Vierzehntes Kapitel.
In Gefangenschaft.

[183] Das Bauwerk, wohin die Gefangenen Sohars geführt wurden, war der alte Bordj des Fleckens. Schon seit einer Reihe von Jahren lag er in Ruinen. Seine verfallenen Mauern krönten einen mäßig hohen Hügel an der Westgrenze der Oase. Früher, zur Zeit der großen Kämpfe zwischen den verschiedenen Stämmen des Djerid, hatte diese Befestigung, ein einfaches Fort, den Tuaregs von Zenfig als Stützpunkt und Rückhalt gedient; nach der Beruhigung des Landes hatte sich aber niemand darum bemüht, es wieder auszubessern und in gutem Zustande zu erhalten.

Ein an vielen Stellen durchlöcherter »Sour« diente dem Bordj als Umwallung, und über das Ganze erhob sich ein seiner Spitze beraubtes Minaret, von dem aus man nach allen Seiten eine weitreichende Aussicht hatte.

So verfallen der Bordj auch war, enthielt er in seinem mittleren Teile doch noch einige bewohnbare Räume. Zwei oder drei nach einem innern Hofe zu gelegene Gemächer, die freilich ohne alle Möbel und ohne Wandbekleidung waren und die dicke Wände voneinander schieden, konnten noch gegen gelegentliche[183] Unwetter in der guten und gegen die Kälte in der schlechten Jahreszeit Schuh gewähren.

Hierher waren nun der Ingenieur der Kapitän Hardigan der Brigadier Pistache, »Herr« François und die beiden Spahis sofort nach dem Eintreffen in Zenfig gebracht worden.

Hadjar hatte kein Wort an sie gerichtet, und Sohar, der sie unter der Bedeckung von einem Dutzend Tuaregs nach dem Bordj führte, gab auf ihre Fragen keine Antwort.

Bei dem Überfalle auf das Lager war es dem Kapitän Hardigan und seinen Begleitern natürlich unmöglich gewesen, ihre Waffen – Säbel, Revolver und Karabiner – zu ergreifen. Sie wurden zu schnell überwältigt, durchsucht und des Geldes, das sie bei sich hatten, beraubt. François aber schnaubte vor gerechter Entrüstung, daß die Räuber ihm auch sein gesamtes Rasierzeug entrissen hatten.

Als Sohar sie allein gelassen hatte, besichtigten der Kapitän und der Ingenieur zunächst den Bordj etwas eingehender.

»Wenn man in ein Gefängnis eingesperrt ist, meinte von Schaller, ist es die erste Pflicht, es zu untersuchen...

– Und die zweite, fiel der Kapitän Hardigan ein, daraus zu entfliehen.«

Alle durchstreiften nun den innern Hof, in dessen Mitte sich das Minaret erhob. Hier zeigte es sich, daß die gegen zwanzig Fuß hohen Umfassungsmauern entschieden unübersteigbar waren. Darin befand sich auch keine Öffnung oder Schießscharte, wie in dem äußern Sour, der den Rundpfad für die Wachtposten abschloß. Nur eine einzige nach diesem Wege zu aufschlagende Pforte bildete den Zugang zum innern Hofe. Diese hatte Sohar sorgsam abgeschlossen, und ihre dicken, mit Eisenbeschlag verstärkten Flügel zu zertrümmern, daran war gar nicht zu denken. Nur durch diese Tür konnte man aber hinaus gelangen, und dann war noch obendrein darauf zu rechnen, daß auch die Umgebung des Bordj stets überwacht würde.

Langsam kam die Nacht, eine Nacht, die die Gefangenen in völliger Finsternis verbringen sollten, denn eine Beleuchtung hatten sie sich nicht beschaffen können, nur einige Lebensmittel besaßen sie, nichts weiter. In den ersten Stunden erwarteten sie noch, daß ihnen etwas Nahrung gebracht würde, und auch Wasser, denn sie kamen vor Durst schon bald um. Die Pforte öffnete sich jedoch nicht.[184]

Im gebrochenen Lichte der kurzen Dämmerung hatten die Gefangenen den Hof besichtigt, und dann sich in eines der Zimmer zurückgezogen, wo mehrere Haufen getrockneter Alfa ihnen als Lagerstätten dienten. Hier bemächtigten sich ihrer recht trübe Gedanken. In dem Gespräch, das sie noch miteinander führten, äußerte der Brigadier unter anderm:

»Sollten die Schurken uns hier verhungern lassen wollen?«


Alle durchstreiften den innern Hof. (S. 184.)
Alle durchstreiften den innern Hof. (S. 184.)

