Dreizehntes Capitel.
Farben- und Standeswechsel.

[376] Am 16. November 1885 gab es in ganz Irland – vielleicht nirgends auf der Erde – eine so große Summe von Glück, wie im Bazar »Zum kleinen Geldbeutel.«


Der erste Heizer war auf seinem Posten. (S. 383.)
Der erste Heizer war auf seinem Posten. (S. 383.)


[377]

Sissy ruhte noch im besten Zimmer des Hauses. Findling stand an ihrem Lager. Jetzt hatte sie in ihm das Kind wiedererkannt, das einst durch ein Mäuseloch aus der Höhle der Hard entwichen und das jetzt zum kräftigen, blühenden Knaben geworden war.

Zur Zeit ihrer Trennung von einander zählte sie kaum sieben Jahre, heute war sie achtzehn Jahre alt, doch schien es fraglich, ob sie nach so vielen Anstrengungen und Entbehrungen sich zu dem schönen jungen Mädchen entwickeln würde, das sie zu werden versprach, wenn sie unter günstigeren Verhältnissen gelebt hätte. Seit fast elf Jahren hatten die beiden sich nicht gesehen, und doch erkannte Findling Sissy sofort schon an der Stimme, und auch das junge Mädchen erinnerte sich genau an alles, was den kleinen schwächlichen Knaben von früher betraf.

Von diesen Dingen sprachen sie, sich an den Händen haltend, und blickten in die Vergangenheit wie in einen Spiegel ihres Elends zurück.

Kat, die dabei war, konnte ihre zärtliche Theilnahme nicht verhehlen. Bob gab seiner Freude in lauten Jubelrufen Ausdruck, denen Birk mit verhaltenem Bellen antwortete. Auch O'Brien fehlte als Zeuge dieser Scene nicht. Selbst der Commis Balfour würde die allgemeine Aufregung getheilt haben, wäre er nicht im Comptoir mit dem Rechnungswesen des Hauses Little Boy and Co. angestrengt gewesen. Alle hatten von Sissy – wie von der Familie Mac Carthy – so häufig sprechen hören, daß sie nur noch deren persönliche Bekanntschaft zu machen brauchten. Für alle war sie eine ältere Schwester Findlings, die ins Haus zurückkehrte, als hätte sie es erst gestern verlassen.

Nur Grip fehlte in dem Kreise; man darf aber glauben, daß er das junge Mädchen seines Boy, obwohl er diese nie gesehen hatte, auf den ersten Blick erkannt hätte. Der »Vulcan« konnte übrigens nicht mehr lange ausbleiben, und dann erst würde die Familie vollzählig sein.

Das Leben des jungen Mädchens war bisher das aller armen Kinder in Irland gewesen. Sechs Monate nach Findlings Flucht starb die Hard in einem Tobsuchtsanfalle und Sissy war in das Armenhaus von Donegal zurückgebracht worden, wo sie noch zwei Jahre blieb. Dann mußte sie hier andern Unglücklichen Platz machen. Sie zählte damals neun Jahre, und mit diesem Alter muß man schon selbst für sich sorgen können. Kann ein Mädchen dann nicht in Dienst gehen, eine »Maid« werden, als welche sie ohne Lohn nur für Wohnung und Beköstigung arbeitet, so findet sie wohl Beschäftigung in einer Fabrik. Deshalb[379] sandte man Sissy nach Belfast, wo die Spinnereien ein ganzes Heer von Arbeitern brauchen. Da lebte sie von einem Tagesverdienst von einigen Pence inmitten einer ungesunden Atmosphäre, hier- und dorthin gestoßen und hart angefahren, ohne jemand zur Vertheidigung zu haben, doch immer gut, sanft, dienstbereit, und übrigens an Widerwärtigkeiten des Lebens schon lange Zeit gewöhnt.

