vergessen, eine Meldung an den Fuß ihres Albatrosses zu heften, ehe dieser davonflog!

– Wie unbesonnen von mir! antwortete die junge Frau.

– O, meinte Doll, es ist doch gar nicht ausgemacht, daß der Bote die Meldung an die richtige Adresse abgeliefert hätte.

– Ja, wer weiß? antwortete Franz. Jetzt erleben wir ja ein Wunder nach dem anderen.

– Recht schön und gut, schloß der Kapitän Gould, da wir jedoch weder auf Sturm und Brummer, noch auf Rasch und Brausewind rechnen können, ist es am besten, wir verlassen uns einfach auf uns selbst...

– Und machen etwas lange Beine,« vollendete Block den Satz.

Jetzt wurde der Marsch fortgesetzt, erst zu Mittag sollte wieder Halt gemacht werden. Von Zeit zu Zeit lösten sich James, Franz und der Obersteuermann ab, Bob zu tragen, obwohl das Kind unbedingt laufen wollte. Die Durchschreitung des Waldes erfuhr also keine Verzögerung.[391]

Unterwegs konnten James und Suzan Wolston, die von den Wundern der Neuen Schweiz noch nichts kannten, gar nicht genug erstaunen über die Ueppigkeit der Vegetation, die die am Cap der Guten Hoffnung bei weitem übertraf.

Und doch befanden sie sich jetzt erst in dem sich völlig selbst überlassenen Theile der Insel, dessen Entwicklung noch keine Menschenhand beeinflußt hatte. Was würden sie erst sehen, wenn sie die cultivirten Theile des Landes, die Meiereien der Einsiedelei Eberfurt, die von Zuckertop, Waldegg und des Prospect-Hill, des reichen Gebietes des Gelobten Landes besuchten!

Jagdwild, wie Agutis, Bisam- und Wasserschweine, Antilopen und Kaninchen, doch auch Trappen, Rebhühner, Auerhähne, Hasel- und Perlhühner nebst Enten gab es in Ueberfluß. Fritz und Franz hatten gewiß Ursache zu bedauern, daß ihnen jetzt die Jagdflinten fehlten. Ja, wenn nur Braun und Falb oder selbst der alte Türk hier bei ihnen gewesen wären! Selbst wenn Fritzens Adler nicht verendet wäre und seinen Herrn jetzt begleitet hätte, würde dieser wohl bald ein halbes Dutzend schmackhafte Hühner zur Strecke gebracht haben. Da die Wasser- und Bisamschweine und die Agutis aber jeder Annäherung auszuweichen wußten, verliefen auf dem ersten Theile der Wanderung alle Versache, ein solches Thier zu fangen, ganz erfolglos, und voraussichtlich mußte bei der nächsten Mahlzeit der noch vorhandene letzte Mundvorrath verzehrt werden.

Da ereignete sich ein glücklicher Zwischenfall, der die Nahrungsfrage recht befriedigend löste.

Gegen elf Uhr gab der vorausmarschirende Fritz ein Zeichen, nahe einer kleinen Waldblöße Halt zu machen. Durch diese schlängelte sich ein Rio, an dessen Ufer ein ziemlich großes Thier eben seinen Durst löschte.

Es war eine Antilope, und welch gesundes, kräftigendes Fleisch mußte man haben, wenn es gelang, sich des Wiederkäuers durch irgend ein Mittel zu bemächtigen.

Am einfachsten erschien es, die kleine Lichtung unbemerkt zu umstellen, die Antilope, wenn sie weiter laufen wollte, selbst auf die Gefahr hin, mit deren Hörnern unliebsame Bekanntschaft zu machen, abzufangen, sie zu überwältigen und zu tödten.


Es war eine Antilope. (S. 392.)
Es war eine Antilope. (S. 392.)

Das schwierigste hierbei war es nur, diese Einschließung auszuführen, ohne die Aufmerksamkeit des mit so scharfem Gesicht, seinem Gehör und empfindlichem Geruche ausgestatteten Thieres zu erwecken.[392]

Während Jenny, Doll, Suzan und Bob hinter einem Busche versteckt blieben begannen Fritz, Franz, James, der Kapitän Gould und der Obersteuermann, die freilich keine andere Waffe als ihre Taschenmesser besaßen, die Lichtung, sich möglichst verborgen haltend, einzukreisen.

