Sechzehntes Kapitel.
Das Tell.

[206] Ein wenig nach sieben Uhr war es, als der Kapitän Hardigan und seine Gefährten das Henguiz verließen. Die eigentümliche Art des Erdbodens bedingte nun die größte Vorsicht beim weitern Marsche, denn die salzigen Effloreszenzen der Oberfläche erlaubten kein Urteil darüber, ob er fest genug sei oder ob man bei jedem Schritt Gefahr liefe, in ein Sumpfloch zu versinken.

Nach den Sondierungen des Kapitäns Roudaire und nach denen, die er selbst vorgenommen hatte, wußte der Ingenieur, woran er sich bezüglich der Natur dieses Gebietes, dessen Erdboden der Grund der Sebkhas und der Schotts bildete, zu halten hatte.

Oben bedeckt ihn eine salzhaltige Kruste, die noch gewissen, sehr merkbaren Verwerfungen unterliegt. Darunter ist der Sand mit Mergel gemischt und zuweilen halbflüssig, da er oft zwei Dritteile Wasser enthält, also jedes festen Zusammenhangs ermangelt. Sehr oft treffen die Sonden erst in großer Tiefe auf einen felsigen Untergrund. Es war also kein Wunder, daß nicht selten Menschen und Pferde in diese schlammige Masse einsanken, als ob ihnen plötzlich der Boden fehlte, ohne daß es möglich war, ihnen Hilfe zu leisten.

Bei dem Weggange vom Henguiz wäre es für die Flüchtlinge sehr wünschenswert gewesen, die Fährte vom Vorüberkommen Hadjars und seiner[206] Tuaregtruppe zu entdecken, die ja über diesen Teil des Schotts geritten waren. Hufeindrücke hätten auf der weißen Kruste noch nicht verschwunden sein können, da es über dem Melrir seit einigen Tagen nicht geregnet hatte und auch nicht besonders windig gewesen war. In diesem Falle hätten sie nur den Spuren zu folgen brauchen, um sich nicht von den gangbaren Pfaden zu verirren, die den Eingebornen bis zur Oase von Goleah, dem wahrscheinlichen Ziele des Tuareghäuptlings, genügend bekannt waren. Von Schaller suchte jedoch vergeblich nach einer solchen Fährte, was den Schluß nahe legte, daß die Reiterschar dem Rande des Henguiz nicht bis zu dessen Ende gefolgt wäre.

Während des Marsches hielten sich der Kapitän und der Ingenieur an der Spitze, und ihnen lief der Hund gleichsam als Plänkler voraus. Ehe sie sich für die oder jene Richtung entschlossen, bemühten sie sich stets, die Natur des Bodens zu bestimmen, was bei dem ausgedehnten salzhaltigen Gebiete eine zeitraubende Prüfung war. Der Marsch ging also nur langsam von statten und als sie die erste Wegstrecke gegen elf Uhr zurückgelegt hatten, waren die Flüchtlinge nur vier bis fünf Kilometer vorwärts gekommen. Um einmal auszuruhen und etwas zu essen, mußte jetzt aber unbedingt Halt gemacht werden. Nirgends war eine Oase, ein Gehölz, nicht einmal eine Baumgruppe zu erblicken. Nur eine leichte Bodenwelle unterbrach einige hundert Schritt von ihnen die Eintönigkeit der trostlosen Ebene.

»Wir haben leider keine andre Wahl,« sagte der Kapitän Hardigan.

Alle begaben sich noch nach der niedrigen Düne und setzten sich an der Seite von ihr nieder, wo sie gegen die Sonnenstrahlen einigermaßen geschützt waren. Jeder brachte nun ein Stück Fleisch aus der Tasche, vergeblich sachte der Brigadier aber nach einem »Ras«, aus dem ein wenig Trinkwasser zu schöpfen wäre. Kein Oued schlängelte sich durch diesen Teil des Melrir, und so konnten alle ihren Durst nur mit einigen, am vorigen Lagerplatze gepflückten Datteln stillen.

Gegen halb ein Uhr wurde der Marsch wieder aufgenommen und ging nun ohne größre Anstrengung und Schwierigkeit weiter. Soweit es möglich war, suchte der Kapitän, der sich nach dem Stande der Sonne richtete, immer genau die Richtung nach Osten einzuhalten. Fast jeden Augenblick sank er aber mit den Füßen in den Sand ein. Die Bodensenke zeigte hier nur einen geringen Fall, und wenn sie einst mit Wasser gefüllt war, mußte das Schott seine größte Tiefe – etwa dreißig Meter unter der Meeresoberfläche – zwischen dem Henguiz und der Kanalmündung haben.[207]

Der Ingenieur hatte eine diesbezügliche Bemerkung gemacht, und setzte noch hinzu:

»Es wundert mich gar nicht, daß der Boden an dieser Seite noch beweglicher ist als anderswo. In der Regenzeit nehmen diese tiefen Stellen alles Wasser aus dem Melrir auf, und sie können deshalb nie ordentlich fest werden.