Das war ja nicht gerade zu befürchten. Vor der letzten Marschstrecke, etwa zehn Kilometer vor Zenfig, hatte die Tuaregbande Halt gemacht, und die Gefangenen[185] hatten ihr Teil erhalten von den Nahrungsmitteln, womit die Meharis beladen waren. Natürlich hätten der Kapitän und seine Begleiter am Abend gern etwas gegessen, wirklich quälend konnte ihr Hunger aber erst am folgenden Tage werden, wenn man ihnen nicht frühzeitig Nahrungsmittel in ausreichender Menge zukommen ließ.

»Wir wollen nun versuchen zu schlafen, sagte der Ingenieur.

– Und zu träumen, wir säßen vor einem gedeckten Tisch mit Koteletten, einer gebratenen Gans, Salat und...

– Halt... nicht weiter, Brigadier, ließ sich François vernehmen, wir wären wohl auch mit einer guten Suppe mit Speck zufrieden!«

Was mochte nun Hadjar bezüglich seiner Gefangenen beschlossen haben? Den Kapitän Hardigan hatte er ohne Zweifel wiedererkannt; würde er sich jetzt, wo er diesen in seiner Gewalt hatte, nicht an ihm rächen, oder ihn gar samt seinen Begleitern töten wollen?

»Das glaub' ich nicht, erklärte von Schaller. Unser Leben dürfte schwerlich bedroht sein. Die Tuaregs haben im Gegenteil ein Interesse daran, uns schon mit Rücksicht auf spätere Ereignisse als Geiseln zurückzubehalten. Es ist auch anzunehmen, daß Hadjar und die Tuaregs, um die Vollendung der Kanalarbeiten zu verhindern, ihre Angriffe auf den Werkplatz am Kilometerstein dreihundertsiebenundvierzig wiederholen werden, sobald die Arbeiter der Gesellschaft dahin zurückgekehrt sind. Ein neuer Versuch könnte Hadjar aber mißglücken. Er kann dabei den Behörden in die Hände fallen, und dann würde man ihn so gut bewachen, daß ihm eine nochmalige Flucht unmöglich wäre. Für ihn ist es also von Wichtigkeit, uns in seiner Gewalt zu behalten... bis zu dem Tage, wo Hadjar, von einer neuen Ergreifung bedroht, sagen würde: 'Mein Leben und das meiner Gefährten gegen das meiner Gefangenen', und damit würde er jedenfalls Gehör finden. Ich glaube auch, daß dieser Tag nicht mehr fern ist, denn der zweifache kühne Handstreich Hadjars muß zur Stunde schon bekannt sein, und bald genug wird er Maghzens und Goums oder andre zu unsrer Befreiung entsendete Truppen vor sich auftauchen sehen.

– Möglicherweise haben Sie damit recht, antwortete Kapitän Hardigan. Wir dürfen trotzdem aber nicht vergessen, daß Hadjar ein rachsüchtiger und grausamer Mann ist. Der Stimme der Vernunft zu lauschen, wie wir es tun würden, ist wider seine Natur... er denkt jedenfalls nur daran, seine persönliche Rache zu üben...[186]

– Und sie an Ihnen auszulassen, Herr Kapitän, setzte der Brigadier Pistache hinzu, an Ihnen, weil Sie den Burschen erst vor einigen Wochen festgenommen hatten.

– Jawohl, Brigadier, und mich wundert's selbst nicht wenig, daß er sich, da er wußte, wer ich war, und er mich wiedererkannt hatte, nicht gleich zur schlimmsten Gewalttätigkeit hatte hinreißen lassen. Doch... das wird sich ja noch zeigen. Jedenfalls sind wir vorläufig in seiner Hand und wissen über das Schicksal Vilettes und Pointars ebensowenig wie über das unsre. Ich, lieber Schaller, bin aber, wie die suchen liegen, nicht der Mann, als Preis für die Freiheit Hadjars zu dienen, auch nicht eine Trophäe seines Räuberlebens zu bilden.

