Drittes Kapitel.
Warum Summy Skim doch nicht den Weg nach Montreal einschlägt.

[268] Die Beerdigung des armen Franzosen erfolgte schon am nächsten Tage. Jane und Edith Edgerton folgten mit Ben Raddle und Summy Skim dem einfachen Sarge bis zum Friedhofe. Am Grabe wurde ein Kreuz mit dem Namen Jacques Leduns aufgepflanzt, dessen Inschrift die Unbill der Witterung freilich bald unleserlich machen würde. Nach der Rückkehr schrieb Ben Raddle,[268] gemäß einem dem Sterbenden gegebenen Versprechen, sofort an dessen bedauernswerte Mutter, die nun ihren Sohn niemals wiedersehen sollte.

Nach Erfüllung dieser Pflicht der Pietät prüfte er von jedem Gesichtspunkt aus die neue Sachlage, die durch das halb bloßgelegte Geheimnis geschaffen war, das ihm der Entseelte anvertraut hatte.

Daß die den Golden Mount betreffende Angelegenheit einen Mann wie Ben Raddle aufs höchste interessierte, ist ja nicht zu verwundern. Weniger natürlich dürfte es aber erscheinen, daß ein Ingenieur, das heißt ein Mann mit gesundem Verstande und nüchternem Urteil, ein solches Geheimnis gleich als eine besiegelte Wahrheit annahm. Und doch war das hier der Fall. Keinen Augenblick kam Ben Raddle der Gedanke, daß die letzten Mitteilungen Jacques Leduns vielleicht nur auf unsicherem Grunde ruhen könnten. Er hegte vielmehr nicht den geringsten Zweifel, daß sich neben dem Rubber Creek ein wunderbarer Berg erhöbe, der sich wie eine ungeheure »Goldtasche« früher oder später von selbst seines Inhaltes entleeren würde. Dabei flögen dann voraussichtlich Millionen von Pepiten hoch in die Luft, wenn man sie nicht etwa in dem voll ständig erloschenen Krater einsammeln müßte.

Außerdem lag die Wahrscheinlichkeit vor, daß in der vom Mackensie und seinen Nebenflüssen bewässerten Gegend noch reiche Placers vorhanden wären. Nach der Aussage der Indianer, die in den Nachbargebieten des Polarmeeres hausten, führten alle dortigen Flüsse Gold mit sich. Die Syndikate dachten auch bereits daran, ihre Untersuchungen bis zu dem Teile der Dominion auszudehnen, der zwischen dem Polarkreis und dem Eismeere liegt, und einige Prospektoren beabsichtigten dem Vernehmen nach schon, sich für die nächste Arbeitsperiode dahin zu begeben, und die ersten Ankömmlinge mußten dann ja am meisten begünstigt sein. Wer weiß, dachte Ben Raddle, ob diese nicht gar den Vulkan entdeckten, dessen Vorhandensein er, dank den vertraulichen Mitteilungen Jacques Leduns, vorläufig nur allein kannte.

Wollte er daraus Nutzen ziehen, so hieß es vor allem schnellstens handeln. Vorher mußte er aber doch erst weitere Aufklärung über sein Besitztum zu erlangen und vorzüglich die Karte kennen zu lernen suchen, die, nach den Worten des Franzosen, Jane Edgerton in Verwahrung haben sollte.

»Nach dem, was Jacques Ledun mir kurz vor seinem Ende anvertraut hat, sagte er zu Jane scheint es, daß Sie jetzt eine ursprünglich ihm gehörende Landkarte in Besitz haben.[269]

– Ja, ich besitze eine solche Karte...« begann Jane.

Ben Raddle atmete befriedigt auf. Die Sache ging ja sozusagen ganz allein, da Jane die Aussagen des Franzosen freimütig bestätigte.

»Sie ist aber mein persönliches Eigentum, fuhr Jane fort.

– Die Karte gehörte Ihnen?

