Zweites Capitel.
Bewegliche Königspuppen.

[14] Der Karren Thornpipe's ist in einfachster Weise eingerichtet: eine Deichsel, an der der wilde zottige Köter angespannt ist; ein viereckiger, auf nur zwei Rädern ruhender Kasten, der deshalb auf den hügeligen Wegen der Grafschaft leichter fortzuziehen ist; zwei Griffe an der Rückseite, um das Ganze, gleich den Wagen hausierender Händler, auch schieben zu können; über dem Kasten ein leichtes Leinenzeltdach auf vier Eisenstäben, das, wenn es auch nicht ganz gegen die hier kaum jemals brennende Sonne, so doch gegen den endlosen Regen des höheren Irlands schützt. Das Ganze ähnelt also den leichten Wägelchen, die die Drehorgeln durch Stadt und Land tragen, jene Instrumente mit[14] kreischenden Pfeifentönen, denen sich noch eine Art Trompetengeschmetter zugesellt. Eine Drehorgel ist es freilich nicht, womit Thornpipe von Stadt zu Stadt zieht, oder in der complicierteren Maschinerie ist die Orgel wenigstens zum einfachen Pfeifchen zusammengeschmolzen, wie sich das sogleich zeigen wird.

Der Kasten ist nach unten nämlich durch einen bis zu einem Viertel seiner Höhe aufragenden Deckel geschlossen. Wird dieser zurückgeschlagen, so bietet sich den Zuschauern ein für diese meist verblüffender Anblick.

Zur Vermeidung von Wiederholungen empfehlen wir, Thornpipe's gewohnte Erläuterungen achtsam anzuhören. Jedenfalls hat sich der wandernde Schausteller mit der unermüdlichen Beredsamkeit den berühmten Brioché, den Schöpfer der Marionettentheater auf den Messen und Märkten Frankreichs, zum Muster genommen.

»Ladies und Gentlemen....«, so beginnt er unabänderlich, um sich das Wohlwollen der Zuschauer zu sichern, selbst wenn er das jämmerlichst zerlumpte Dorfpublicum anredet.

»Ladies und Gentlemen! Hier erblicken Sie den großen Festsaal des königlichen Schlosses zu Osborne auf der Insel Wight.«

Das Kasteninnere stellt in der That einen Salon im Kleinen vor; vier Planken bilden seine Wände, worauf Thüren und drapierte Fenster gemalt sind; da und dort stehen hochmoderne Möbel aus Pappe, die mit Stiften auf einem farbigen Teppich festgehalten sind, Tische, Armstühle und Sessel, so angeordnet, daß sie die Bewegungen der Personen, der Prinzen, Prinzessinnen, Herzöge, Marquis, Grafen und Baronets nicht hindern können, die mit ihren vornehmen Gemahlinnen inmitten dieser officiellen Empfangscour einherstolzieren.

»Im Hintergrunde, so fährt Thornpipe fort, bemerken Sie den Thron der Königin Victoria, überragt von dem carmoisinrothen Sammetbaldachin mit goldenen Fransen und haargenau dem Throne nachgebildet, auf dem Ihre graziöse Majestät bei den Hoffestlichkeiten Platz nimmt.«

Der betreffende Thron mißt hier acht bis zehn Centimeter in der Höhe, und obgleich der Sammet nur durch wollebestäubtes Papier vertreten ist und die Goldfransen aus einfacher gelber Schnur bestehen, so verschlägt das nicht das mindeste bei den Wackern, die noch niemals ein solches ausgesprochen monarchisches Möbelstück zu Gesicht bekommen haben.

»Auf dem Throne, belehrt Thornpipe weiter, erblicken Sie die Königin – die Aehnlichkeit derselben wird garantiert! – in ihrer Galatracht; den an[15] den Schultern gehaltenen Königsmantel, die Krone auf dem Haupte und das Scepter in der Hand.«

Wir, die wir niemals die Ehre genossen, die Beherrscherin des Vereinigten Königreiches und Kaiserin von Indien in ihren Staatsgemächern zu erblicken, können für die zweifellose Aehnlichkeit der hohen Dame mit der sie darstellenden Puppe natürlich nicht gutsagen. Doch zugegeben, daß sie sich bei großen Hoffestlichkeiten mit der Krone schmückt, so wird sie in der Hand doch schwerlich ein Scepter führen, das, wie sein Ersatzstück hier, mehr dem Dreizack Neptuns gleicht. Das einfachste bleibt es freilich, Thornpipe aufs Wort zu glauben, und das thaten kluger Weise auch die Zuschauer.