– Für uns ist es nur schlimm, daß wir sie nicht vermeiden können, antwortete der Kapitän. Doch wenn wir uns weiter nordwärts wendeten oder weiter nach Süden ohne die sichre Aussicht gingen, dort einen bessern Weg zu finden, so wäre das nur Zeitvergeudung, und wir haben keinen Tag zu verlieren. Die jetzt eingehaltene Richtung weist nach dem nächsten Punkte, den wir zu erreichen trachten müssen; es ist ratsamer, sie nicht zu verändern.

– Gewiß nicht, erklärte von Schaller, und um so weniger, als Hadjar und seine Bande, wenn sie sich nach dem Kilometerstein dreihundertsiebenundvierzig begaben, diesem Weg nicht gefolgt sind.«

In der Tat war hier keine Spur von dem Vorüberkommen der Reiter zu entdecken.

Doch welch mühsamer Marsch, und wie langsam ging er von statten! Wie schwierig war es, sich auf gangbarem Wege zu erhalten! Der vorauslaufende Coupe-à-Coeur kehrte allemal von selbst um, wenn er die weiße Kruste nachgeben fühlte. Dann hieß es anhalten, das Terrain untersuchen, nach links oder rechts, manchmal um fünfzig Meter abweichen, und damit entstanden natürlich viele ärgerliche Umwege. Unter diesen mißlichen Umständen betrug die zweite Etappe denn auch nur anderthalb Lieue. Am Abend mußte die tieferschöpfte kleine Truppe Halt machen, und wenn sie sich dazu auch nicht unbedingt gezwungen sah, wie wäre es möglich gewesen, den Marsch in finstrer Nacht fortzusetzen?

Die fünfte Nachmittagsstunde war herangekommen. Der Kapitän Hardigan sah, daß sich seine Gefährten nicht mehr weiter fortschleppen konnten. Die eben erreichte Stelle eignete sich zu einem Lagerplatze für die Nacht freilich nicht. Ringsum die flache Ebene. Kein Erdhaufen, sich ein wenig anlehnen zu können. Kein Ras, daraus etwas trinkbares Wasser zu schöpfen. Nicht einmal ein Bündel Driß in diesen Bodensenken, diesen »Hoffra«, die nur Salzkristalle tragen. Einzelne Vögel zogen schnellen Flugs über die todesöde Gegend; sie strebten jedenfalls der nächsten, von hier gewiß mehrere Lieues entfernten Oase zu, die zu erreichen den Flüchtlingen unmöglich gewesen wäre.
[208]

François sank bis zur Hälfte des Körpers ein. (S. 211.)
François sank bis zur Hälfte des Körpers ein. (S. 211.)

Da trat plötzlich der Brigadier an den Offizier heran und sagte:

»Herr Kapitän, mit aller Achtung vor Ihren Bestimmungen, ich meine aber doch, wir könnten etwas bessres tun, als an dieser Stelle zu übernachten, die vielleicht sogar die Hunde von Tuaregs verschmähen würden.

– Nun, was denn andres, Brigadier?

– Sehen Sie einmal dorthin... ich glaube mich nicht zu täuschen. Sieht es nicht aus wie eine Düne mit einigen Bäumen darauf, was sich da draußen erhebt?«[209]

Die Hand nach Nordosten ausgestreckt, wies Pistache nach einem, höchstens drei Kilometer entfernten Punkte des Schotts.

Alle sahen in dieser Richtung hin. Der Brigadier täuschte sich nicht. Da draußen erhob sich einer jener kleinen Hügel mit einzelnen Bäumen, ein »Tell« mit vier oder fünf hochstämmigen Palmen... in der Gegend hier ein unerwarteter Anblick. Konnten der Kapitän Hardigan und seine Gefährten diesen Hügel noch erreichen, so bot sich ihnen dort jedenfalls ein bequemerer Lagerplatz für die Nacht.

»Ja, dorthin müssen wir gehen... um jeden Preis! erklärte der Offizier.

– Um so mehr, setzte von Schaller hinzu, als wir damit nicht weit von unserm Wege abkommen.