– Allerdings mir; einfach weil Jacques Ledun sie mir aus freiem Willen geschenkt hat.

– Ah so... ah so!« murmelte Ben Raddle für sich hin.

Nach kurzem Schweigen sagte er aber:

»Nun, darauf kommt's ja nicht an, denn ich denke, Sie werden es nicht abschlagen, mich das Blatt einsehen zu lassen.

– Ja... das weiß ich noch nicht, antwortete Jane sehr ruhig.

– Das wissen Sie noch nicht?... Wovon sollte das abhängig sein?... Bitte, erklären Sie sich.

– O, das ist höchst einfach, antwortete Jane. Die betreffende Karte, die mir, ich wiederhole es, von dem rechtmäßigen Eigentümer geschenkt worden ist, zeigt – ich habe alle Ursache, das zu glauben – offenbar genau die Stelle an, wo eine fabelhaft reiche Mine liegt. Wenn mir Jacques Ledun das kundgegeben hat, geschah es gegen mein Versprechen, seiner Mutter hilfreich beizuspringen, ein Versprechen, das ich nur halten kann, doch auch halten muß, wenn ich das mir übergebne Dokument zu meinem Vorteil benütze. Die Hinweisungen auf dieser Karte sind aber leider unvollständig.

– Nun also? fragte Ben Raddle.

– Nun, das Verlangen, das Sie an mich stellen, läßt mich vermuten, daß Jacques Ledun Ihnen die Mitteilungen gemacht hat, die mir fehlen, und wahrscheinlich gegen eine der meinigen ähnliche Verpflichtung, wobei er Ihnen aber das verhehlte, was ich über die Sache weiß. Wenn das der Fall ist, lehne ich es nicht ab, Ihnen das Dokument zur Einsicht zu überlassen, doch nur unter der Bedingung, daß wir beide uns als Teilhaber betrachten. Sie besitzen ja, wie es scheint, die eine Hälfte des Geheimnisses und ich die andre. Wollen Sie nun, daß wir die beiden Hälften vereinigen und daß wir teilen, was die Ausnützung des ganzen Geheimnisses etwa ergibt?«

Anfänglich war Ben Raddle über diese Antwort, die er in keinem Falle erwartet hatte, geradezu verdutzt. Jane Edgerton wußte offenbar, was sie wollte. Bald gewannen beim Ingenieur aber die gesunde Vernunft und die Billigkeit[270] die Oberhand. Alles in allem war ja das Verlangen der jungen Prospektorin nicht anzufechten. Jedenfalls hatte sich Jacques Ledun doppelt sichern wollen, das Los seiner Mutter günstiger zu gestalten, und darum hatte er sich weislich an zwei bestimmte Personen gewendet, denen er seine Wünsche in gleicher Weise kundgab.

Was war denn auch einzuwenden gegen Janes Vorschlag, das Ergebnis der Ausbeutung des Goldvulkans zu teilen? Entweder war dieser Goldvulkan nur ein Hirngespinst, und dann hatte Jacques Leduns Geheimnis überhaupt keinen Wert und von einer Ertragsteilung konnte keine Rede sein, oder es war etwas Wahres an der Sache, dann konnte es aber nicht darauf ankommen, mit Jane Edgerton zu teilen, denn dann lieferte der Goldvulkan ja geradem unermeßliche Schätze.

Diese Erwägungen beschäftigten den Ingenieur nur wenige Augenblicke, dann war sein Entschluß gefaßt.

»Einverstanden mit allem, sagte er kurz und bündig.

– Hier ist die Karte,« antwortete Jane, während sie ihm das entfaltete Blatt vorlegte.

Ben Raddle überflog es mit dem Blicke und zeichnete dann, das rote Kreuz durchschneidend, einen Breitengrad ein, neben den er die Angabe 68°37' hinschrieb.