Jener Zeit hielt Sissy eine Besserung ihrer Lage für ganz unmöglich; doch gerade, als sie verzweifelte, daß irgend jemand sie dieser entreißen könnte – da ergriff sie eine rettende Hand, die Hand des Kleinen, dem ihre ersten Liebkosungen gegolten hatten und der jetzt der Chef eines Handelshauses war. Ja, er hatte sie aus der Hölle in Belfast befreit, und jetzt befand sie sich bei ihm, wo sie Geschäftsdame werden sollte, nicht etwa Dienerin....

Sie?... Eine Dienerin?... Das hätte die Kat nicht gelitten und Bob ebensowenig, wie Findling es erlaubt hätte.

»Du willst mich also bei Dir behalten? fragte sie.

– Ob ich das will, Sissy!

– Ich werde aber wenigstens arbeiten, um Dir keine Last zu sein.

– Jawohl, liebe Sissy.

– Und was werd' ich zu thun haben?

– Vorläufig gar nichts, Sissy.«

Weiter war jetzt nicht zu kommen, in der That wurde Sissy aber acht Tage später – auf ihren bestimmten Wunsch – im Laden angestellt, nachdem sie sich mit dem Verkauf vertraut gemacht hatte, und hier bildete das zierliche junge Mädchen, die schon wieder merkwürdig aufgeblüht war, ein neues Zugmittel für die Kundschaft.

Ein lebhafter Wunsch Sissys war es da, den ersten Heizer des »Vulcan« einmal die Schwelle des Hauses überschreiten zu sehen. Sie kannte das Verhalten Grips in der Ragged-School und wußte, daß er ihre Schützerrolle gegenüber dem Kinde, nachdem sich dieses der rohen Hard entzogen, übernommen hatte. Wie sie ihn einst gegen die Hard schützte, so hatte er den Knaben später gegen Carker und dessen Spießgesellen in Schutz genommen. Ohne die Aufopferung des wackern Burschen wäre der Kleine ja gar in den Flammen umgekommen. Der erste Heizer konnte bei seiner Rückkehr also auf den besten Empfang rechnen. Besondre Umstände verzögerten die Heimkehr des Schiffes diesmal aber bis über Ende des laufenden Jahres hinaus.[380]

Die am 31. December 1886 gezogene Bilanz ergab ein noch günstigeres Resultat als die früheren. Mehr als zweitausend Pfund Sterling betrug schon das reine Vermögen des Hauses »Zum kleinen Geldbeutel«. O'Brien hatte das nach Durchsicht der Bücher bestätigt. Der ehrliche Kaufmann konnte den jungen Chef zu diesem Erfolge nur beglückwünschen, legte ihm dabei aber ans Herz, immer mit so weiser Vorsicht wie bisher zu Werke zu gehen.

»Schwerer ist es oft, sich sein Vermögen zu erhalten, als es zu erwerben, sagte er zu Findling bei Zurückgabe der Geschäftsbücher.

– Sie haben Recht, erwiderte dieser, doch glauben Sie mir, Herr O'Brien, daß ich mich nie auf Irrwege locken lassen werde. Immerhin bedaure ich, daß die in der Bank von Irland liegenden Summen keine lohnendere Verwendung finden sollen. Das ist Geld im Schlaf, und wenn man schläft, arbeitet man nicht.

– Nein, mein Sohn, man ruht aber aus, und Ruhe ist dem Gelde ebenso nothwendig, wie dem Menschen.

– Und doch, Herr O'Brien, wenn sich eine gute Gelegenheit böte...

– Die dürfte nicht nur gut, sie müßte ausgezeichnet sein.

– Zugegeben, in einem solchen Falle aber weiß ich, würden Sie mir selbst rathen...

– Davon Nutzen zu ziehen?... Natürlich, mein Sohn, wenigstens wenn die Sache zu Deinem jetzigen Geschäftsbetriebe paßt.

