Siebentes Capitel.
Sieben Monate in Cork.

[292] Sollte Findling nun in Cork, der Hauptstadt der Provinz Munster, sein Glücksstern aufgehen? Die dritte Stelle in Irland einnehmend, zeichnet sich diese Stadt durch ihren Handel, ihre Industrie, doch auch durch wissenschaftliches[292] Streben aus. Doch was konnte alles das einem Knaben von elf Jahren im Beginn seiner selbstständigen Laufbahn nützen? Er war ja vielleicht nur hierher gekommen, um die Zahl der Elenden, von denen es in den Seestädten des Vereinigten Königreichs wimmelt, noch weiter zu vermehren.

Findling hatte nach Cork gewollt, er war jetzt da, freilich unter wenig günstigen Verhältnissen zur Durchführung seiner Zukunftspläne. Einst, als er noch auf dem Strande bei Galway umherschweifte, und später, als Pat Mac Carthy von seinen Reisen erzählte, da begeisterte er sich für das einträgliche Handelswesen. Waaren im Auslande zu kaufen und sie daheim theurer wieder abzusetzen... welch schöner Traum! Seit dem Weggange von Trelingar-castle hatte er aber tiefer nachdenken gelernt. Um aus dem Kinde vom Armenhaus in Donegal einen Befehlshaber eines schönen, tüchtigen Schiffes zu machen, das die Weltmeere durchkreuzte, mußte er von unten beginnen, als Schiffsjunge, als Leichtmatrose, als Vollmatrose und als Bootsmann dienen, dann erst konnte er hoffen, Officier und Kapitän für lange Fahrt zu werden. Jetzt aber, wo er für Bob und Birk zu sorgen hatte, war an so etwas nicht zu denken. Was hätte auch aus beiden werden sollen, wenn er sie verließ? Da er – mit Hilfe Birks – Bob das Leben gerettet hatte, fühlte er sich verpflichtet, es ihm zu erhalten.

Am folgenden Tage einigte sich Findling mit dem Wirthe über den Miethzins für eine Dachkammer mit einfacher Strohmatratze, der übrigens nicht hoch war, nämlich zwei Pence, an jedem Morgen zu zahlen. Ihre Mahlzeiten wollten sie einnehmen, wo sich das gerade machen ließ. So gingen die beiden Knaben mit dem Hunde aus, als die Sonne eben die Morgennebel zerstreute.

»Und die Schiffe?... fragte Bob.

– Welche Schiffe?

– Die von denen Du mir gesprochen hast.

– Warte nur, bis wir an den Fluß kommen.«

Nun trollten sie durch eine ausgedehnte Vorstadt von etwas ärmlichem Aussehen dahin, um die Schiffe zu suchen. Bei einem Bäcker unterwegs wurde ein Stück Brod erkauft. Wegen Birks brauchten sie sich nicht zu beunriihigen – der fand schon sein Futter in den Abraumhaufen auf den Straßen.

Am Quai der Lee, die Cork mit zwei Armen um faßt, lagen wohl einige Barken, doch keine Schiffe – wenigstens nicht solche, die den Canal Saint-Georges oder das irische Meer und gar den Atlantischen Ocean hätten überschreiten können.[293]

Der eigentliche Hafen liegt auch weiter stromabwärts bei Queenstown, dem alten Cowes, und dahin kann man mit mittelst rascher Dampffähre bequem und billig gelangen.

Bob an der Hand führend, betrat Findling nun die eigentliche Stadt.

Auf der Hauptinsel des Flusses erbaut, verbinden sie mehrere Brücken mit dem Festlande. Andre, weiter oben oder unten gelegene Inseln sind in Spaziergänge und Gärten verwandelt, die das herrlichste Grün und erquickenden Schatten bieten. Da und dort erheben sich einzelne Denkmäler, daneben eine stillose Kathedrale mit sehr altem Thurme, die Kirchen Sainte-Marie und Saint-Patrick. An Kirchen fehlt es in Irland überhaupt nicht, auch nicht an Armen- und Krankenanstalten und Workhouses. Im Lande Erins giebt es recht viele fromme Leute, doch auch ebenso viele Arme. Der Gedanke, etwa in eine solche Armenanstalt zurückkehren zu müssen, erfüllte Findling mit Abscheu und Schrecken. Ja, da hätte er das Queenscollege, ein prächtiges Gebäude, weit vorgezogen. Um da Aufnahme zu finden, wird freilich etwas mehr verlangt, als lesen, schreiben und rechnen zu können.