»Die Koordinaten sind nun vollständig, erklärte er mit sichtlicher Befriedigung. Man könnte den Goldvulkan jetzt mit verbundnen Augen finden.

– Den Goldvulkan? wiederholte Jane. Jacques Ledun hatte schon diesen Namen ausgesprochen.

– Ja, das ist die Bezeichnung eines ganz außerordentlichen Berges, den ich aufsuchen werde...

– Den wir aufsuchen werden, fiel Jane berichtigend ein.

– Nun ja, nach dem wir uns im kommenden Frühling begeben wollen,« lenkte der Ingenieur ein.

Ben Raddle teilte nun Jane Edgerton alles mit, was Jacques Ledun ihm anvertraut hatte. Er sprach ihr von dem Vorhandensein eines leibhaftigen Goldberges, des Golden Mount, der allen noch unbekannt wäre und den der Verstorbne zusammen mit Harry Brown entdeckt hätte. Er erzählte ferner, daß die beiden Abenteurer, wegen Mangels an Hilfsgeräten zur Rückkehr genötigt, doch schon höchst wertvolle Proben ihres Fundes mitgenommen hätten, unterwegs aber[271] von einer Rotte Eingeborner überfallen worden wären, die den einen von ihnen getötet, den andern aber von allem entblößt hätten laufen lassen.

– Und Ihnen sind keine Zweifel gekommen an der Glaubwürdigkeit einer so fabelhaften Geschichte? fragte Jane, als Ben Raddle seine Mitteilungen beendigt hatte.

– Anfänglich war ich freilich etwas ungläubig, gestand dieser ein. Die vertrauenerweckende Ehrlichkeit des Tones, womit Jacques Ledun sprach, besiegte aber bald meine Zweifel. Die Geschichte ist wahr, verlassen Sie sich darauf! Damit ist freilich noch nicht gesagt, daß gerade wir den Vorteil davon haben werden. In solchen Fällen liegt die größte Gefahr darin, daß einem andre schon zuvorkommen. Wenn der Golden Mount auch seiner eigentlichen Bedeutung nach noch nicht bekannt sein mag, so weiß man doch sicherlich in weitern Kreisen, daß er vorhanden ist, und es könnten sich daran recht wohl sagenhafte Überlieferungen von seinem innern Werte knüpfen. Da brauchte nur ein Prospektor weniger ungläubig und etwas kühner als die andern zu sein, um die Legende zur schönen Wirklichkeit zu verwandeln. Darin liegt die Gefahr, der wir, soweit es an uns liegt, zuvorkommen müssen, und zwar auf zweierlei Weise: Wir müssen uns beeilen und müssen zu schweigen verstehen.«

Es kann hiernach nicht wundernehmen, daß sich der Ingenieur von Stund an bemühte, über alle Nachrichten unterrichtet zu sein, die sich unter der Welt der Goldsucher verbreiteten. Jane interessierte sich dafür nicht weniger als er und beide besprachen auch recht häufig die Frage, die sie so ernst beschäftigte, doch immer fest entschlossen, das nur ihnen bekannte Geheimnis des Goldvulkans bis zur letzten Minute streng zu bewahren. Ben Raddle hatte nicht einmal Summy Skim gegenüber davon eine Silbe verlauten lassen. Übrigens hatte es jetzt noch keine Eile, da von den acht Monaten des Winters in Klondike erst drei verflossen waren.

Inzwischen verkündigte auch die Kommission zur Berichtigung der Grenze das Ergebnis ihrer Arbeiten. Das kam darauf hinaus, daß die Ansprüche der Amerikaner unbegründet wären.

Es war früher kein Irrtum vorgekommen. Die Grenze zwischen Alaska und der Dominion verlief genau auf der dafür bestimmten Linie, weder weiter im Westen zugunsten der Kanadier, noch zu ihren Ungunsten weiter im Osten. Die Claims längs dieser Grenze brauchten ihre nationale Zugehörigkeit also nicht zu wechseln.[272]

»Da sind wir ja ein gutes Stück vorwärtsgekommen, sagte Summy Skim an dem Tage, wo diese Entscheidung veröffentlicht wurde. Der Claim 129 ist und bleibt kanadisch. Leider gibt es nun einen Claim 129 nicht mehr; die Wiedertaufe erfolgt nach seinem Tode.