– Und wer weiß überdies, sagte der Brigadier, ob von jener Stelle aus der Boden des Schotts für unsre geplagten 'Untertanen' (Füße) nicht besser ist.

– Also auf, liebe Leute, auf zu einer letzten Anstrengung!« rief Kapitän Hardigan.

Alle folgten seiner Aufforderung.

Wenn der Erdboden jenseits des Tell, wie Pistache hoffnungsfroh vermutete, mehr anstieg, wenn die Flüchtlinge da einen festen Untergrund finden sollten, so traf das wenigstens für die letzte Stunde des heutigen Marsches nicht zu.

»Bis dorthin komme ich in meinem ganzen Leben nicht, jammerte François.

– O doch... wenn ich euch führe!« antwortete der gefällige Brigadier.

Kaum waren zwei Kilometer zurückgelegt, als die Sonne sich schon zum Verschwinden anschickte. Der im ersten Viertel stehende Mond mußte ihr bald nachfolgen und sich hinter dem Horizonte verbergen. An die unter dieser Breite schon recht kurze Dämmerung schloß sich dann eine tiefe Finsternis an. Hier galt es also, die letzten, einigermaßen hellen Minuten zu benutzen, das Tell zu erreichen.

Der Kapitän Hardigan, Herr von Schaller, der Brigadier, François und die beiden Spahis marschierten gemessenen Schrittes dahin. Der Boden wurde immer schlechter. Seine Kruste brach zuweilen unter dem Fuße, und dann glänzte der Sand herauf, aus dem das darin enthaltene Wasser hervorquoll. Manchmal geriet man bis aus Knie in das halbflüssige Gemisch, und es kostete Mühe, sich daraus wieder zu befreien.[210]

Ja einmal sank François, der sich zu weit vom Wege entfernt hatte, bis zur Hälfte des Körpers ein, und er wäre in einem dieser Löcher, der schon erwähnten »Augen des Meeres«, gewiß ganz versunken, wenn er nicht unwillkürlich die Arme ausgestreckt hätte.

»Zu Hilfe! Zu Hilfe! rief er, verzweifelnd um sich schlagend.

– Aushalten!... Aushalten!« rief seinerseits Pistache.

Und da der Brigadier etwas voraus war, kehrte er schnell um, dem Versinkenden zu helfen. Alle machten in demselben Augenblicke Halt. Dem Bigadier war schon Coupe-à-Coeur vorausgeeilt, der mit einigen mächtigen Sprüngen an der Seite des »Herrn« François war, von dem nur noch der Kopf und die Arme aus der Versenkung herausragten, und der sich sofort krampfhaft an den Hals des kräftigen Tieres klammerte.

Endlich kam der wackre Mann, freilich ganz durchnäßt und mit Mergelschlamm bedeckt, wieder aus dem Loche heraus.

Obgleich es jetzt nicht gerade die passende Zeit zum Scherzen war, sagte Pistache doch zu ihm:

»O, Sie brauchten sich nicht zu ängstigen, Herr François, und wenn Coupe-à-Coeur mir nicht zuvorgekommen wäre, hätte ich Sie an nichts anderm als an Ihrem Barte herausgezogen.«

Wie der Marsch oder richtiger die Rutschpartie noch eine Stunde lang auf dieser Outta weiterging. darüber konnten die Flüchtlinge sich selbst kaum Rechenschaft geben. Sie konnten kaum einen Schritt tun ohne die Gefahr, bis zum halben Leibe einzusinken. So krochen sie, einer dicht neben dem andern, mehr auf dem Sande hin, um einander im Notfalle unterstützen zu können. Gerade in diesem Teile der Niederung fiel der Erdboden immer mehr ab; er bildete gleichsam ein großes Becken, worin sich das Wasser der Ras sammelte, die von dem hydrographischen Netze des Schotts gespeist wurden.

Hier winkte nur eine einzige Aussicht auf Rettung: das vom Brigadier Pistache entdeckte Tell mußte auf jeden Fall erreicht werden. Dort war der Erdboden unzweifelhaft fester bis hinauf zu den Bäumen, die den Rücken der Erhöhung krönten, und damit war den Wandrern jede gewünschte Sicherheit für die Nacht gewährleistet.

In der Dunkelheit war es nun sehr schwierig, den Weg richtig einzuhalten, denn das Tell konnte man überhaupt kaum noch sehen; niemand wußte anzugeben, ob sie sich mehr nach rechts oder nach links wenden sollten.[211]

Jetzt wanderten der Kapitän Hardigan und seine Gefährten auf gut Glück hin weiter, und nur der Zufall konnte sie auf dem richtigen Wege halten.