Koste es was es will: wir müssen von hier entfliehen, und wenn mir der dazu geeignete Augenblick gekommen scheint, werde ich auch das Unmögliche versuchen, von hier wegzukommen. Doch was mich betrifft, will ich frei sein, nicht ein ausgewechselter Gefangener, wenn ich vor meine Kameraden trete, und mein Leben will ich hüten, um – den Revolver oder den Säbel in der Faust – mich dem Räuber gegenüberzustellen, der sich unser jetzt bemächtigt hat.«

Während der Kapitän Hardigan und der Herr von Schaller über Fluchtpläne nachsannen, rechneten Pistache und François, obwohl entschlossen, ihren Vorgesetzten zu folgen, doch mehr auf Hilfe von draußen, vielleicht sogar auf die Findigkeit ihres Freundes Coupe-à-Coeur.

So lagen vorläufig also die Dinge, deren Erkenntnis sich niemand enthalten konnte.

Wie bekannt, war Coupe-à-Coeur den Gefangenen bis Zenfig nachgelaufen, ohne daß die Tuaregs ihn wegzujagen versucht hätten. Als der Kapitän nebst seinen Begleitern aber in den Bordj eingesperrt wurden, hatte man das treue Tier nicht mit zu ihnen hineingelassen. Ob das mit Absicht geschehen war, ließ sich schwer beurteilen. Jedenfalls bedauerten alle, den Hund nicht bei sich zu haben. Und doch, was hätte er ihnen trotz seiner Intelligenz und seiner Ergebenheit hier nützen können?

»Ja, das kann man nicht wissen, meinte der Brigadier Pistache bei einem Gespräch mit François. Den Hunden kommen durch ihren Instinkt Eingebungen, die den Menschen abgehen. Erwähnte jemand Coupe-à-Coeur gegenüber seinen Herrn Nicol und seinen Freund Va d'l'avant, so würde er sich vielleicht selbst aufmachen, diese zu suchen. Da wir freilich aus diesem verwünschten Hofe nicht[187] hinauskommen können, könnte das Coupe-à-Coeur wohl ebensowenig. Doch gleichviel, ich sähe ihn gern an unsrer Seite. Wenn die Schufte ihm nur kein Leid angetan haben!«

»Herr« François begnügte sich statt einer Antwort mit den Achseln zu zucken und rieb sich nur Kinn und Wangen, die von den frischen Bartstoppeln schon recht rauh aussahen.

Nachdem die Gefangenen vergeblich gewartet hatten, daß man ihnen etwas Nahrung bringen würde, konnten sie nur daran denken, der ihnen recht notwendigen Ruhe zu pflegen. So streckten sie sich denn auf den Alfahaufen aus und schliefen, der eine eher, der andre später, ein und erwachten nach einer ziemlich schlechten Nacht auch erst beim nächsten Tagesgrauen.

»Sollen wir, bemerkte François sehr zutreffend, aus dem gestrigen Ausbleiben des Abendessens nun etwa schließen, daß wir kein Frühstück erhalten werden?

– Das wäre schändlich.. geradezu abscheulich!« antwortete der Brigadier Pistache, der laut gähnte, um die Kinnladen beweglich zu machen, doch nicht infolge des Schlafes, sondern diesmal rein aus Hunger.

Die Gefangenen sollten über die interessante Frage bald im Klaren sein. Nach Verlauf einer Stunde kamen Ahmet und ein Dutzend Tuaregs in den Hof und brachten etwas von demselben Kuchen, wie am Tage vorher, ferner so viel kaltes Fleisch und Datteln, daß es für sechs Personen und einen Tag genügen mußte. Daneben stellten sie einige Krüge mit frischem Wasser hin, das aus dem die Oase Zenfig durchströmenden Oued geschöpft war.

Noch einmal versuchte Kapitän Hardigan sich über das Schicksal zu erkundigen, das ihnen von dem Tuareghäuptling beschieden wäre, und er stellte deshalb diese Frage an Ahmet.