Die Antilope trank noch immer aus dem Bache, ohne irgendwie Beunruhigung zu zeigen, als Fritz plötzlich mit lautem Aufschrei nach der Lichtung vorstürmte.

Sofort richtete das Thier sich auf, streckte den Hals weit vor und lief auf das Dickicht zu, wo es wohl mit einem Sprunge über das Buschwerk hinwegsetzen konnte[393] An der Stelle, wohin es sich wendete, standen Franz und der Obersteuermann, das Messer in der Hand. Konnten sie es nicht hindern, über ihren Kopf wegzuspringen, so war die Antilope sicherlich bald weit entflohen.

Das Thier sprang auf, jedenfalls aber mit ungenügendem Anlauf, denn es fiel vorzeitig herunter, riß dabei den Obersteuermann um und suchte sich wieder zu erheben und nach dem Walde zu entweichen, wo an dessen Einfangen nicht mehr zu denken war.

Da war aber Fritz schon zur Stelle, dem es, sich auf die Antilope stürzend, gelang, ihr das Messer in die Seite zu bohren. Dieser Stoß hätte aber noch nicht genügt, wenn Harry Gould nicht den Hals des Thieres mit dem Messer getroffen hätte.

Damit war das Thier regungslos inmitten der Zweige hingestreckt, während der Obersteuermann sich etwas schwerfällig wieder aufrichtete.

»Verwünschtes Vieh! rief John Block, der nicht ohne einige Verletzungen davongekommen war. Ich habe in meinem Leben doch schon so manchen Wasserschwall ins Gesicht bekommen, doch niemals einen, der mich über den Haufen geworfen hätte!«

James, Jenny, Doll und Suzan kamen eben herzugelaufen.

»Ich hoffe, Ihr seit nicht ernstlich verletzt, Block? fragte Harry Gould.

– Nein... ein paar Schrunden... so etwas zählt nicht, Herr Kapitän. Unangenehm und sogar beschämend ist nur, auf solche Weise einen dummen Purzelbaum geschlagen zu haben.

– Nun, fiel Jenny ein, als Schmerzensgeld soll Ihnen das beste Stück zukommen.

– Nein, Frau Zermatt, nein, ich ziehe das vor, das mich zu Boden geworfen hat, und da das der Kopf des Thieres war, so möchte ich auch seinen Kopf verzehren!«

Nun ging man daran, die Antilope auszuweiden, und die eßbaren Stücke abzuschneiden. Da jetzt die Ernährung der Wanderer bis zum morgigen Abend hinreichend gesichert war, brauchte sich vor der Ankunft im Hohlwege der Cluse niemand darum weitere Sorge zu machen.

Fritz und Franz brauchten es nicht erst zu lernen, wie man ein beliebiges Stück Wild zurichtet. Sie hatten sich das theoretisch und praktisch in den zwölf Jahren, wo sie auf den Feldern und in den Waldungen des Gelobten Landes dem Waidwerk obgelegen hatten, gründlich zu eigen gemacht. Auch der Obersteuermann[394] erwies sich bei dieser Arbeit nicht ungeschickt. Ihm schien es besonderes Vergnügen zu gewähren, sich an dem Thiere damit, daß er ihm das Fell abzog, rächen zu können. In weniger als einer Viertelstunde waren die Keulen, die Rippenstücke und andere schmackhafte Theile fertig, auf der Gluth geschmort zu werden.

Da schon die Mittagsstunde nahte, empfahl es sich, gleich auf der Lichtung Halt zu machen, zumal da der Rio hier frisches, klares Wasser lieferte. Harry Gould und James entzündeten ein Feuer von dürrem Holz am Fuße eines Mangobaumes. Als dieses zu glimmenden Kohlen heruntergebrannt war, legte Fritz die besten Stücke von der Antilope darauf, überließ es aber Suzan und Doll, das Braten zu überwachen.

Durch glücklichen Zufall fand Jenny auch eine Menge Wurzeln, die sich in der Asche rösten ließen, und die, da sie den hungrigen Magen zu füllen versprachen, das Frühstück gewiß recht angenehm vervollständigten.

Uebrigens giebt es kaum etwas schmackhafteres, als das zarte Fleisch der Antilope, das überall als hervorragender Leckerbissen gilt.

»Das ist ja herrlich, rief John Block, einmal wieder ein rechtschaffenes Stück Fleisch zu essen, das früher stolz einhergewandert, aber nicht schwerfällig auf der Erde dahingekrochen war!