»Zur Rechten der Königin, erläutert Thornpipe ferner, mache ich das geehrte Publicum aufmerksam auf Ihre königlichen Hoheiten den Prinzen und die Prinzessin von Wales, wie Sie die Herrschaften gelegentlich ihrer letzten Reise durch Irland gewiß selbst gesehen haben.«

Kein Zweifel, da steht der Prinz von Wales als britischer Feldmarschall, und die Tochter des Königs von Dänemark, angethan mit kostbarem Spitzenkleide, das hier freilich kunstvoll aus Silberpapier geschnitten ist, wie solches zum Schmucke von Bonbonschachteln verwendet wird.

Auf der andern Seite stehen der Herzog von Edinburgh, der Herzog von Connaught, der von Fife, der Prinz Battenberg mit den Prinzessinnen, ihren erlauchten Gemahlinnen, kurz die ganze königliche Familie, so angeordnet, daß sie vor dem Throne einen Halbkreis bildet. Unzweifelhaft erwecken diese bezüglich ihrer Porträttreue immer »garantierten« Puppen mit den gemalten Gesichtern und ihrer dem Leben abgelauschten Haltung eine deutliche Vorstellung von dem Hofe Englands.

Dann folgen die Großofficiere der Krone, darunter der Großadmiral Sir Georges Hamilton. Thornpipe befleißigt sich, mit dem Ende seines Stabes alle der Bewunderung des Publicums zu empfehlen, unter der Hinzufügung, daß jeder von ihnen seinem Range entsprechend den ihm nach der Hofetiquette zukommenden Platz einnimmt.


... Als Thornpipe seinen kleinen Umgang antrat. (S. 19.)
... Als Thornpipe seinen kleinen Umgang antrat. (S. 19.)

Da hält sich vor dem Throne in ehrfurchtsvoller Unbeweglichkeit ein hochgewachsener Mann von ausgesprochen angelsächsischem Typus, der nur ein Minister der Königin sein kann.

Es ist auch einer, nämlich der Chef des Cabinets von St. James, den man an dem unter der Last der Geschäfte etwas gekrümmten Rücken leicht genug erkennt.[16]

Thornpipe geht weiter in seinen Erklärungen.

»Und neben dem Premierminister, zur Rechten, der ehrwürdige Herr Gladstone.«

Wahrlich, es wäre schwierig gewesen, den berühmten »Oldman« nicht zu erkennen, den schönen Greis, der sich noch immer aufrecht hält, der immer bereit ist, seine liberalen Anschauungen gegen die der conservativen Regierung zu vertheidigen. Vielleicht könnte es auffallen, daß er den Premierminister mit freundlichem Blicke betrachtet; doch was bei Wesen aus Fleisch und Bein[17] unmöglich wäre, das hat bei Puppen aus Pappe und Holz ja nicht viel auf sich.

Ein außergewöhnlicher Anachronismus verschuldet auch noch eine andre Nebeneinanderstellung, denn Thornpipe bläst die Backen auf und verkündet:

»Hier, Ladies und Gentlemen, stelle ich Ihnen Ihren berühmten Landsmann O'Connell vor, dessen Name in jedem irländischen Herzen allezeit ein Echo finden wird.«

Ja, da befand sich O'Connell am Hofe Englands und im Jahre 1875, obwohl er schon seit einem Vierteljahrhundert todt war. Auf einen dagegen erhobenen Einwand hätte Thornpipe jedenfalls geantwortet, daß der große Agitator für einen Sohn Irlands immer fortlebt. Mit ähnlicher Begründung hätte er da auch Parnell aufstellen können, obwohl dieser Politiker jener Zeit kaum bekannt war.