Dieser ließ sich jedoch, ebensowenig wie Sohar am vorigen Abend, zu einer Antwort herbei. Er folgte damit jedenfalls einem gemessenen Befehle und verließ den Hof wieder, ohne ein Wort gesprochen zu haben. So verstrichen drei Tage ohne die geringste Änderung der Sachlage. Aus dem Bordj zu entweichen, erwies sich als unmöglich, wenigstens wenn das nur durch Übersteigen der Mauern geschehen konnte, woran doch wegen Mangels einer Leiter gar nicht zu denken war. Gelangten sie über die Mauern, so hätten der Kapitän Hardigan und die übrigen unter dem Schutze der Dunkelheit wohl aus der Oase entfliehen können.[188]

Der Bordj schien an der Außenseite tatsächlich nicht überwacht zu werden, wenigstens war, am Tage wie in der Nacht, niemals der Schritt eines Wachtpostens zu hören. Wozu wäre es auch nötig gewesen, da die Mauern ein unübersteigliches Hindernis bildeten und die feste Tür des Hofes doch nicht zu sprengen war.

Vom ersten Tage ihrer Einkerkerung an war es übrigens dem Brigadier Pistache gelungen, die Lage und Gestalt der Oase zu erkunden. Mit vieler Mühe und hundertmal in Gefahr, den Hals zu brechen, hatte er die verfallene Treppe des Minarets erstiegen und war bis zu dessen, seiner Haube beraubten oberstem Teile hinausgekommen.

Von hier betrachtete er, um nicht beobachtet zu werden, nur durch die letzten noch übrigen Zinnen, das weite Panorama, das sich vor seinen Augen entrollte.

Unter ihm und rings um den Bordj lag der F(ecken verstreut zwischen den Bäumen der Oase von Zenfig. Weiter draußen zeigte sich das Gebiet des Henguiz, von Osten nach Westen etwa in der Länge von drei bis vier Kilometern. Mit der Vorderseite nach Norden lagen die meisten Wohnstätten, die inmitten des dunkeln Grüns um so weißer aussahen. An der von einer dieser Wohnungen eingenommenen Stelle, an der Gesamtheit der Bauten, die deren Mauern umschlossen, an dem regern Verkehr, der vor der Tür herrschte, und an der Zahl der Fahnen, die vor dem Eingange im Winde flatterten, glaubte der Brigadier Pistache mit Recht zu erkennen, daß sich da die Wohnung Hadjars befinden müsse, und er täuschte sich tatsächlich nicht.

Als der Brigadier am Nachmittage des 20. seinen Beobachtungsposten auf der Höhe des Minarets wieder eingenommen hatte, bemerkte er eine außergewöhnliche Bewegung in dem Flecken, dessen Häuser sich nach und nach entleerten. Eine große Zahl Eingeborner schien überdies von verschiedenen Punkten des Henguiz aus nach der Oase zu ziehen.

Handelskarawanen waren das nicht, denn kein Mehari, kein Saumtier war dabei zu erblicken.

Vielleicht trat hier auf eine Aufforderung Hadjars hin an diesem Tage eine wichtige Versammlung in Zenfig zusammen. Jedenfalls war dessen Hauptplatz bald von einer großen Menschenmenge besetzt.

Da er sah, was hier vorging, sagte sich der Brigadier, daß sein Kapitän davon unterrichtet werden müsse, und er rief diesen deshalb herbei.[189]

Der Kapitän zögerte nicht, sich zu Pistache nach dem engen Reduit des Minarets zu begeben, doch nur unter größten Beschwerden gelang es ihm, bis zu diesem emporzuklimmen.

Richtig: zu einer Art Palaver hatten sich hier mehrere Hundert Tuaregs in Zenfig versammelt. Von der Höhe der »Soumah« vernahm man lautes Geschrei und sah man eine heftige Bewegung unter der Menschenmenge, was erst ein Ende nahm, als ein Mann, dem nebst einer Frau ein andrer folgte, aus dem Hause trat, das der Brigadier schon vorher als das des Tuareghäuptlings bezeichnet hatte.

»Das ist Hadjar!... Ja ja, das ist er! rief Kapitän Hardigan. Ich erkenne ihn wieder.«

Es war in der Tat Hadjar mit seiner Mutter Djemma und seinem Bruder Sohar, die bei ihrem Erscheinen stürmisch begrüßt wurden.

Als etwas Ruhe eingetreten war, ergriff der von der Volksmenge umringte Hadjar das Wort und redete eine Stunde lang, nur wiederholt von rauschendem Beifall unterbrochen, auf die Eingebornen ein. Was er da sagte, konnten der Kapitän und der Brigadier freilich nicht verstehen. Aufs neue ertönten endlich laute Rufe, als die Versammlung sich auflöste, und nachdem Hadjar in seine Behausung zurückgekehrt war, trat in der Ortschaft wieder die gewohnte Ruhe ein.