– Das ist auch für mich Bedingung, Herr O'Brien, und es wird mir nie einfallen, mich auf Speculationen einzulassen, die auf mir unbekanntem Gebiete liegen. Wenn man jedoch mit Klugheit vorgeht, kann man wohl versuchen, sein Geschäft zu erweitern.

– Es wäre unrecht von mir, Dich davon abzuhalten, mein Sohn, und wenn ich ein ganz sicheres Geschäft aufspüre... nun ja... vielleicht... doch, das wird sich finden.«

Aus kluger Vorsicht wollte sich der Exkaufmann nicht zu sehr binden.

Ein Tag, der im Kalender des »Kleinen Geldbeutels« roth angestrichen zu werden verdient hätte, war der 23. Februar.

Auf einer hohen Leiter stehend, wäre Bob beinahe heruntergepurzelt, als er sich anrufen hörte mit den Worten:

»He, da sitzt einer auf der Bramstenge!... Heda!

– Grip! rief Bob, der herunterglitt, wie die Jungen auf einem Treppengeländer.[381]

– Ja, ich bin's, and Co!... Findling geht es doch gut, Knirps?... Kat ebenfalls?... Und Herrn O'Brien auch?... Ich habe doch keinen vergessen?

– Keinen?... Und mich, Grip?«

Diese Worte kamen von einem jungen Mädchen, die freudestrahlend auf den ersten Heizer des »Vulcan« zutrat und ihm ohne Umstände einen Kuß auf jede Wange drückte.

»Wa... was? rief Grip ganz verdutzt. Mein Fräulein... ich kenne Sie ja gar nicht... Umarmt und küßt man denn hier die Leute, ohne sie zu kennen?

– Nun so fange ich erst wieder an, wenn wir mit einander bekannt geworden sind....

– Das ist ja Sissy, Grip!... Sissy!... Sissy!« wiederholte Bob laut auflachend.

Eben traten Findling und die Kat ein. Der Teufelskerl, der Grip, wollte jetzt aber nichts von einer weiteren Erklärung hören, als bis er dem Mägdlein die erhaltenen Küsse richtig heimgezahlt hätte. Bei Sanct Patrick! Sissy erschien ihm doch gar zu reizend und thaufrisch! Und da er von Amerika ein kostbares Herren-Reisenecessaire mit Stiefelknecht, Rasiermesser und Seifenbecken – für die spätere Zeit seines Boy bestimmt – mitgebracht hatte, behauptete er flottweg, dieses für Sissy gekauft zu haben, deren Anwesenheit im Bazar des Little Boy er geahnt hätte – und Sissy mußte sich schon drein fügen, sein Geschenk anzunehmen, was der eigentliche Empfänger desselben auch ohne Murren geschehen ließ.

Jetzt gab es in dem Magazin der Bedford-Street herrliche Tage. War er nicht an Bord zurückgehalten, so »lichtete« Grip »hier gar nicht mehr die Anker«. Im Comptoir des »Kleinen Geldbeutels« befand sich offenbar ein Magnet, dessen Anziehungskraft bis zu den Docks reichte und der ihn bei Sissy festhielt. Den Naturgesetzen kann einmal keiner widerstehen. Findling hatte es sehr bald bemerkt.

»Nicht wahr, sie ist nett, meine große Schwester? fragte er eines Tages Grip.

– Deine große Schwester, mein Boy?... O, es wäre gar nicht hübsch, es wäre häßlich von ihr, wenn sie das nicht ganz von selbst wäre!... Es wäre garstig von ihr![382]

– Garstig... Sissy?... Ich bitte Dich, Grip!...

– Ja, ja, ich spreche dummes Zeug... das heißt, weil ich's nicht besser von mir geben kann. Ja, wenn ich mich auszudrücken verstände...«

Er drückte sich ja ganz gut aus, mindestens nach Ansicht der Kat, und seit der Rückkehr Grips waren kaum drei Wochen verstrichen, als sie zu Findling sagte:

»Unser Grip gleicht jetzt den Thieren in der Mauser. Erst ganz schwarz, bekommt er schon langsam die natürliche Farbe wieder, die weiße Farbe, und mir ahnt, er wird nicht mehr lange auf dem »Vulcan« bleiben.«

Das war auch die Meinung O'Brien's.