– Er ist unter dem Forty Miles Creek noch vorhanden, erwiderte der Werkführer, der noch immer nicht auf jede Hoffnung verzichten wollte.


Summy Skim versuchte, sich nach dem Krankenhause zu begeben... (S. 275.)
Summy Skim versuchte, sich nach dem Krankenhause zu begeben... (S. 275.)

– Sehr richtig, Lorique! Sie haben vollständig recht. Nun nützen Sie ihn auch nur fünf bis sechs Fuß unter der Wasserfläche aus! Solange kein[273] zweites Erdbeben den frühern Zustand der Dinge wieder her stellt, sehe ich freilich nicht...«

Die Achseln zuckend setzte Summy Skim noch hinzu:

»Und im Falle, daß Pluto und Neptun in Klondike noch einmal in Kompanie arbeiten, hoffe ich, daß sie dem entsetzlichen Lande ein seliges Ende dadurch bereiten, daß sie es so durcheinanderrütteln und überschwemmen, daß kein Mensch mehr hier eine Pepite auflesen kann..

– O... ich bitte Sie, Herr Skim! rief der Werkführer innerlich entrüstet.

– Nun... und dann? fiel Ben Raddle ein, wie einer, der an sich hielt, mehr zu sagen, als er wollte, glaubst du, daß Goldlager nur in Klondike vorkommen?

– Ich nehme, versetzte dagegen Summy Skim sich etwas aufrichtend, von meiner Verwünschung auch nicht die andern aus, die es in Alaska, in der Dominion, in Transvaal, ja – um offen zu sein – die es sonstwo auf dieser Erde geben mag.

– Aber, Herr Skim, rief der Werkführer, Gold ist doch Gold!

– O, das verstehen Sie nicht ordentlich, Lorique, nein, gewiß nicht gründlich genug. Wollen Sie wissen, was Gold eigentlich ist?... So hören Sie: Gold ist Luft, ist Schwindel, weiter nichts. Das ist meine Ansicht, Sie mögen sagen, was Sie wollen!«

Dieses Gespräch hätte noch lange Zeit fortdauern können, ohne zwischen den Parteien zur Übereinstimmung zu führen. Da machte ihm Summy Skim kurzerhand ein Ende.

»Neptun und Pluto, sagte er, mögen übrigens tun und lassen, was ihnen gefällt, das ist mir gleichgültig und ich mische mich nicht in Dinge, die mich nichts angehen. Mir genügt es, daß Nummer 129 verschwunden ist, mich aufs höchste zu befriedigen, weil dieser glückliche Umstand uns zwingt, nach Montreal zurückzukehren.«

Das war freilich nur eine rhetorische Figur im Munde Summy Skims. In der Wirklichkeit stand noch eine lange Zeit bevor, ehe die Temperaturverhältnisse erlauben würden, den Rückweg einzuschlagen. Das Jahr ging ja jetzt kaum zu Ende. Summy Skim vergaß auch gewiß die Weihnachtswoche nicht, die, obwohl die Kälte nicht über zwanzig Grad unter Null ging, doch ganz abscheulich war. Vielleicht wäre da eine stärkre Erniedrigung der Temperatur mit frischem und trocknem Nordwind besser gewesen.[274]