Endlich schlug Coupe-à-Coeur, ihr eigentlicher Führer, laut an. Es schien danach, als befände sich der Hund von der kleinen Truppe einige hundert Schritte links und auf einer Anhöhe.

»Da drüben liegt ja der Hügel, sagte der Brigadier.

– Jawohl, setzte von Schaller hinzu, und wir hatten uns davon schon entfernt.«

Daß der Hund das Tell gefunden hatte und bis zu den Bäumen hinausgelaufen war, unterlag keinem Zweifel, und sein wiederholtes Bellen bedeutete sicherlich die Einladung, zu ihm zu kommen.

Das geschah denn auch, doch mit welcher Anstrengung und unter welchen Gefahren! Dort stieg der Erdboden allmählich an und wurde gleichzeitig fester. Darauf standen einige Bündel Driß, an denen man sich anhalten konnte, und so kamen denn alle – Pistache hatte »Herrn« François halb mit hinauf geschleppt – auf dem Tell an.

»Na... endlich wären wir ja da!« rief der Brigadier und suchte Coupe-à-Coeur zu beruhigen, der übermütig neben ihm umhersprang.

Es war jetzt fast acht Uhr. Die Dunkelheit verhinderte, etwas von der Umgebung zu erkennen, und so blieb nichts andres übrig, als sich am Fuße der Bäume auszustrecken und einige Stunden der Ruhe zu pflegen. Der Brigadier, François und die beiden Spahis schliefen wohl bald ein, vergeblich suchten aber Herr von Schaller und der Kapitän Hardigan den doch so nötigen Schlummer zu finden. Die Sorge, die Unruhe hielt beide wach. Befanden sie sich denn nicht in der Lage von Schiffbrüchigen, die auf eine unbekannte Insel verschlagen wären, ohne zu wissen, ob sie davon jemals wieder wegkämen? Fanden sie nun am Fuße des Tell besser gangbare Wege? Oder sollten sie, wenn es wieder Tag wurde, sich wie vorher über einen beweglichen Boden hinauswagen? Ja, wer konnte wissen, ob sich der Grund des Schotts in der Richtung nach Goleah nicht noch mehr senkte?

»Wie weit, meinen Sie, mag es bis Goleah noch sein? fragte Kapitän Hardigan den Ingenieur.

– Etwa zwölf bis fünfzehn Kilometer, antwortete von Schaller.

– So hätten wir also die größere Hälfte des Weges hinter uns?

– Das glaube ich!«[212]

Wie langsam schlichen aber die Stunden der Nacht vom 26. zum 27. April dahin. Der Ingenieur und der Offizier beneideten wirklich ihre Gefährten, die infolge der Erschöpfung in einem so festen Schlafe lagen, daß kein Donnerschlag sie daraus erweckt hätte. Trotz eines merkbaren elektrischen Zustandes der Atmosphäre kam es doch zu keinem Gewitterausbruch, dagegen ließ sich, als der Wind völlig nachgelassen hatte, ein unbestimmtes Geräusch vernehmen, das die sonst herrschende Stille unterbrach.

Kurz nach Mitternacht war es, als dieses Geräusch, das zuweilen mehr anschwoll, hörbar wurde.

»Was geht da vor? fragte der Kapitän Hardigan, indem er sich neben dem Fuße des Baumes aufrichtete, an den er sich vorher gelehnt hatte.

– Ich weiß es auch nicht, antwortete der Ingenieur. Sollte in der Ferne ein Gewitter toben?... Nein, es erscheint mehr wie ein unterirdisches Rollen, das bis zu uns herreicht.«

Das erschien ja nicht so wunderbar. Wir hatten schon früher erwähnt, daß Roudaire, als er mit Nivellierarbeiten beschäftigt war, erkannt hatte, daß der Erdboden des Djerid zuweilen recht umfänglichen Schwankungen unterworfen war, die ihn bei seiner Arbeit nicht wenig störten. Die Schwankungen und Erschütterungen rührten zweifellos von seismischen Vorgängen her, die sich in den tiefen Erdschichten abspielten. Da lag wohl die Frage nahe, ob eine Störung dieser Art nicht auch den so wenig beständigen Boden dieser Hoffra, einer der größten und tiefsten des Melrir, treffen könnte.

Der Brigadier, François und die beiden Spahis waren von dem unterirdischen, mehr und mehr zunehmenden Geräusch erwacht.