Und doch war, als der »Vulcan« am 15. März nach Amerika abdampfte, dessen erster Heizer, den die ganze Familie nach dem Hafen begleitet hatte, wieder auf seinem Posten, als hätte der Dampfer gerade seiner Dienste nicht entrathen können.

Als er am 13. Mai nach achtwöchentlicher Abwesenheit zurückkehrte, erschien seine »Farbenveränderung« noch bemerkbarer als früher. Natürlich wurde ihm der herzlichste Empfang zu Theil. Findling, die Kat und Bob drückten ihn an sich. Er selbst blieb aber etwas zurückhaltender und begnügte sich, Sissy einen Kuß auf die linke Wange zu geben, so wie diese ihn nur mit einem einzigen auf die rechte Wange begrüßt hatte. Grip wurde nachdenklicher und Sissy immer ernsthafter, wenn sie bei einander waren, und das drückte sich auch durch eine gewisse Geniertheit bei dem abendlichen Zusammensein aller aus. Sagte dann Findling, wenn die Abschiedsstunde Grips gekommen war, zu diesem:

»Nun, also auf Wiedersehen morgen!«

... so antwortete dieser wohl:

»Nein... morgen glaub' ich nicht... ich habe dringende Arbeiten in der Heizkammer.... Es wird unmöglich sein!«

Am nächsten Tage stellte sich der gute Grip aber ebenso wie vorher, womöglich noch eine Stunde früher ein, und – wunderbar! – seine Haut wurde von Tag zu Tag weißer.

Grip war jetzt offenbar in der Seelenstimmung, einen Antrag, seinen bisherigen Beruf zu verlassen, gern anzunehmen und als Theilhaber in die Firma Little Boy and Co. einzutreten. Findling hütete sich aber weislich, diese Angelegenheit wieder zu berühren. Besser, Grip käme selbst darauf zu sprechen.[383]

Das war auch zu Anfang des Juni in bescheidenem Maße der Fall.

»Na, das Geschäft geht noch immer nach Wunsch? hatte Grip gefragt.

– Urtheile selbst, erwiderte Findling. Unsre Läden werden niemals leer....

– Ja... es sind immer Käufer da.

– Sogar viele, Grip; vorzüglich seitdem Sissy im Verkauf mit thätig ist.

– Das ist kein Wunder, mein Boy! Ich begreife überhaupt nicht, wie jemand in Dublin... nein, in ganz Irland bei irgend einem andern noch irgendwas kaufen mag als bei ihr.

– Thatsächlich könnte man nirgends so bedient werden, wie von diesem liebenswürdigen...

– O, noch mehr... mehr... fiel Grip ein, ohne das rechte Wort zu finden.

– Nun ja, von diesem bezaubernden jungen Mädchen! setzte Findling hinzu.

– Es geht also alles gut?

– Wie ich Dir gesagt habe.

– Und der Herr Balfour?...

– Mit Herrn Balfour ebenso.

– Ich spreche nicht von seinem Gesundheitszustande, antwortete Grip etwas lebhafter. Was geht mich Herrn Balfour's Gesundheit an?...

– Wohl aber mich, lieber Grip. Er ist uns sehr nützlich. Er ist ein vorzüglicher Buchhalter....

– Er versteht also seine Sache?

– Vollkommen.

– Mir kommt er schon etwas alt vor.

– Nein, davon merkt man nichts.

– Hm!«

Dieses Hm! schien zu sagen, daß der Herr Balfour doch baldigst die Grenze des leistungsfähigen Alters erreichen müsse.


Und Grip holte sofort den Schubkasten. (S. 386.)
Und Grip holte sofort den Schubkasten. (S. 386.)