– Nichts schlechtes reden von den Schildkröten, sagte mahnend der Kapitän, und wäre es auch, um die Vorzüge der Antilope zu preisen!

– Herr Gould hat recht, stimmte Jenny zu. Was wäre denn aus uns geworden ohne die vortrefflichen Thiere, die uns seit der Ankunft auf der Insel genährt haben?

– Na, meinethalben. Also: die Schildkröten leben hoch! Dafür geben Sie mir nun aber ein drittes Rippenstückchen.«

Nach Beendigung des stärkenden Mahles ging es wieder vorwärts, denn es war keine Stunde zu verlieren, wenn am Nachmittage die in Aussicht genommene Wegstrecke, von vier Lieues für den Tag, noch zurückgelegt werden sollte.

Wären Fritz und Franz hier allein gewesen, so hätten sie nach keiner Müdigkeit gefragt und sich, ohne Rast und Ruh' auch die Nacht hindurch wandernd, nach dem Hohlweg der Cluse aufgemacht. Vielleicht war ihnen auch ein solcher Gedanke gekommen, der verführerisches genug an sich hatte, da sie dann schon am Nachmittage des nächsten Tages in Felsenheim angelangt wären. Sie wagten aber gar nicht den Vorschlag, vorausgehen zu wollen, da sie wußten, daß sie[395] doch niemand ziehen lassen würde. Uebrigens war jedenfalls die Freude noch größer, wenn alle zusammen an dem ersehnten Ziele eintrafen und sich in die Arme der Eltern und Freunde stürzten, die schon so lange auf sie gewartet und vielleicht verzweifelt hatten, sie je wieder zu sehen. Welche Aufregung, welchen Jubel mußte es geben, wenn sie alle ausriefen:

»Da sind wir!... Da sind wir!«

Die zweite Wegstrecke verlief ganz ebenso wie die erste und unter Schonung der Kräfte Jennys, Dolls und Suzan Wolston's.

Alles ging ohne Zwischenfall ab, und gegen vier Uhr Nachmittags war der Saum des Waldes erreicht.

Von diesem aus lag eine fruchtbare Landschaft vor ihnen. Ihren Pflanzenwuchs verdankte sie allein der Treibkraft des Erdbodens... Hier üppige Wiesen, dort Waldmassen oder Baumgruppen, die sich bis zum Eingange des Grünthales fortsetzten.

In der Ferne trabte eine Gesellschaft von Hirschen und von Damwild vorüber. Ihnen nachzustellen, war natürlich ganz ausgeschlossen. Dann zeigten sich wieder Trupps von zahlreichen Straußen, deren Erscheinen Fritz und Franz an ihren Ausflug in die Umgebung des Araberthurms erinnerte.

Ebenso tauchten mehrere Elephanten auf; sie trotteten ruhigen Schrittes durch dichtes Gestrüpp, welch verlangende Blicke hätte ihnen aber Jack, wenn er jetzt hier war, zugeworfen!

»Warum sollte es, sagte Fritz, in unserer Abwesenheit Jack nicht gelungen sein, einen Elephanten zu fangen, ihn zu zähmen und ihn abzurichten, wie wir es ja mit Sturm, Brummer und Leichtfuß gethan haben?

– Das ist wohl möglich, mein Lieber, antwortete Jenny. Nach vierzehnmonatiger Abwesenheit läßt sich ja so manches Neue in der Neuen Schweiz erwarten...

– In unserem zweiten Vaterlande! sagte Franz.

– Ich sehe es schon, rief Doll, es wird jetzt noch andere Wohnstätten, andere Meiereien, vielleicht gar ein ganzes Dorf aufzuweisen haben.

– O, meinte der Obersteuermann, ich wäre schon mit dem zufrieden, was wir hier vor uns sehen, und ich kann kaum glauben, daß es auf Ihrer Insel ein herrlicheres Stück Land als dieses hier gäbe.

– Das ist noch gar nichts gegen das Gelobte Land, Herr Block, versicherte Doll.[396]

– Nichts, bestätigte Jenny, und wenn Herr Zermatt ihm diesen biblischen Namen gegeben hat, so hatte es ihn reichlich verdient, und wir werden, begünstigter als die alten Hebräer, das gesegnete Kanaan betreten.«

John Block mußte wohl die Ueberzeugung gewinnen. daß diese Lobsprüche keineswegs übertrieben seien.