Diese letzte Woche des Jahres waren die Straßen von Dawson City fast ganz menschenleer. Auch an deren Beleuchtung war nicht zu denken, da sie vor dem unausgesetzten Schneetreiben niemand betreten konnte. Der Schnee häufte sich darin zu einer fünf bis sechs Fuß hohen Lage an. Von einem Verkehr zu Wagen und zu Pferde konnte natürlich keine Rede sein. Erreichte die Kälte dann ihre gewöhnliche winterliche Strenge, so konnte man gewiß kaum mit Axt und Schaufel in die erhärtete Masse eine Bresche legen, dann mußte man zu Sprengmitteln greifen. In gewissen Stadtteilen, in der Nachbarschaft des Klondike und des Yukon, gab es nicht wenige Häuser, die bis zum ersten Stockwerke förmlich blockiert und nur noch durch die Fenster zugänglich waren. Glücklicherweise wurden die in der Front Street nicht ebensoschwer heimgesucht und die beiden Vettern hätten ihr Hotel recht wohl verlassen können, wenn nur auf der Straße fortzukommen gewesen wäre. Hier hätte der Schnee aber schon nach einigen Schritten jedem Tollkühnen bis an den Hals gereicht.

Zu dieser Jahreszeit dauert der Tag nur wenige Stunden. Kaum daß die Sonne über die die Stadt einrahmenden Hügel emporsteigt. Da nun der Sturm die dichten kristallenen Flocken in solcher Menge vor sich hertrieb, daß auch das elektrische Licht sie nicht durchdringen konnte, herrschte je zwanzig unter vierundzwanzig Stunden in der Stadt vollständige Finsternis.

Da jeder Verkehr im Freien unterbrochen war, sahen sich Summy Skim und Ben Raddle auf ihr Zimmer beschränkt. Der Werkführer und Neluto, die mit Patrick in einer bescheidenen Herberge der niedern Stadtteile untergebracht waren, konnten sie nicht besuchen, wie die Leute es sonst zu tun pflegten, so daß also jede Verständigung mit diesen ebenso wie mit Edith und Jane Edgerton ausgeschlossen blieb. Summy Skim versuchte es zwar einmal, sich nach dem Krankenhause zu begeben, er wäre dabei aber bald unter dem Schnee begraben worden und die Leute des Hotels hatten Mühe genug, ihn heil und gesund daraus hervorzuziehen.

Selbstverständlich war jetzt am Klondike auch jeder öffentliche Dienst unterbrochen. Briefe kamen nicht mehr an und Zeitungen wurden nicht ausgetragen. Ohne die in den Hotels und den Privathäusern im Hinblick auf solche ernste Störungen angesammelten Vorräte wäre die Bevölkerung Dawson Citys geradezu vom Hungertode bedroht gewesen. Es bedarf da wohl kaum der Erwähnung, daß jetzt auch die Kasinos und die Spielsalons feierten. Kaum jemals hatte sich die Stadt in einer so beunruhigenden Lage befunden. Der Schnee machte die[275] Wohnung des Gouverneurs unzugänglich und auf kanadischem wie auf amerikanischem Gebiete war jede amtliche Tätigkeit gelähmt. Wie hätte man da die täglichen Opfer der herrschenden Seuchen nach ihrer letzten Ruhestätte befördern können? Jetzt brauchte nur noch die Pest auszubrechen, dann hatte Dawson gewiß nach kurzer Zeit keinen einzigen Bewohner mehr.

Der erste Tag des Jahres 1899 war geradezu entsetzlich. In der ihm vorhergehenden Nacht und während des ganzen Tages fiel der Schnee in so unglaublicher Menge, daß er viele Häuser vollständig bedeckte. Am rechten Ufer des Klondike waren gleich von ganzen Häuserreihen nur noch die Dächer sichtbar. Man hätte glauben können, daß die ganze Stadt bald unter der weißen, von dem »Blizzard« herabgeschütteten Decke begraben würde, wie Pompeji einst unter der Asche des Vesuvs verschwunden war. Wenn hier unmittelbar darauf eine Kälte von vierzig bis fünfzig Grad eintrat, mußte die gesamte Bevölkerung unter der erhärteten Schneemasse zugrunde gehen.