Die Straßen der Stadt waren ziemlich belebt... belebt von Leuten, die schon frühzeitig ihre Arbeit beginnen; jetzt öffneten sich die Läden oder die Thüren der Häuser, aus denen die Dienstmädchen, den Besen in der Hand oder einen Korb am Arme, heraustraten, jetzt knarrten viele Wagen und zeigten sich viele Hausierer mit ihren zur Schau gelegten Kleinwaaren, und es summte auf den Märkten, wo die Lebensmittel für eine Bevölkerung von hunderttausend Seelen – Queenstown eingerechnet – feilgeboten werden. Auf dem Wege durch das Handels- und Industrieviertel sah man Fabriken für Leder, Papier und Tuche, Brennereien und Brauereien u. s. w., vom wirklichen Hafen- und Seeleben aber noch nichts.

Nach einem angenehmen Spaziergange ließen sich Findling und Bob auf der Steinbank an der Ecke eines großen Gebäudes nieder. Hier »roch« es schon mehr nach Welthandel, denn hier lagerten Salzfleisch, scharfe Gewürze, Colonialwaaren aller Art, und auch Butter, wofür Cork ein Hauptmarkt nicht nur für das Vereinigte Königreich, sondern fast für ganz Europa ist. Findling sog den ihm fremden Duft mit größtem Wohlbehagen ein.

Das betreffende Gebäude erhob sich an der Vereinigung der beiden Arme der Lee, die von hier aus vereinigt nach der Bai hinabströmen. Jenes war das Zollamt mit seinem unaufhörlichen Menschenverkehr. Von diesem Zusammenflusse[294] aus spannt sich keine Brücke mehr über den Strom, und so findet die Schiffahrt keinerlei Hindernisse zwischen Queenstown und Cork.

Ebenso wie er vorher nach den Schiffen gefragt hatte, rief Bob jetzt:

»Nun, aber das Meer?«...

Ja, das Meer, das ihm sein großer Bruder versprochen hatte....

»Das Meer ist weiter draußen, Bob; dahin werden wir schon auch noch kommen.«

Dazu brauchten sie nur eins der Fährboote zu besteigen, die den Verkehr in der Bai vermitteln; das ersparte ihnen Zeit und Mühe. Das Fahrgeld für zwei Personen betrug nur wenige Pence. Das konnten sie sich am ersten Tage wohl erlauben, zumal da Birk ganz frei mitfuhr.

Wie freute sich Findling, auf der Lee in dem schnellen Dampfboote hinabzugleiten. Er gedachte dabei der vornehmen Familie der Piborne's und ihres Besuchs auf der Insel Valentia, hinter der das weite, weite Meer sich ausdehnte. Während der Fahrt kamen Schiffe von jeder Größe vorüber. An den Ufern lagen große Speicher, Badeanstalten und Schiffswerfte, die die auf dem Vorderdeck des Fährschiffes sitzenden Knaben mit Interesse betrachteten.

Schließlich gelangten sie nach Queenstown, einem schönen, acht bis nenn Meilen langen, und von Ost nach West gegen sechs Meilen breiten Hafen.

»Ist das nun das Meer? fragte Bob.

– Nein, kaum ein Stückchen davon, erwiderte Findling.

– Da ist es also wohl noch größer?

– Gewiß. Man kann kein Ende desselben sehen.«

Da das Fährboot aber nur bis Queeastown ging, kam Bob das, wonach er sich so sehr sehnte, jetzt nicht vor Augen.