Da und dort stehen noch andre Höflinge verstreut, deren Namen uns entgehen, alle mit Ordenssternen und Bändern übersäet, politische und kriegerische Berühmtheiten, darunter Se. Gnaden der Herzog von Cambridge neben dem seligen Lord Wellington, der verstorbene Lord Palmerston neben dem verstorbenen Pitt; endlich Mitglieder der Pairskammer in vertraulichem Gespräche mit solchen aus dem Hause der Gemeinen; hinter diesen eine Reihe Horse-guards in Parade, im Salon zwar, aber doch zu Pferde, eine Andeutung, daß es sich hier um ein Fest handelt, wie es selbst im Schlosse zu Osborne selten vorkommt.

Das Ganze umfaßt etwa fünfzig kleine Männchen, die alle schreiend bemalt sind und mit steifer Würde alles darstellen, was an Hocharistokratie, an Auszeichnung und Rangstellung in der militärischen und politischen Welt des Vereinigten Königreichs vorhanden ist.

Man bemerkt sogar, daß die britische Flotte nicht vergessen wurde, und wenn die königliche Yacht »Victoria and Albert« hier nicht unter Dampf ist, so sieht man wenigstens Schiffe an die Fensterscheiben gemalt, durch die man die Rhede von Spithead zu erkennen glaubt. Mit guten Augen würde man gewiß die Yacht »Enchantereß« unterscheiden können, mit Ihren Ehren den Lords der Admiralität an Bord, die in einer Hand ein Fernrohr, in der andern ein Sprachrohr halten.

Mit der Behauptung, daß seine Schaustellung einzig in ihrer Art sei, hat Thornpipe das Publicum nicht betrogen. Auf jeden Fall macht sie eine Reise[18] nach der Insel Wight unnöthig. Außerdem bereitet sie nicht nur den Gassenbuben, die sie mit Bewunderung betrachten, sondern auch den Erwachsenen, die niemals über die Grenzen Connaugths hinauskamen, ein wirkliches Vergnügen. Der Parochialgeistliche lächelt vielleicht im Stillen darüber; der Droguist kann sich nicht enthalten zu bestätigen, daß die Aehnlichkeit der dargestellten Personen überraschend sei, obwohl er diese in seinem Leben nicht gesehen hat. Der Fleischer gestand ein, was er hier sehe, übertreffe seine Vorstellungen davon, denn er könne nicht glauben, daß bei einem Empfange am Hofe so viel Luxus und Glanz entfaltet werde.

»Nun, Ladies und Gentlemen, nimmt Thornpipe wieder das Wort, das ist bis jetzt noch gar nichts. Sie glauben jedenfalls, daß diese königlichen und die andern Personen sich gar nicht bewegen könnten. Fehl geschossen! Sie leben wirklich, ich versichere es, leben, wie Sie und ich selbst, was Sie sofort sehen sollen. Vorerst bin ich so frei, eine kleine Einsammlung zu veranstalten, wozu ich mich Ihrem geneigten Wohlwollen empfehle.«

Das ist der kritische Augenblick für solche Schausteller, wenn die Sammelbüchse unter den Zuschauern zu kreisen beginnt. Ganz gewöhnlich zerfallen letztere in zwei Classen: in die, die sich aus dem Staube machen, um nicht in die Tasche greifen zu müssen, und in die, welche dableiben mit der Absicht, sich umsonst zu amüsieren – die zweite Classe bildet übrigens die Mehrzahl. Wohl giebt es noch eine dritte Classe, die der Zahlenden, deren sind aber so wenige, daß es sich gar nicht verlohnt, von ihnen zu sprechen. Das zeigte sich deutlich genug, als Thornpipe seinen kleinen Umgang antrat und dazu ein liebenswürdiges Lächeln heuchelte.

Sicherlich hätte man bei der ganzen Lumpengesellschaft, die nicht von der Stelle wich, keine zwei Coppers finden können, und alle, die das weitere Schauspiel unentgeltlich genießen wollten, wendeten beim Nahen der Sammelbüchse einfach den Kopf ab, so daß nur fünf bis sechs Zuschauer in die Tasche griffen, was den Ertrag von einem Schilling drei Pence ergab den Thornpipe mit süßsaurer Miene einsteckte. Was half's? Er mußte sich, in Erwartung einer reicheren Ernte bei der Nachmittagsvorstellung, schon begnügen und lieber das angekündigte Programm durchführen, als etwa das Geld zurückzugeben.