Hiermit brach das Gespräch ab. Als Findling der Kat davon erzählte, konnte diese ein leises Kichern nicht unterdrücken.

Sogar Bob machte sich darüber seine eignen Gedanken, und mehrere Tage später fragte er Grip:

»Der »Vulcan« wird wohl bald wieder abdampfen?[384]

– Ja... man spricht davon... es scheint so, erwiderte Grip, dessen Stirn sich bewölkte, wie der Himmel bei einem Südwestwinde.

– Und da wirst Du, fuhr and Co. fort, auch wieder die Kessel bedienen?«

Die Augen des ersten Heizers leuchteten auf, als wenn er die Kohlen auf dem Kesselroste schon durch einen Blick allein hätte anzünden können. Das kam jedoch wohl nur daher, daß Sissy gerade lächelnd durch den Laden ging und stehenbleibend sagte:[385]

»Grip, würden Sie mir da den Kasten mit Chocolade herunterholen... ich bin nicht groß genug....«

Der Heizer holte sofort den Schubkasten.

... oder auch:

»Würden Sie mir wohl jenen Laib Zucker heruntergeben... ich bin nicht stark genug dazu.«

Und Grip brachte ihr den schweren Zuckerhut.

»Wird Deine diesmalige Reise lange dauern? fragte Bob, dem es – man sah es an seinen verschmitzten Blicken – Spaß machte, den Freund etwas auf die Folter zu spannen.

– Ich fürchte, sehr lange! antwortete der Heizer, den Kopf schüttelnd. Wenigstens vier bis fünf Wochen.

– Bah, fünf Wochen! Die sind bald dahin. Ich glaubte, Du wolltest fünf Monate sagen.

– Fünf Monate?... Warum nicht gar gleich fünf Jahre! rief Grip, erschrocken wie ein armer Teufel, der eben zu fünf Jahren Gefängniß verurtheilt wurde.

– Na... da bist Du also ganz glücklich, Grip?

– Sapperment... was soll ich denn sein?... Natürlich bin ich's!

– Nein, Du bist ein rechter... Querkopf!«

Bob lief dabei mit einer bezeichnenden Grimasse davon.

In der That lebte Grip eigentlich gar nicht mehr, denn man kann es nicht leben nennen, wenn einer, in Gedanken versunken, sich überall an den Kopf stößt, wie die Fliege an einer Lampenglocke. So war es für ihn, da er einmal noch nicht zu dem Entschlusse, dazubleiben, kam, ganz gut, daß sein Schiff am 22. Juni wieder abfuhr.

Während seiner jetzigen Abwesenheit ließ sich die Firma Little Boy auf ein auch von O'Brien gern gutgeheißenes Geschäft ein, das reichlichen Gewinn versprach. Es handelte sich um ein neues Spielzeug, von dessen Erfinder Findling das Patent erwarb.

Dieses Spielzeug machte umsomehr Aufsehen, weil es das Haus Little Boy and Co., d. h. weil es zwei Knaben waren, die den Alleinverkauf desselben in die Hand genommen hatten. Zu Beginn der Sommerreisen nach den Seeküsten wollte die ganze kindliche Gentry das Ding haben, das übrigens nicht zu billig war, und Bob, dem der Verkauf zufiel, vermochte oft die Wünsche[386] der Kunden kaum zu befriedigen. Sissy mußte ihm beispringen, und deshalb ging der Handel gewiß nicht schlechter und übertraf in den Einnahmen sogar die der andern Branchen des Geschäfts. Jener besondre Artikel bereicherte die Casse allein um mehrere hundert Guineen. Voraussichtlich betrug das Vermögen des Hauses am Ende des Jahres, den noch regeren Weihnachtsumsatz eingerechnet, gut dreitausend Pfund Sterling.

Das gestattete nun dem jungen Inhaber des »Kleinen Geldbeutels«, Sissy, wenn diese sich verheiraten sollte, eine hübsche Aussteuer mit auf den Weg zu geben.