Schiffe jeder Größe gab es hier zu Hunderten, solche der langen Fahrt ebenso wie Küstenfahrzeuge. Das erklärte sich damit, daß Queenstown nicht nur ein Ankerplatz, sondern auch ein Provianthafen ist. Die großen transatlantischen Dampfer der englischen oder amerikanischen Linien, die von den Vereinigten Staaten kommen, liefern hier die Postbeutel für England ab, die dadurch einen halben Tag früher eintreffen. Dann steuern die Dampfer weiter nach London, Liverpool, Cardiff, Newcastle, Glasgow, Milford und nach andern Häfen des Vereinigten Königreichs, kurz, es herrscht hier ein Schiffsverkehr, der sich auf zwölfhunderttausend Tonnen beläuft.[295]

Bob verlangte nach Schiffen.... Niemals jedoch hätte er geahnt, daß es deren so viele gebe – Findling übrigens auch nicht – die einen verankert oder von Tauen gehalten, die andern ein- oder ausfahrend, die einen von überseeischen Ländern herkommend, die andern nach weit entfernten Ländern aussegelnd, die hier in vollem Schmuck ihrer sich vor der Brise aufblähenden Segel, und die dort wieder, das Wasser der Bai von Cork mit ihren mächtigen Schrauben aufwirbelnd.


Birk mit einem Zeitungsblatte zwischen den Zähnen. (S. 299.)
Birk mit einem Zeitungsblatte zwischen den Zähnen. (S. 299.)

Und während Bob mit fast verdutzten Augen das rege Leben auf der Bai betrachtete, grübelte Findling über die Handelsthätigkeit, die sich vor seinen[296] Blicken entrollte, über die reichen Ladungen im Raume jener Schiffe, die Baumwollen- und Wollenballen, die Weintonnen, die Gefäße mit Alkohol, über die Säcke mit Zucker, die Kisten mit Kaffee, und er sagte sich, daß alles das gekauft und verkauft werde... daß das ein richtiges Abbild der Handelsthätigkeit darstelle.

Auf dem Quai von Queenstown zu lange zu verweilen, hier, wo so vieles Elend neben so großen Reichthümern sichtbar ist, hätte ihnen auch nichts nützen können. Mit Schrecken sahen sie da und dort große Haufen von[297] »Mudlarks«, kleinen, armen Kindern und alten elenden Frauen, die den von der Ebbe freigelegten Schlamm durchwateten, und an den Straßenecken andre Unglückliche, die sich mit den Hunden um einige Abfälle stritten.

So bestiegen beide wieder das Fährboot und kehrten nach Cork zurück. Die Spazierfahrt war unterhaltend und belehrend gewesen, hatte aber viel gekostet. Vom nächsten Tage ab galt es nun daran zu denken, etwas mehr zu verdienen als auszugeben, wenn die kostbaren Guineen nicht zusammenschmelzen sollten, wie ein Stück Eis in der warmen Hand.


Sie fühlten das Verlangen, deren Deck zu betreten. (S. 302.)
Sie fühlten das Verlangen, deren Deck zu betreten. (S. 302.)

Wir wollen nicht auf alle Einzelheiten des Lebens Findlings und seines Freundes Bob während der sechs Monate nach seinem Eintreffen in Cork eingehen. Der lange und rauhe Winter wäre für an Hunger und Kälte weniger gewöhnte Kinder gewiß verderblich gewesen. Jetzt machte die Noth aus diesem Knaben von elf Jahren schon einen Mann. Einstmals, bei der Hard, lebte er von nichts, und wenn er heute von wenig lebte, so lebte er doch, und Bob noch mit ihm. Mehr als einmal hatten sie freilich des Abends nur ein Ei zu theilen, das sie mit einem Stück Brod verzehrten, dennoch sprachen sie nie um ein Almosen an. Bob hatte eingesehen, daß das Betteln eine Schande war. Beide besorgten sie kleine Aufträge, holten Wagen von den Halteplätzen und trugen, manchmal ziemlich schweres, Reisegepäck, das die Fremden ihnen beim Verlassen des Bahnhofs übergaben.