Jetzt verwandelte sich aber die bisher stumme Bewunderung in eine laute, lärmende Kundgebung des Beifalls. Es begann ein Händeklatschen, ein Trampeln[19] mit den Füßen und ein »Aoh«rufen, daß man's wohl bis zum Hafen hinunter hätte hören können.

Thornpipe hatte mit seinem Stabe an den Kasten geschlagen, worauf ein von niemand beachtetes leises Seufzen Antwort gab. Plötzlich erschien die ganze Scene wie durch ein Wunder in naturgetreuer Bewegung.

Die durch einen inneren Mechanismus bewegten Puppen schienen wirklich Leben bekommen zu haben. Ihre Majestät die Königin Victoria hatte zwar den Thron nicht verlassen, was ein Verstoß gegen die Etiquette gewesen wäre, sie hatte sich nicht einmal erhoben, sie bewegte aber das gekrönte Haupt und hob und senkte das Scepter, wie die Kapellmeister den Tactierstock beim Dirigieren. Die Mitglieder der königlichen Familie drehen und wenden sich, grüßend und Grüße erwidernd, hier- und dorthin, während die Herzöge, Marquis und Baronets in größter Ehrfurcht vorüberdefilieren. Der Premierminister verneigt sich vor Herrn Gladstone, der es ihm gleichthut. Nach ihnen schreitet O'Connell auf unsichtbarer Fuge mit Ernst und Würde vor, und ihm folgt der Herzog von Cambridge, der einen Charaktertanz aufzuführen scheint. Die andern Persönlichkeiten schließen sich dem Zuge an, und die Pferde der Horse-guards bäumen sich schweifwedelnd, als wären sie nicht in einem Saale inmitten des Schlosses von Osborne, sondern auf dessen geräumigen Hofe aufgestellt.

Das Ganze vollzieht sich unter einer leisen, aber scharfen Musikbegleitung, bei der allerdings manche Töne nicht zum Ausdruck kommen. Doch wie hätte Paddy – der für Musik so empfänglich ist, daß Heinrich VIII. das Wappen des Grünen Erin noch mit einer Harfe bereicherte – davon nicht entzückt sein sollen, obgleich er statt God save the Queen oder Rule Britannia, den melancholischen Nationalgesängen des traurigen Vereinigten Königreiches, lieber eine irische Weise gehört hätte.

Für Jeden, der die Maschinerie eines größeren Theaters noch nicht kannte, mußte der Vorgang hier entschieden etwas Wunderbares an sich haben; so entfesselte denn auch der Anblick dieser sich bewegenden Puppen bei den Zuschauern einen Enthusiasmus ohne Gleichen.

Da, wie durch einen Ruck im Mechanismus, senkt die Königin ihr Scepter so tief, daß sie damit den runden Rücken des Premierministers berührt. Ein doppeltes Hurrah der Zuschauer braust durch die Lüfte.

»Sie leben wahrhaftig! ruft einer der Umstehenden.

– Es fehlt ihnen nur die Sprache! bemerkte ein andrer.[20]

– Das laßt Euch nicht leid thun!« setzt der Pharmaceut hinzu, der in unbewachten Augenblicken den Demokraten heraussteckt.

Er hatte auch Recht. Man denke sich nur Puppen, die höfische Redensarten drechseln.

»Ich möchte wohl wissen, was sie in Bewegung setzt, läßt sich der Schlächter vernehmen.

– Das ist der reine Gottseibeiuns, äußert ein Matrose.

– Ja, der Teufel, rufen einige schon halb überzeugte Matronen, die sich dem Geistlichen zugewendet bekreuzen, während der fromme Herr eine nachdenkliche Miene macht.

– Wie könnt Ihr annehmen, daß der Teufel in diesem Kasten steckt, erwidert ein wegen seiner Naivetät bekannter Ladenjüngling, der Teufel ist dazu viel zu groß...

– Na, wenn er nicht drin steckt, so steht er draußen! schwatzt eine alte Stadtklatsche. Der da, der dieses Schauspiel vorführt...