Grip war ja ein recht hübscher junger Mann, der einen vollkommenen Ehemann abgeben mußte und der ihr offenbar gefiel wenn sie sich auch hütete, das merken zu lassen. Alle im Hause wußten es jedoch ganz gut. Nur Grip schien zu keiner Entscheidung zu kommen; er that, als ob ohne ihn die ganze Maschinerie seines Dampfers in Unordnung kommen müßte, und hatte damals, als Findling von seiner etwaigen späteren Verheiratung sprach, vor Lachen fast bersten wollen.

Natürlich erschien unter diesen Umständen der erste Heizer des am 29. Juli zurückgekehrten »Vulcan« nur noch linkischer, grübelnder, düsterer, kurz, unglücklicher als vorher. Sein Schiff sollte am 15. September wieder auslaufen, und man fragte sich, ob er wohl auch diesmal wieder mitfahren würde.

Das war fast anzunehmen, da Findling – welche Bosheit! – fest entschlossen war, die Lösung der in der Luft schwebenden Frage nicht zu beschleunigen, so lange es Grip nicht über sich gewonnen hätte, ausdrücklich davon zu reden und ihn darum zu fragen. Es handelte sich ja um seine große Schwester, die von ihm abhing, für deren Lebensglück er die Verantwortung trug. Die erste Bedingung – das sine qua non – die er stellte, war aber die, daß Grip seine Seemannslaufbahn aufgab und als Theilhaber in das Handelsgeschäft eintrat.

Einmal wurde nun Grip bezüglich seiner Herzensangelegenheit so sehr an die Mauer gedrückt, daß er sich eigentlich hätte erklären müssen.

Eines Tags, als er sich um die Kat zu thun machte – und dieser würdigen Frau hätte er sich zuerst vielleicht am liebsten offenbart – begann die Kat ganz hingeworfen:

»Ist's Ihnen nicht aufgefallen, Grip, daß die Sissy von Tag zu Tag reizender wird?[387]

– Nein, antwortete Grip, das hab' ich nicht bemerkt. Warum sollte mir's auch aufgefallen sein?... Ich achte doch darauf nicht so besonders...

– Ah, so, Sie bemerken das also nicht?... Nun, dann machen Sie nur einmal die Augen ordentlich auf, da werden Sie ja sehen, welch wunderhübsches Mädchen wir hier haben. Wissen Sie denn, daß sie bald neunzehn Jahre alt wird?

– Was?... Schon?... versetzte Grip, der das Alter Sissys auf die Stunde genau kannte. Sie irren sich wohl, Kat!

– Nein, gewiß nicht... neunzehn Jahre... sie wird nun bald heiraten müssen... Findling wird einen braven Mann für sie suchen, so einen von sechs- bis siebenundzwanzig Jahren... ja, ungefähr wie Sie. Es muß natürlich einer sein, zu dem man volles Vertrauen haben kann... und der nicht der Marine angehört... nicht der Marine... Seemann... Ehemann, das stimmt nicht gut zusammen. Da Sissy außerdem eine hübsche Mitgift bekommt...

– Die braucht sie gar nicht, warf Grip dazwischen ein.

– Das ist wahr... eine so liebreizende Person... am letzten Ende ist es aber doch nicht schädlich.... Na, unser junger Herr wird wohl bald den Rechten finden....

– Er hat wohl schon einen im Auge?

– Ich glaub' es.

– Einen, der häufig nach dem Bazar kommt?.

– Sehr häufig.

– Kenne ich ihn?

– Nein... mir scheint, Sie kennen ihn nicht, antwortete Kat mit einem Blicke auf Grip, der die Augen niederschlug.

– Und... der... der gefällt auch Mamsell Sissy? fragte er, wobei ihm die Worte halb in der Kehle stecken blieben.

– Ja, wer kann das wissen? Bei Leuten, die nicht von der Leber weg reden...

– Herr Gott, was giebt es doch für Schwachköpfe! rief Grip.