Findling verstand von dem Reste seines Lohnes von Trelingar-castle möglichst viel zu erhalten. Nur in den ersten Tagen des Aufenthaltes in Cork hatte er einen Theil davon opfern müssen. Bob brauchte ja Kleider und Schuhe und freute sich unbändig, als er einen ganz neuen Anzug für dreizehn Schillinge auf dem Leibe hatte. Er konnte ja aber auch nicht in Lumpen und barfuß nebenher gehen, wenn sein großer Bruder anständig gekleidet erschien. Nach dieser einmaligen Ausgabe galt es aber, von dem zu leben, was tagsüber verdient wurde. Zuweilen, wenn ihnen der Magen ein wenig knurrte, beneideten sie wohl Birk, der sein Futter auf der Straße fand.

»Ich möchte fast auch ein Hund sein! meinte Bob.

– Nun, verwöhnt bist Du offenbar nicht!« antwortete Findling.

Mit dem Miethzins im Gasthaus blieben sie nie im Rückstand. Der Eigenthümer, der sich für die beiden Kinder interessierte, bedachte sie von Zeit zu Zeit einmal mit einer guten warmen Suppe, und die konnten sie ja wohl ohne Erröthen annehmen.[298]

Wenn Findling darauf hielt, die beiden Pfund, die ihm nach den ersten Einkäufen noch verblieben, zu bewahren, so geschah das, weil er auf die Gelegenheit wartete, dieses Capital »ins Geschäft zu stecken«, wie er sagte. Bob riß die Augen weit auf, als er ihn so sprechen hörte, und Findling erklärte ihm dann, das bestehe darin. irgendwo Dinge einzukaufen und sie um höheren Preis wieder zu verkaufen.

»Dinge, die man essen kann? fragte Bob.

– Die man essen kann oder nicht, das hängt vom Zufall ab.

– Ich würde lieber suchen kaufen, die eßbar sind.

– Warum denn, Bob?

– Nun, wenn man sie einmal nicht verkauft, kann man sie wenigstens selbst verzehren.

– Ei, Bob, Du hast ja schon rechtes Verständniß für den Handel! Es kommt indeß darauf an, gut auszuwählen, was man einkauft, dann wird man das wohl immer mit Nutzen wieder los.«

Hieran dachte unser Held unablässig, und er machte auch einige schüchterne Versuche, die nicht fehlschlugen. Wenn es mit Papier, Bleistiften und Streichhölzchen auch – wegen starker Concurrenz – nicht recht gehen wollte, so hatte er doch bessern Erfolg mit dem Verkauf von Zeitungen, mit denen er sich in der Nähe des Bahnhofs aufstellte. Bob und er sahen so interessant, und vorzüglich so grundehrlich aus, sie boten ihre Waare so geschickt und höflich an, daß nur selten Jemand sich enthalten konnte, ihnen die neuesten Journale, die Coursbücher der Eisenbahnen, oder Fahrpläne und kleine billige Reisebücher abzunehmen. Findling und Bob besaßen jeder einen Kasten, in dem die Zeitungen und Bücher so lagen, daß man die Titel und auch etwaige Illustrationen gut sehen konnte. und auch an Kleingeld, um wiederzugeben, fehlte es niemals. Natürlich verließ Birk seinen Herrn auch hier nie; er mochte sich als Geschäftstheilhaber oder wenigstens als Gehilfe desselben betrachten. Zuweilen lief er mit einem Zeitungsblatt in den Zähnen auf Vorübergehende zu und bot es diesen mit bezeichnenden Sprüngen an. Bald sah man ihn gar mit einem Korbe auf dem Rücken, worin die Preßerzeugnisse schon geordnet lagen und den ein Wachstuchdach gegen gelegentlichen Regen schützte.

Das war ein Gedanke Findlings gewesen, und gewiß kein so übler. Die Käufer mußten ja angelockt werden, wenn sie Birk so ernsthaft, so durchdrungen von der Wichtigkeit seines Dienstes sahen. Da war's freilich mit tollen Sprüngen[299] und mit Spielen mit Hunden aus der Nachbarschaft zu Ende. Wenn solche sich dem gescheuten Thiere näherten, da empfing er sie nur mit dumpfem Knurren, und der vierbeinige Colporteur zeigte den Vorwitzigen die Zähne. In der Umgebung des Bahnhofs sprach man schon überall von dem Hunde der kleinen Händler. Ja man handelte wohl unmittelbar mit ihm. Die Käufer entnahmen dem Korbe das gewünschte Zeitungsexemplar und steckten den Preis dafür in eine Sparbüchse, die an Birks Halse hing.