Am 2. Januar trat im Zustande der Atmosphäre plötzlich eine starke Veränderung ein: Infolge Umschlagens des Windes stieg der Thermometer schnell über Null Grad und damit erschien es ausgeschlossen, daß die gewaltige Schneemenge erhärten könnte. Sie zerschmolz vielmehr binnen wenigen Stunden. Man mußte das, wie man zu sagen pflegt, selbst sehen, um es zu glauben. Das verursachte eine richtige Überschwemmung, die natürlich mancherlei Schaden anrichtete. Die Straßen verwandelten sich zu Bergströmen und die mit Trümmern jeder Art überladenen Fluten wälzten sich den Betten des Yukon und des Klondike zu und rauschten unter lautem Krachen über deren Eisdecke hin.

Die Überschwemmung verbreitete sich über den ganzen Bezirk. Unter andern stieg der Forty Miles Creek ganz gewaltig und bedeckte die stromabwärts gelegenen Claims. Eine neue Katastrophe und fast der vom Monat August zu vergleichen. Wenn Ben Raddle noch einige Hoffnung bewahrt hatte, wieder in Besitz von Hundertneunundzwanzig zu kommen, so mußte er diese jetzt endgültig aufgeben.

Sobald die Straßen einigermaßen gangbar geworden waren, beeilten sich alle, die vorher unterbrochenen Verbindungen wieder herzustellen. Lorique und Neluto erschienen bald im Northern Hotel. Ben Raddle und Summy Skim begaben sich so schnell wie möglich nach dem Krankenhause, wo sie von den beiden jungen Mädchen mit einer Freude begrüßt wurden, die infolge der Einschließung, welche man eben erduldet, an Lebhaftigkeit sichtlich gewonnen hatte.[276]

Der Doktor Pilcox hatte von seiner gewohnten guten Laune nichts eingebüßt.

»Nun, fragte ihn Summy Skim, sind Sie auf Ihr Adoptivvaterland denn noch immer so stolz wie früher?

– Aber ich bitte Sie, Herr Skim, warum denn nicht? antwortete der Doktor. Klondike ist doch ein wunderbares Land, ein Land ohnegleichen! Ich glaube nicht, daß einer seit Menschengedenken einen so übermächtigen Schneefall gesehen hat. Das ist etwas für Ihre Reiseerinnerungen, Herr Skim.

– Ja, darauf können Sie sich verlassen, Doktor.

– Na, und wenn nun dem Wiedereintritt ganz strenger Kälte nicht einige Tage Tauwetter vorausgegangen wären, dann hätten wir uns alle zu Mumien verwandelt. Sapperment, das wäre ein Futter für die Journalisten der Alten und der Neuen Welt gewesen! Wahrlich, ein Ereignis, das kaum jemals wiederkehren dürfte, und es ist jammerschade, daß dem der laue Südwind in die Quere kam.

– Nun ja, wie Sie das eben auffassen, lieber Doktor.

– Man muß das wohl so auffassen, das ist philosophisch gedacht, mein Herr Skim.

– Philosophie bei fünfzig Grad unter Null... nein, von dem Artikel habe ich nichts auf Lager,« protestierte Summy Skim.

Die Stadt hatte bald ihr früheres Aussehen, ihre hergebrachten Gewohnheiten wieder angenommen. Die Kasinos hatten gleich wieder geöffnet. Auf den Straßen wimmelte es von Menschen, soweit sie nicht von Leichenwagen eingenommen waren, die die zahllosen Opfer der furchtbaren Kälte nach dem Friedhofe beförderten.