Der Kapitän Hardigan und Pistache stiegen nun wieder nach dem Hofe hinunter und machten ihren Gefährten Mitteilung von dem, was sie beobachtet hatten.

»Ich glaube, sagte darauf der Ingenieur, daß diese Volksversammlung zusammengerufen war, um gegen die Überflutung des Schotts Einspruch zu erheben, und wahrscheinlich werden die Folgen davon neue Überfälle sein, jedenfalls...

– Ja, das glaub' ich auch, bemerkte Kapitän Hardigan. Das könnte übrigens darauf hindeuten, daß Pointar bei der Sektion Goleah wieder eingetroffen ist.

– Wenn sich's bei der Sache nur nicht um uns gehandelt hat, meinte der Brigadier Pistache, und wenn die Spitzbuben nicht etwa nur zusammengekommen sind, um der Abschlachtung der Gefangenen beizuwohnen.«

Alle schwiegen eine Zeitlang still. Der Kapitän und der Ingenieur wechselten einen Blick, der ihre innersten Gedanken verriet. Leider war es ja zu befürchten,[190] daß der Tuareghäuptling Wiedervergeltung zu üben gedachte, daß er zur Abschreckung eine öffentliche Hinrichtung plante, und daß die verschiedenen Stämme aus dem Henguiz nur zu diesem Zwecke zusammengerufen worden waren. Und wie konnte man anderseits noch Hoffnung auf eine Hilfe von außen, von Biskra oder von Goleah, bewahren, da der Leutnant Vilette ja nicht wußte, wohin die Gefangenen geschleppt worden und in die Hände welches Eingebornenstammes sie gefallen waren.

Vor dem Abstieg vom Minaret hatten der Kapitän Hardigan und der Brigadier Pistache noch einmal Umschau gehalten über das ganze Gebiet des Melrir, das sich vor ihren Augen ausdehnte. Alles öde und leer im Norden wie im Süden, ebenso verlassen der Teil, der im Osten und im Westen von beiden Seiten das Henguiz umschloß, das nach der Unterwassersetzung des Schotts zu einer Insel werden sollte. Auf der weiten Bodensenke war nirgends eine Karawane zu erblicken. Und was die Abteilung des Leutnants Vilette betraf, was hatten die wenigen Mann, angenommen, daß seine Nachsuchungen ihn nach Zenfig geführt hätten, wohl ausrichten können gegen die ziemlich bevölkerte Ortschaft?

Hier blieb also nichts andres übrig, als die Entwicklung der Dinge – doch mit welcher Besorgnis – abzuwarten. Von einer Minute zur andern konnte sich ja die Tür des Bordj öffnen und Hadjar mit den Seinigen eintreten. Wäre es dann möglich, ihnen Widerstand zu leisten, wenn der Tuareghäuptling sie nach dem offnen Platze zur Hinrichtung abführen ließ? Und was heute nicht geschah, konnte das nicht morgen geschehen?

Der Tag verlief jedoch, ohne daß eine Änderung der Sachlage eintrat. Der am Morgen im Hofe niedergelegte Proviant genügte den Gefangenen, und als der Abend kam, streckten sie sich auf den Alfalagerstätten in dem Raume aus, wo sie die vergangenen Nächte zugebracht hatten.

Kaum war aber eine halbe Stunde verflossen, als sich von draußen ein Geräussch vernehmen ließ. Sollten vielleicht einige Targui als Wächter um den Bordj patrouillieren, oder sollte sich die Pforte öffnen und Hadjar die Unglücklichen zum letzten Gange abholen lassen?

Der Brigadier war sofort aufgesprungen und lauschte, an die Tür gelehnt, dem unerwarteten Geräusche. Ein Laut von Tritten schlug ihm aber nicht ans Ohr, sondern eine Art dumpfen und kläglichen Gekläffs. Offenbar lief ein Hund an der äußern Seite des Sour umher.[191]

»Coupe-à-Coeur!.. Das ist Coupe-à-Coeur!« rief Pistache.

Er duckte sich bis zur Türschwelle nieder.

»Coupe-à-Coeur!... Coupe-à-Coeur! wiederholte er. Bist du es, mein treuer Hund?«

Das Tier erkannte die Stimme des Brigadiers, wie es die seines Herrn Nicol erkannt hätte, und antwortete durch erneutes, halb verhaltenes Bellen.