– Ja, das sind' ich allerdings auch!« stimmte die gute Kat ihm zu.

Auch dieser Wink mit dem Zaunpfahle verhinderte den Heizer nicht, acht Tage später mit abzufahren. Als er am 29. October wiederkam, sah man's ihm auf dem Gesicht an, daß er einen großen Entschluß gefaßt hatte, nur gelang es ihm noch nicht, diesen in Worte zu kleiden.[388]

Jetzt hatte er freilich genügende Zeit dazu. Der »Vulcan« sollte zwei Monate lang hier liegen bleiben, um verschiedene nothwendig gewordene Reparaturen daran auszuführen, und zwei Monate reichen doch übrig dazu, ein einziges kleines Wort auszusprechen.

»Mamsell Sissy ist doch noch nicht verheiratet? hatte er die Kat beim ersten Besuche gefragt.

– Das noch nicht... lange wird's aber nicht mehr dauern... Es brennt schon!« antwortete darauf die gute Frau.

Nach Abtakelung des »Vulcan« hatte Grip an Bord selbstverständlich nichts zu thun, und folglich hielt er sich sehr häufig – sagen wir lieber, immer – im Bazar von Little Boy auf. Höchstens wenn er hier gleich wohnte, hätte er noch mehr daselbst sein können. Während seiner ganzen Urlaubszeit kamen die suchen jedoch keinen Schritt weiter.

Als die Reparaturen des »Vulcan« in der dazu bestimmten Frist beendigt waren, sollte er eine Woche später wieder in See gehen. Und dieser Schwachkopf von Grip hatte den Mund noch immer nicht aufgethan – wenigstens nicht, um das zu sagen, was man von ihm erwartete.

Da ereignete sich in der ersten Decemberwoche ein unerwarteter Zwischenfall.

Ein an O'Brien gerichteter Brief, die Antwort auf dessen letzte Anfrage in Australien, brachte folgende Nachrichten:

Martin und Martine Mac Carthy, Murdock, dessen Frau und Töchterchen, sowie Sim und Pat, die jenen gefolgt waren, hatten sich in Melbourne zur Rückkehr nach Irland wieder eingeschifft. Das Glück war ihnen auch hier nicht günstig gewesen und sie kamen ebenso elend heim, wie sie einst fortgegangen waren. Das Emigrantenschiff, auf dem sie sich befanden, der Segler »Queeasland«, konnte vor Ablauf von drei Monaten in Queenstown schwerlich eintreffen.

Unsern Findling betrübten diese Nachrichten recht schmerzlich, meldeten sie ihm doch, daß die Familie Mac Carthy auch heute noch unglücklich, ohne Arbeit und ohne Mittel sei. Er sollte aber wenigstens seine Adoptiveltern wiedersehen, sollte endlich die Genugthuung haben, ihnen beistehen zu können. Ja, wenn er zehnmal so vermögend gewesen wäre, um ihre Lage zehnmal besser gestalten zu können!

Den Brief, den er sich von O'Brien erbeten hatte, verschloß er in seinem Schreibtische, und – wunderbar! – von jenem Tage ab erwähnte er desselben[389] mit keiner Silbe und sprach auch überhaupt nicht mehr von den früheren Pächtern von Kerwan.

Jene Nachrichten übten aber einen unerwarteten Einfluß auf Grip aus. Das Menschenherz bleibt sich ja immer gleich, selbst in der Brust eines ersten Heizers. Da sollten die Mac Carthy's heimkehren, die beiden Brüder Sim und Pat, gewiß jetzt ein paar prächtige Burschen, die Findling fast wie leibliche Brüder liebte... wer konnte wissen, ob er nicht einem von diesen diejenige, die fast seine Schwester war, zugedacht hatte? Kurz, Grip wurde eifersüchtig, entsetzlich eifersüchtig, und am 9. December war er fest entschlossen, der Ungewißheit ein Ende zu machen, als Findling ihn zur Seite nahm und sagte:

»Komm nach meinem Comptoir, Grip, ich habe mit Dir zu sprechen.«

Ganz bleich – er hatte das Vorgefühl, daß es sich um etwas sehr wichtiges handelte – folgte Grip der Aufforderung Findlings.