In diesem Augenblicke zeigte Coupe-à-Coeur plötzlich eine ganz besondre Unruhe. Wiederholt lief er bis zum Fuße des Tell hinunter, und als er das letzte Mal wieder herauskam, war er so naß, als ob er aus tiefem Wasser käme.

»Ja... Wasser... Wasser! rief der Brigadier. Richtiges Seewasser möchte man fast sagen!... Nein, diesmal ist es kein Blut!«

Die letzten Worte bezogen sich auf das, was in der vergangnen Nacht beim Lagerplatze am Ende des Henguiz vorgefallen war, als der Hund, das Fell getränkt mit dem Blute der von den Raubtieren getöteten Antilope, erschien.

Rings um diesen Hügel befand sich jetzt also eine Wasseransammlung, tief genug daß der Hund sich darin ganz eintauchen konnte. Und als der Kapitän Hardigan und seine Begleiter hierher gekommen waren, hatten sie sich doch[213] über eine halbflüssige Meergellage durcharbeiten, nicht aber wirkliches Wasser durchwaten müssen.

Hatte sich hier also vielleicht der Erdboden weitergesenkt, damit aber das Wasser aus seinen untern Schichten austreten lassen und dadurch das Tell zu einer Insel verwandelt?

Mit welcher Ungeduld, welcher Besorgnis erwarteten die Flüchtlinge nun das Grauen des Tages! An Schlaf war natürlich nicht mehr zu denken. Die unterirdischen Erschütterungen nahmen obendrein noch mehr zu. Es gewann den Anschein, als ob hier plutonische und neptunische Naturkräfte miteinander unter dem Schott im Kampfe lägen und dessen Boden mehr und mehr veränderten. Zuweilen erfolgten so heftige Stöße, daß die Bäume sich wie bei starkem Sturm bogen und entwurzelt zu werden drohten.

Der Brigadier, der sich einmal nach dem Fuße des Tell hinunterbegeben hatte, kam von da zurück mit der Meldung, daß dessen unterster Teil schon überschwemmt sei und das Wasser dort eine Tiefe von zwei bis drei Fuß habe.

Woher kam dieses Wasser? War es infolge der Veränderungen des Erdbodens durch die Mergelschicht darin nach der Oberfläche des Schotts herausgequollen, und war es außerdem nicht möglich, daß diese Oberfläche sich unter der Einwirkung des außergewöhnlichen Naturereignisses noch weiter und vielleicht tief unter das Niveau des Mittelländischen Meeres gesenkt hätte?

Diese Frage warf Herr von Schaller auf; wenn erst die Sonne den Horizont heraufstieg, würde es vielleicht möglich sein, darauf Antwort zu geben.

Bis zum ersten Tagesscheine hörte das scheinbar von Osten herkommende Getöse keinen Augenblick auf. In fast regelmäßigen Zwischenräumen wiederholten sich auch so starke Stöße, daß die ganze Masse des Tell davon erzitterte und an seinen Fuß das Wasser so heftig anschlug, wie bei steigender Flut die Brandung an ein Felsenufer prallt.

Als dann gerade alle mit Hilfe des Gehörs zu erkunden suchten, was sie – wenigstens jetzt – nicht sehen konnten, stellte Kapitän Hardigan die Frage:

»Wäre es wohl gar möglich, daß das aus der Tiefe aufgestiegene Wasser gleich das ganze Melrir überschwemmt hätte?

– Das ist kaum anzunehmen, erwiderte von Schaller. Ich glaube, dafür aber eine annehmbarere Erklärung gefunden zu haben...

– Und die lautet?[214]

– Es wird Wasser aus dem Golf sein, das die Überschwemmung hervorgebracht hat, indem es von Gabes aus über diesen Teil des Djerid hereinströmte.

– Dann, rief der Brigadier, dann können wir uns nur noch auf eine Weise retten: wir müssen hindurchschwimmen!«

Endlich wurde es allmählich Tag. Der im Osten des Schotts aufdämmernde hellere Schein war aber sehr fahl, es sah aus, als verhüllte ein dichter Dunstschleier den ganzen Horizont.

Alle standen, den Blick nach dieser Seite hinausgerichtet, am Fuße der Bäume und warteten ungeduldig, daß es heller würde, um die Sachlage übersehen zu können... leider sollten sie sich aber in ihrer Erwärmung getäuscht sehen.

Quelle:
Jules Verne: Der Einbruch des Meeres. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXXXVII, Wien, Pest, Leipzig 1906, S. 206-215.
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