»Ja ja... wir sind es... Coupe-à-Coeur... wir sind hier! rief Pistache ihm zu. Ach, wenn du doch den Wachtmeister aufspüren könntest, und seinen alten Bruder, deinen Freund Va d'l'avant... Va d'l'avant, verstehst du, und sie unterrichten könntest, daß wir in dieser Hütte eingesperrt sind!«

Kapitän Hardigan und die übrigen hatten sich der Tür genähert. O, wenn sie sich hätten des Hundes bedienen können, mit ihren Gefährten in Verbindung zu treten! Nur ein Zettel, an seinem Halsband befestigt! Wer weiß, ob das treue Tier dann, durch seinen Instinkt geleitet, den Leutnant Vilette nicht hätte finden können. Erfuhr dieser aber, wo sich seine Gefährten befanden, so setzte er gewiß alles daran, sie zu befreien.

Auf keinen Fall durfte Coupe-à-Coeur aber auf dem Gange vor der Türe des Bordj überrascht werden. Deshalb rief der Brigadier ihm zu:

»Geh, mein guter Hund... fort von hier.«

Coupe-à-Coeur verstand ihn und trottete mit einem letzten Abschiedsgebell davon. Am nächsten Morgen wurden, wie am Tage vorher, zu früher Stunde Lebensmittel in den Hof geschafft, und alles deutete dar auf hin, daß die Lage der Gefangenen auch heute noch keine Änderung erfahren würde.

In der folgenden Nacht erschien der Hund nicht wieder, wenigstens hörte Pistache, der immer auf der Lauer lag, von ihm nichts. Da fragte er sich, ob das arme Tier nicht vielleicht einen tödlichen Schlag erhalten habe, und ob er es nie wiedersehen sollte.

Die beiden nächstfolgenden Tage wurden durch keinen Zwischenfall unterbrochen, und auch im Orte blieb es still wie vorher.

Erst am 24., gegen elf Uhr, bemerkte der Kapitän Hardigan, der sich zur Beobachtung auf dem Minaret befand, in Zenfig eine lebhaftere Bewegung. Es klang wie ein Getrappel von Pferden und wie ein Klirren von Waffen, das man bis dahin niemals gehört hatte. Gleichzeitig strömte die Bevölkerung in großer Menge nach dem freien Platze, wohin auch zahlreiche Reiter unterwegs waren.[192]

Sollte der Kapitän Hardigan nebst seinen Gefährten heute etwa Hadjar vorgeführt werden?

Nein, auch heute geschah das nicht, vielmehr deutete alles auf einen Aufbruch des Tuareghäuptlings hin. Mitten auf dem Platze zu Pferde sitzend, ließ er gegen hundert Reiter wie zur Besichtigung an sich vorüberziehen.

Eine halbe Stunde später setzte sich Hadjar an die Spitze des Trupps und ritt von dem Flecken aus in der Richtung des Henguiz hin.

Der Kapitän begab sich sofort nach dem Hofe hinunter und berichtete seinen Gefährten von dem Aufbruche der Reiter.


Der Hund war ihm an die Kehle gesprungen. (S. 197.)
Der Hund war ihm an die Kehle gesprungen. (S. 197.)

»Das handelt sich wieder um einen Angriff auf Goleah, wo die Arbeiten jedenfalls wieder aufgenommen worden sind, meinte der Ingenieur.

– Wer weiß da, ob Hadjar nicht unterwegs mit Vilette und seiner Abteilung zusammenstößt, sagte der Kapitän.

– Ja... möglich ist wohl alles, sicher aber ist das nicht, antwortete der Brigadier. Gewiß ist nur das eine, daß sich uns jetzt, wo Hadjar mit seinen Spießgesellen abgezogen ist, der Augenblick zum Entfliehen bietet.

– Wie aber? fragte einer der Spahis.

– Ja... wie?... Wie können wir die Gelegenheit benützen, die sich uns jetzt darbietet? Sind die Mauern des Bordj heute nicht ebenso unübersteigbar wie vorher? Vermöchten wir denn die von außen sorgsam verwahrte Tür zu sprengen? Und wenn das möglich wäre, von wo könnten wir auf Unterstützung hoffen?«

Diese Unterstützung kam jedoch, und zwar unter folgenden Umständen:

In der folgenden Nacht ließ der Hund, wie schon beim ersten Male, ein dumpfes Bellen hören, und gleichzeitig scharrte er auf dem Erdboden neben der Tür. Von seinem Instinkt geleitet, hatte Coupe-à-Coeur eine Öffnung unter diesem Teile des Sour aufgespürt, ein halb mit Erde gefülltes Loch, das vom Innern nach außen eine Verbindung herstellte.