Um sechs Uhr ließ Fritz für die Nacht Halt machen, wenn es ihm auch, wie seinem Bruder, große Ueberwindung kostete, da beide so gern noch bis zum Grünthal weitergewandert wären.

Zu dieser Jahreszeit drohte kaum ein Umschlag des Wetters und die Kälte war auch nicht zu fürchten. Im Gegentheil hatten der Kapitän Gould und alle übrigen am Tage weit mehr von der Wärme gelitten, wenigstens, trotz der schützenden Bäume, um die Mittagsstunde. Weiterhin hatten einige verstreute Gehölze gestattet, im Schatten zu marschiren, ohne dabei besonders von der geraden Richtung abzuweichen und eine Verspätung zu erfahren.

Von den flackernden Flammen eines Feuers aus trockenen Zweigen wurde das Abendessen in gleicher Weise zubereitet, wie am Mittag. Diese Nacht konnte zwar niemand in einer Grotte zubringen, bei der herrschenden Müdigkeit fand aber doch jeder den Schlaf.

Vorsichtshalber wollten Fritz, Franz und der Obersteuermann abwechselnd wachen. Als es dunkel wurde, ertönte von fernher dumpfes Gebrüll und erinnerte daran, daß auf diesem Theile der Insel verschiedene Raubthiere hausten.

Am nächsten Tage erfolgte der Aufbruch mit dem Morgenrothe. Der Engpaß der Cluse mußte mit der zweiten Etappe erreicht werden können, wenn die Strecke bis dahin, auf der sich vielfach frische Fährten zeigten, keine besonderen Hindernisse bot.

Die Wanderung ging nun wirklich ebenso unbehelligt von statten, wie am Tage vorher. Um die Sonnenstrahlen zu vermeiden, schlug man nur den Weg von Gehölz zu Gehölz ein.

Nach dem Mittagsmahle am Ufer eines schnellfließenden, neun bis zehn Toisen breiten Flusses, der nach Norden hin verlief, brauchte man nur dessen linkem Ufer zu folgen.

Weder Fritz noch Franz kannte diesen Wasserlauf, da ihre Ausflüge sie früher noch nie bis zum mittleren Theil der Insel geführt hatten. Sie ahnten natürlich auch nicht, daß dieser bereits einen Namen erhalten hatte, daß er[397] der Montrose-Fluß hieß, und ebensowenig kannten sie den neuen Namen des Pic Zermatt, auf dem die britische Flagge wehte. Wie erfreut mußte erst Jenny sein, wenn sie erfuhr, daß dieser Wasserlauf, einer der bedeutendsten der Neuen Schweiz, den Namen ihrer Familie trug!

Nach einer Stunde Weges verließen die Wanderer den ziemlich schroff nach Osten abbiegenden Montrose, und zwei Stunden später betraten die wie gewöhnlich vorauseilenden Fritz und Franz zuerst wieder eine ihnen schon bekannte Gegend.

»Das Grünthal!« riefen sie und begleiteten ihren Ruf mit freudigem Hurrah.

Thatsächlich lag das Grünthal vor ihnen und sie brauchten darin nur bis zu der Palissadenwand, die das Gelobte Land abschloß, vorzudringen, um an den Engpaß der Cluse zu gelangen.

Jetzt hätte keine Rücksicht, nicht Hunger und nicht Erschöpfung, weder die einen noch die anderen aufzuhalten vermocht. Alle folgten trotz des holperigen Weges Fritz und Franz mit schnellen Schritten. Es war als würden sie mächtig vorwärts getrieben angesichts des Zieles, das sie kaum je noch zu erreichen gehofft hatten.

O, wenn jetzt durch besonders glücklichen Zufall die Herren Zermatt und Wolston in der Einsiedelei von Eberfurt wären, wenn deren Familien sie, wie in der schönen Jahreszeit so häufig, dahin begleitet hätten...

Doch das wäre, wie man zu sagen pflegt, »des Glückes allzuviel« gewesen, und selbst John Block wollte darauf nicht hoffen.

Jetzt zeigte sich das nordwestliche Ende des Grünthals zwischen seinen Felsenwänden, und Fritz drang nach dem Hohlweg vor.

Die Pfähle an dessen Eingange standen noch fest in den Spalten des steinigen Bodens, fest genug, auch den kräftigsten Vierfüßlern zu widerstehen.

»Da... unser Thor! rief Fritz.