Als sie sich allein gegenüber saßen, begann der Chef des »Kleinen Geldbeutels« trocknen Tones:

»Ich werde mich voraussichtlich auf ein umfänglicheres Geschäft einlassen, und dazu braucht' ich Dein Geld.

– Na, meinte Grip, das giebt nicht sehr viel. Wie viel brauchst Du denn?

– Alles, was Du in der Sparcasse liegen hast.

– Nimm, was Du willst.

– Hier ist Dein Sparbuch. Du mußt es unterzeichnen, damit ich das Geld erheben kann.«

Grip schlug das Buch auf und unterschrieb.

»Was Deine Zinsen betrifft, fuhr Findling fort, sprech' ich davon jetzt nicht.

– Das ist auch nicht der Mühe werth....

– Nein, weil Du von heute an Theilhaber der Firma Little Boy and Co. bist.

– In welcher Eigenschaft?...

– Nun, als richtiger Associé.

– Ja... aber mein Schiff?

– Du verlangst Deine Entlassung.

– Und mein Beruf?

– Den giebst Du auf.

– Weshalb müßt' ich den aufgeben?[390]

– Weil Du Sissy heiraten sollst.

– Heiraten?... Ich?... Die Mamsell Sissy! rief Grip, der das gar nicht fassen zu können schien.

– Ja, ja, sie will es selbst.

– Wa... s? Sie selbst wollte...

– Gewiß; und da es Dein Wunsch auch ist...

– Mein Wunsch... ich weiß nicht... freilich...«

Grip wußte gar nicht, was er antwortete, und hörte kein Wort mehr von dem, was Findling zu ihm sagte. Er ergriff seinen Hut, stülpte ihn auf den Kopf, nahm ihn wieder ab, legte ihn auf einen Stuhl und setzte sich dann selbst darauf, ohne es zu merken.

»Achtung, rief Findling lachend, nun wirst Du Dir zur Hochzeit einen neuen anschaffen müssen.«

Natürlich kaufte er gern einen andern Hut, doch wie er überhaupt zu dieser Heirat gekommen war, das begriff er nimmermehr. Lange Zeit konnte ihn niemand aus seiner Verwunderung reißen... nicht einmal Sissy. Doch, so etwas geht ja mit der Zeit vorüber.

Jedenfalls legte Grip am frühen Morgen des Weihnachtsheiligabends ganz schwarze Kleidung an, als ob er zu einer Beerdigung – und Sissy ein ganz weißes Gewand, als ob sie zu einem Balle gehen wollte. Findling, Bob und Kat zogen ebenfalls den Sonntagsstaat an, obwohl es Freitag war. Dann holten zwei Wagen alle an der Thür des »Kleinen Geldbeutels« ab, um sie nach der Kapelle in der Bedford-Street zu bringen.


 »Ja, das sind' ich auch!« stimmte Kat ihm zu. (S. 388.)
»Ja, das sind' ich auch!« stimmte Kat ihm zu. (S. 388.)

Und als Grip und Sissy eine halbe Stunde später das Gotteshaus wieder verließen, da waren sie plötzlich Mann und Frau geworden.

Außer dieser Kleinigkeit hatte sich nichts verändert, als die fröhliche Gesellschaft nach dem Bazar von Little Boy and Co. zurückkehrte. Sofort wurde der Verkauf wieder aufgenommen, denn am Abend vor Weihnachten konnte man doch der zahlreich herbeiströmenden Kundschaft einen so reichlich ausgestatteten Laden nicht verschließen.[391]

Quelle:
Jules Verne: Der Findling. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXIII–LXIV, Wien, Pest, Leipzig 1895, S. 376-392.
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