Ermuthigt durch diesen Erfolg, dachte Findling daran, »sein Geschäft« auszudehnen. Dem Handel mit Büchern und Journalen fügte er noch Streichhölzer, Tabak, billige Cigarren und ähnliches hinzu. In Folge davon trug Birk allmählich einen ganzen Kramladen auf den Schultern. An manchem Tage vereinnahmte er sogar mehr als seine Herren, die deshalb nicht eifersüchtig wurden – im Gegentheil, Birk wurde vielmehr mit einem guten Futter und mit herzlicher Liebkosung belohnt. Die drei Genossen vertrugen sich vortrefflich, und es wäre ein Glück, wenn alle Familien so einig wären, wie hier der Hund und die beiden Kinder!

Findling hatte an Bob bald gute Anlagen und Wissensdrang bemerkt. Der siebenundeinhalbjährige Knabe, von vielleicht minder praktischem Geiste als sein größerer Bruder, war dafür lustiger und ließ seiner natürlichen Fröhlichkeit gern freien Lauf. Da er weder lesen, schreiben noch rechnen konnte, unterließ es Findling selbstverständlich nicht, ihn bald darin zu unterrichten. Er mußte doch wenigstens die Titel der Blätter angeben und lesen können, die man von ihm verlangte. Die Sache gefiel ihm und er machte schnell Fortschritte. Nach den großen Buchstaben der Titel erlernte er die kleinen im Texte der Blätter. Dann ging's aus Schreiben und Rechnen, was ihm etwas mehr Schwierigkeiten machte. Dennoch überwand er diese schnell. Schon sah er sich als Gehilfe einer Buchhandlung, der den Verkaufsladen Findlings besorgte, welcher in der schönsten Straße von Cork eine weit leuchtende Firma mit »Bookseller« darauf hatte. Er verstand jetzt schon einen guten Verdienst zu machen, und in seiner Tasche befanden sich mehrere wohlverdiente Pence, auch weigerte er sich nicht, ein kleines Almosen zu geben, wenn Kinder bettelnd die Hand ausstreckten. Er erinnerte sich ja zu gut der Zeit, wo er auf der Landstraße hinter den Wagen hergelaufen war.

Seiner angebornen Neigung entsprechend, hatte Findling natürlich jeden Tag Buch und Rechnung geführt, und so und so viel für die Wohnung, für[300] Essen und Trinken, für Wäsche und für Heizung und Licht ausgeworfen. Jeden Morgen schrieb er in sein Notizbuch die zum Einkauf von Waaren bestimmte Summe ein und stellte eine Bilanz mit den Ausgaben und Ein nahmen auf. Er verstand bereits recht vortheilhaft ebenso einzukaufen, wie zu verkaufen. In Folge dessen hatte er mit Ende des Jahres 1882 schon ein Dutzend Pfund in der Casse – wenn er eine Casse besessen hätte. Dafür hatte ein wohlwollender Händler, bei dem er gewöhnlich ziemlich viel entnahm, ihm seinen Geldschrank zur Verfügung gestellt, und in diesen wurde jede Woche der erzielte Ueberschuß eingelegt, für den er sogar schon einige Zinsen erhielt.

Angesichts dieser durch seine Sparsamkeit und Intelligenz erzielten Erfolge regte sich in dem Knaben bald der gewiß nicht unberechtigte Ehrgeiz, seine Geschäfte zu vergrößern. Das wäre ihm, auch wenn er dauernd in Cork blieb, mit der Zeit wohl gelungen. Er sagte sich jedoch, nicht ohne Grund, daß eine bedeutendere Stadt, z. B. Dublin, die Hauptstadt Irlands, dafür günstigere Aussicht bieten müsse. In Cork laufen ja die Schiffe nur vorübergehend an und der Waarenumsatz ist verhältnißmäßig beschränkt... während Dublin... Dublin lag nur gar so weit von hier!... Doch das war ja zu überwinden. Wenn auch die Möglichkeit vorlag, daß der Knabe dabei den Sperling aus der Hand für die Taube auf dem Dache hingab, wenn er seine Träume für verwirklicht ansah, so kann man es einem halben Kinde doch schwerlich verwehren, zu träumen.