Und plötzlich sah ihn der Brigadier ganz wider Erwarten im Hofe auftauchen.

Ja... Coupe-à-Coeur stand neben ihm, sprang bellend hin und her, und es kostete einige Mühe, das brave Tier etwas zu beruhigen.

Sofort stürmten der Kapitän Hardigan, Herr von Schaller und die übrigen aus dem Schlafraum hervor und folgten dem Hunde, der wieder nach dem Loche lief.[195]

Dieses bildete die Mündung eines schlauchartigen Ganges, und es mußte genügen, rings herum noch einige Steine auszubrechen, damit ein Mensch sich hindurchwinden könnte.

»Da winkt uns eine Aussicht zur Flucht!« rief Pistache.

Ja... eine sehr unerwartete, die noch in derselben Nacht, und ehe Hadjar nach Zenfig zurückkehrte, benützt werden mußte.

Und doch bot der Weg durch den Flecken und weiter durch die Oase gewiß noch die ernstesten Schwierigkeiten. Wohin sollten sich die Flüchtlinge inmitten der tiefen Finsternis wenden? Liefen sie nicht Gefahr, der Reitertruppe Hadjars zu begegnen? Wie sollten sie überhaupt die fünfzig Kilometer bis Goleah ohne Lebensmittel zurücklegen, da sie zu ihrer Ernährung ja nichts hatten, als die Früchte und die eßbaren Wurzeln der Oase?

Doch keiner von ihnen wollte sich durch solche Gefahren abschrecken lassen. Sie zögerten keinen Augenblick, zu entfliehen. Alle folgten dem Hunde durch die Öffnung, durch die dieser zuerst verschwand.

»Nun vorwärts, sagte der Offizier zu Pistache.

– Nach Ihnen, Herr Kapitän,« antwortete der Brigadier.

Es mußte eine gewisse Vorsicht beobachtet werden, um ein Nachstürzen von Steinen aus der Mauer zu verhüten. Das glückte jedoch den Gefangenen, und etwa zehn Minuten später standen sie auf dem Ringwege des Bordj.

Die Nacht war sehr dunkel, wolkig und sternenlos. Der Kapitän Hardigan und seine Gefährten hätten nicht gewußt, welche Richtung sie einschlagen sollten, wenn der Hund ihnen nicht als Führer gedient hätte. So brauchten sie sich nur auf das intelligente Tier zu verlassen. Übrigens begegneten sie niemand in der nächsten Umgebung des Bordj, von dessen Abhängen sie sich bis zum Saume der ersten Bäume hinabgleiten ließen.

Es war jetzt elf Uhr nachts. In der Ortschaft herrschte tiefe Stille und durch die Fensteröffnungen – wirkliche Schießscharten – der Wohnstätten drang kein Lichtstrahl.

Vorsichtigen Schrittes wagten sich die Flüchtlinge unter die Bäume, und bis zum Ausgange des Fleckens waren sie noch mit niemand zusammengetroffen.

Da plötzlich trat ihnen ein Mann mit brennender Laterne in der Hand entgegen. Sie erkannten ihn, und er sie nicht minder.

Es war Mezaki, der von dieser Seite des Fleckens nach seiner Wohnung zurückkehrte.[196]

Mezaki gewann nicht einmal Zeit, einen Schrei auszustoßen: der Hund war ihm an die Kehle gesprungen, und der Verräter sank leblos zur Erde.

»Gut... brav gemacht, Coupe-à-Coeur,« sagte der Brigadier.

Der Kapitän und seine Genossen brauchten sich nun nicht mehr zu beunruhigen wegen des elenden Schurken, der vor ihnen tot am Boden lag, und schnellen Schrittes folgten sie erst der Grenze des Henguiz und wandten sich dann nach Osten dem Melrir zu.

Quelle:
Jules Verne: Der Einbruch des Meeres. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXXXVII, Wien, Pest, Leipzig 1906, S. 183-193,195-197.
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