– Ja, sagte Jenny, das Thor unseres Gelobten Landes, wo alle die weilen, die wir lieben!«

Jetzt galt es nur, einen der breiten Pfähle auszuheben, was in wenigen Minuten geschehen war.

Endlich betrat man den Engpaß, und jeder hatte das Gefühl, als ob er »nach Hause« zurückkehrte, in die Heimat, von der man sich noch vor drei Tagen um viele hundert Lieues entfernt glaubte.[398]

Fritz, Franz und John Block setzten den Pfahl wieder in seine Vertiefung ein, um Raubthieren und Dickhäutern keinen Eingang frei zu lassen.

Gegen halb acht Uhr brach mit der den Tropenzonen eigenen Schnelligkeit die Nacht herein, als Fritz und die übrigen gerade bei der Einsiedelei von Ebenfurt eintrafen.

In der Meierei befand sich niemand, und wenn man das bedauerte, so war es doch nicht zu verwundern.

Das Häuschen hier zeigte sich gut erhalten. Nachdem Thür und Fenster geöffnet worden waren, richtete man sich zu einer letzten Rast ein, die nur etwa zehn Stunden dauern sollte.

Die Wohnung befand sich – der ältere Zermatt hielt stets darauf – in dem Zustande, die beiden Familien bei ihren mehrfachen Besuchen in jedem Jahre bequem aufnehmen zu können. Jenny, Doll, Suzan, der kleine Bob und der Kapitän Gould erhielten die vorhandenen Lagerstätten angewiesen, der mit trockenem Grase bedeckte Erdboden des Schuppens genügte den anderen für die letzte Nacht, die ihrer Rückkehr noch vorausging.

Eberfurt war übrigens stets mit Mundvorrath für eine Woche versorgt.

Jenny brauchte also nur die großen Weidenkörbe zu öffnen, die Conserven verschiedener Art, Sago, Cassavebrod oder Maniokmehl und eingesalzenes Fleisch und geräucherte Fische enthielten. Um sich Obst, wie Feigen, Mandeln, Bananen, Birnen oder Aepfel, zu beschaffen, bedurfte es nur weniger Schritte, solches von den Bäumen zu pflücken, und ebenso bequem war Gemüse aus dem Küchengarten zu holen.

Selbstverständlich waren Küche und Speisezimmer mit allem nothwendigen Geräth ausgestattet. Bald loderte ein tüchtiges Feuer auf dem Herde auf und stand der Kochtopf auf dem Dreifuße darüber. Das nöthige Wasser wurde einer Ableitung des Ostflusses entnommen, die den Behälter der Meierei speiste. Zur großen Befriedigung gereichte es endlich allen, sich an einigen Glas Palmwein aus den im Keller lagernden Fäßchen erquicken zu können.

»Sapperlot, rief der Obersteuermann jubelnd, wir sind auch lange genug auf schmale Wassercur gesetzt gewesen!

– Wir werden Ihnen auch tüchtig zutrinken, lieber Block, sagte Fritz.

– O, so viel Sie wollen, antwortete der Obersteuermann. Es giebt doch gar nichts schöneres, als sich mit einem Schluck guten Weines gegenseitig auf seine Gesundheit zuzutrinken![399]

– Und auch, bemerkte Franz, auf das Glück, unsere Eltern und unsere Freunde in Falkenhorst oder Felsenheim wiederzusehen!«

Beim Klange der Gläser ertönten somit drei Hurrahs zu Ehren der Familien Zermatt und Wolston.

»Wahrhaftig, erklärte John Block, es giebt in England und auch anderswo so manches Gasthaus, das sich mit dem der Einsiedelei Eberfurt nicht messen kann.

– Und dazu, wackerer Block, antwortete Fritz, vergessen Sie nicht, daß hier der Unterhalt nichts kostet!«

Nach dem frohen Mahle begaben sich Jenny, Doll, Suzan und das Kind in dem einen, der Kapitän Gould in dem anderen Zimmer, und Fritz, Franz, James und der Obersteuermann unter dem Schuppen zur Ruhe, deren sie nach der langen Wanderung gar sehr bedurften.

Die Nacht verlief unter den besten Umständen und alle schliefen tief und ununterbrochen bis zum Aufgang der Sonne.

Quelle:
Jules Verne: Das zweite Vaterland. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXXVII–LXXVIII, Wien, Pest, Leipzig 1901, S. 386-400.
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