Der Winter war nicht streng, weder in den letzten Monaten des Jahres 1882, noch in den ersten des nachfolgenden Jahres. Findling und Bob brauchten jetzt ja auch nicht mehr unter Leiden und Entbehrungen vom Morgen bis zum Abend auf den Straßen umherzulaufen. Immerhin ist es beschwerlich, mitten im scharfen Winde auf Plätzen und an Straßenecken längere Zeit auszuhalten. Sie waren das indeß von früher Jugend an gewöhnt, und wenn es ihnen auch zuweilen hart ankam, so wurden sie wenigstens nicht krank, obgleich sie sich in keiner Weise schonten. Bei jeder Witterung standen sie Tag für Tag mit dem Morgenrothe auf, kauften dann ihre Vorräthe ein, um diese schleunigst wieder abzusetzen, wozu sich auf dem Perron des Bahnhofs bei Ankunft und Abgang der Züge die beste Gelegenheit bot, und wanderten dann durch verschiedene Stadttheile, während Birk seinen Schaukasten ohne Murren auf dem Rücken trug. Nur des Sonntags, wenn im Vereinigten Königreich alle Städte, Flecken und Dörfer feiern, gönnten sie sich einige Ruhe, besserten die Kleidung aus,[301] räumten zu Hause auf und stellten ihre Dachkammer so sauber wie möglich her, wonach der eine seine Buchführung in Ordnung brachte und der andre sich im Lesen, Schreiben und Rechnen übte. Am Nachmittage gingen sie dann in Begleitung Birks bis hinunter nach Queenstown – zwei wackre kleine Bürger, die nach einer Woche fleißiger Arbeit zur Erholung lustwandelten.

Eines Tages gestatteten sie sich, in einem Boote um die Bai zu fahren, und hier erblickte Bob zum ersten Male das grenzenlose Meer.

»Und weiter draußen, fragte er, wenn man auf dem Wasser immer, immer weiter fährt, was findet man denn da?

– Ein großes Land, Bob.

– Größer als unsres?...

– Tausendmal so groß, Bob, und die großen Schiffe, die Du siehst, brauchen zur Reise dahin wenigstens acht volle Tage!

– Giebt's denn in jenem Lande auch Zeitungen?

– Zeitungen, Bob?... O, zu hunderten... Zeitungen, die das Stück sogar mit sechs Pence verkauft werden.

– Das weißt Du bestimmt?

– Ganz bestimmt... ich weiß auch, daß man Monate brauchen würde, um sie alle durchzulesen!«

Bob betrachtete mit Bewunderung den erstaunlichen Findling, der im Stande war, so etwas zu versichern. Bezüglich der gewaltigen Schiffe, der mächtigen Dampfer, die gewöhnlich in Queenstown vor Anker gingen, fühlte er das lebhafteste Verlangen, einmal deren Deck zu betreten und auf den Masten herumzuklettern, während Findling es sicherlich vorgezogen hätte, den Laderaum und die Fracht in Augenschein zu nehmen.

Bisher hatten aber beide nicht gewagt, an Bord eines solchen zu gehen ohne Erlaubniß des Kapitäns – einer Persönlichkeit, von der sie sich die übertriebensten Vorstellungen machten. Ihn zu fragen, dazu fehlte ihnen der Muth. Der Kapitän ist auf dem Schiffe ja »der Nächste nach Gott«, wie es Findling gehört und es Bob wieder gesagt hatte.

So blieb der Wunsch der beiden Knaben noch immer unbefriedigt. Hoffentlich sollte er noch einmal in Erfüllung gehen, gleich den andern Wünschen, die in ihnen erwachten.[302]

Quelle:
Jules Verne: Der Findling. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXIII–LXIV, Wien, Pest, Leipzig 1895, S. 292-303.
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