– Ach nein, unterbricht sie der Droguist, Ihr wißt doch, daß der Teufel nicht irländisch spricht!«

Das ist die Wahrheit, die Paddy ohne Widerspruch zugiebt, und man einigte sich also darüber, daß Thornpipe wegen seines rein irischen Dialects der Teufel nicht sein könne.

Wenn die Sache also nicht mit Hexerei zuging, mußte nothwendiger Weise ein innerer Mechanismus vorhanden sein, der diese kleine Welt in Bewegung setzte.

Niemand hatte Thornpipe jedoch etwa eine Feder aufziehen sehen. Ja, als die Bewegungen sich zu verlangsamen begannen, da hatte – eine Besonderheit, die dem Pfarrer nicht entging – ein Peitschenhieb Thornpipe's unter den von der Decke verhüllten Kasten genügt, die Puppengesellschaft aufs neue zu beleben.

Den Pfarrer drängte es, zu erfahren, wem diese fühlbare Aufmunterung wohl gegolten haben möge, deshalb fragte er Thornpipe:

»Sie haben wohl einen Hund dort in Ihrem Kasten?«

Der Mann sah ihn, die Stirn runzelnd, an, als finde er diese Frage etwas indiscret.

»Da drin ist, was eben drin ist! antwortete er. Das bleibt mein Geheimniß. Ich fühle mich nicht verpflichtet, es zu verrathen...[21]

– Dazu sind Sie nicht verpflichtet, meinte der Geistliche, wir aber haben doch das Recht, zu vermuthen, daß es ein Hund ist, der Ihren Mechanismus treibt...

– Nun ja... ein Hund! gab Thornpipe ärgerlich zu, ein Hund in einem Trommelkäfig. Es hat mir Zeit genug gekostet, ihn so weit zu dressieren. Und welchen Lohn hab' ich nun für meine Mühen erhalten? Nicht die Hälfte von dem, was man jedem Geistlichen für das Lesen einer einzigen Messe bezahlt!«

Eben als Thornpipe seinen Satz beendete, stand der Mechanismus still, zum großen Mißvergnügen der Zuschauer, deren Interesse noch lange nicht befriedigt war. Der Puppenvorzeiger ging daran, den Karrendeckel zu schließen, und erklärte, daß die Vorstellung zu Ende sei.

»Würden Sie bereit sein, noch eine zweite zu geben? fragte da der Pharmaceut.

– Nein! erklärte Thornpipe, der viele verdächtige Blicke auf sich gerichtet sah, mit barscher Entschiedenheit.

– Auch nicht, wenn wir Ihnen für eine Einnahme von zwei Schillingen einständen?

– Weder für zwei noch für drei Schillinge!« rief Thornpipe.

Er dachte nur, sich aus dem Staube zu machen, das Publicum schien aber nicht in der Laune, ihn so schnell fortzulassen. Auf einen Wink seines Herrn zog der Köter in der Gabeldeichsel schon an, als sich ein langer, mit Schluchzen untermischter Klagelaut aus dem Kasten hören ließ.

Wüthend rief Thornpipe, wie schon früher einmal:

»Wirst Du schweigen, Hundejunge!

– Das ist kein Hund, der da drin steckt, sagte der Geistliche, den Karren zurückhaltend.

– Und doch! versetzte Thornpipe.

– Nein... das ist ein Kind!...

– Ein Kind!... Ein Kind!« wiederholten die Zuschauer.

Jetzt ging in der Empfindung der Leute eine mächtige Veränderung vor sich.

Nicht Neugier, sondern Theilnahme war es, die sich in ihrer drohenden Haltung kundgab. Ein Kind war in diesem an der Seite offenen Kasten verborgen und wurde mit der Peitsche angetrieben, wenn es anhielt, weil ihm die Kräfte erlahmten, sich in seinem Käfig zu bewegen.

»Das Kind!... Das Kind heraus!« klang es von allen Seiten.[22]

Thornpipe sah sich einer Uebermacht gegenüber. Er wollte jedoch Widerstand leisten und seinen Karren vorwärts schieben.... Vergeblich. Der Schlächter packte ihn an der einen, der Droguist an der andern Seite und so wurde das Gefährt tüchtig geschüttelt. Der königliche Hof dürfte wohl niemals einen solchen Verlauf seiner Feierlichkeiten erlebt haben, bei dem die Prinzen die Prinzessinnen stießen, die Herzöge die Marquis umrannten, der Premierminister hinfiel und einen Sturz des ganzen Cabinets damit herbeiführte... kurz, ein Durcheinander, wie es im Schlosse Osborne gewiß nur vorkäme, wenn ein Erdbeben die ganze Insel Wight erschütterte.

Thornpipe wurde bald überwältigt, wenn er sich auch wie ein Rasender wehrte. Alle betheiligten sich dabei. Der Karren wurde untersucht, der Droguist kroch zwischen die Räder und zog aus dem Kasten ein Kind hervor....

Ja, ein Jüngelchen von etwa drei Jahren mit bleichem, leidendem Gesicht, mühsamem Athem und mit Beinchen, die mit Striemen überdeckt waren.

Kein Mensch in Westport kannte den Kleinen.

So gestaltete sich das erste Erscheinen des »Findlings«, des Helden dieser Erzählung. Wie er diesem Wütherich in die Hände gefallen und wer sein Vater wäre, das war schwerlich zu ergründen. In Wahrheit hatte Thornpipe das Kind vor neun Monaten in der Dorfstraße von Donegal aufgelesen und zu dem nun erkannten Dienste verwendet.

Eine wackre Frau nahm das Bürschchen in die Arme und sachte es aufzumuntern. Alle drängten sich um den Kleinen. Das arme Eichkätzchen, das verurtheilt gewesen war, seinen Käfig unter dem Karrenkasten in Drehung zu versetzen, hatte ein interessantes, ja intelligentes Gesicht; aber auf diese Weise sich den Unterhalt verdienen zu müssen – und in so zartem Alter!

Endlich öffnete der kleine Knabe die Augen und warf sich rückwärts, als er Thornpipe gewahrte, der herantrat und mit der Aufforderung: »Gebt mir den Jungen zurück!« ihn wiederzuerlangen sachte.


... Ein Jüngelchen von etwa drei Jahren. (S. 23.)
... Ein Jüngelchen von etwa drei Jahren. (S. 23.)

»Seid Ihr sein Vater? fragte der Geistliche.

– Ja..., antwortete Thornpipe hastig.

– Nein... das ist mein Papa nicht! rief weinend das Kind, das sich der Frau anschmiegte.

– Er gehört Euch gar nicht an! wetterte der Droguist.

– Ein gestohlener Bursche ist's! setzte der Schlächter hinzu.

– Und wir geben ihn nicht zurück!« erklärte der Pfarrer.[23]

Thornpipe wollte sich nicht ergeben. Mit geröthetem Gesicht und zornsprühenden Augen verlor er ganz die Fassung und war schon daran, »auf irländisch zu spaßen«, d. h. ein Messer zu ziehen, als sich zwei kräftige Männer auf ihn stürzten und ihn entwaffneten.

»Jagt ihn davon!... Jagt ihn fort! heulten die Frauen.

– Mach' Dich auf den Weg, Spitzbube! sagte der Droguist.

– Und laßt Euch in der Grafschaft nicht wieder erblicken!« schloß der Geistliche mit einer drohenden Bewegung.[24]

Thornpipe trieb den Hund mit der Peitsche an und der Karren rollte die Hauptstraße von Westport wieder hinaus.

»Der Schurke! – so machte sich der Pharmaceut noch Luft – ich gebe ihm keine drei Monate, bis er das Menuet von Kilmainham getanzt hat!«


Die Frauen beklagten sein Schicksal. (S. 30.)
Die Frauen beklagten sein Schicksal. (S. 30.)

Dieses Menuet tanzen, bedeutet nach landläufiger Sprechweise, seine letzte Gigue vor einem Galgen abtanzen.

Der Pfarrer fragte das Kind nach seinem Namen.

– »Findling« heiß' ich,« lautete die sichere Antwort.

Und in der That: es hatte keinen andern Namen.

Quelle:
Jules Verne: Der Findling. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXIII–LXIV, Wien, Pest, Leipzig 1895, S. 14-25,27.
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