Im Januar ist in Klondike freilich noch lange nicht auf das Ende des Winters zu rechnen. In der zweiten Hälfte dieses Monats trat denn auch nochmals eine außerordentliche Erniedrigung der Temperatur ein, doch war dabei wenigstens mit einiger Vorsicht der Straßenverkehr aufrechtzuerhalten und der Monat endete im ganzen günstiger, als er angefangen hatte, insofern als die Blizzards seltner wurden und nicht mehr mit so unerträglicher Heftigkeit auftraten. Wenn die Luft ruhig ist, ist ja die Kälte meist leicht auszuhalten. Gefährlich ist es nur, sich der freien Luft auszusetzen, wenn der von Norden her wehende Wind, der über die Gegenden des Nordpols hingestrichen ist, scharf daherbraust und wie ein Messer schneidend das Gesicht der Menschen trifft, deren[277] Hauch gleich zu Schnee erstarrt. Summy Skim konnte jetzt fast ohne Unterbrechung in Gesellschaft Nelutos, zuweilen auch in der Jane Edgertons, zur Jagd gehen. Niemand hätte es vermocht, ihn trotz der immerhin eisigen Temperatur von einem Pürschgang aufs Land abzuhalten. Ihm wurde die Zeit ja gar zu lang, da er weder die Aufregungen des Hasardspiels noch die Unterhaltungen der Kasinos liebte. Als man ihm eines Tages gar zu arg zusetzte. erklärte er in vollem Ernste:

»Nun gut, ich werde nicht mehr jagen gehen, das verspreche ich euch, wenn...

– Also wenn? drängte Doktor Pilcox auf Vollendung der Antwort.

– Wenn's einmal so kalt ist, daß das Schießpulver nicht mehr Feuer fängt.«

Wenn Jane Edgerton Summy nicht begleitete, traf sie gewöhnlich im Krankenhause oder im Northern Hotel mit Ben Raddle zusammen. Überhaupt verging wohl kaum ein Tag, ohne daß die beiden einander nicht wenigstens einmal aufgesucht hätten. Bei ihren Unterhaltungen war Edith stets zugegen, obgleich eigentlich nicht einzusehen war, was ihre Anwesenheit nützte. Dem Ingenieur erschien diese jedoch von einiger Bedeutung, da er die strenge Zurückhaltung, die er sich sonst zur Pflicht gemacht hätte, in Ediths Beisein etwas aufgeben zu dürfen glaubte, und dann erteilte er offner seine Ratschläge bezüglich der geringsten Einzelheiten der geplanten Expidition. Er schien diesen auch einen sehr hohen Wert beizumessen. Vielleicht kam das daher, weil das junge Mädchen selbst keinen solchen zu geben wagte, sondern ihm hierin blindlings ebenso zustimmte, wie sie den ganzen Plan von Anfang an gebilligt hatte; alles, was der Ingenieur sagte, galt ihr für so unbestreitbar richtig, daß sie allemal für ihn gegenüber ihrer Cousine Partei nahm, nötigenfalls auch gegenüber Lorique, der Gesprächen dieser Art stets gern beiwohnte, obgleich ihm das Ziel, worauf diese hinausgingen, vorläufig unbekannt geblieben war. Alles, was Ben Raddle sagte, war gut und schön, alles, was er tat, war wohlgetan, und dieser wieder schätzte eine so schmeichelhafte und so natürlich ausgesprochene Anerkennung nicht zu gering.

Was Lorique betraf, so fragte diesen der Ingenieur des Langen und Breiten über Klondike aus und vorzüglich über die nördlichen Gebiete des Landes, die der Werkmeister schon häufig besucht hatte. Summy Skim aber, der, wenn er mit Neluto von der Jagd zurückkehrte, die übrigen immer beieinander fand, fragte sich mit einer gewissen Unruhe, worüber sie wohl so eifrig verhandeln mochten.[278]

»Was mögen die vier wohl wieder zusammenbrauen? wiederholte er für sich immer wieder. Sollte Ben von diesem abscheulichen Lande noch nicht genug haben, seiner nicht mehr als überdrüssig sein? Sollte er sein Glück vielleicht gar aufs neue versuchen wollen und sich von Lorique zu Abenteuern verführen lassen?... Ach was... ich bin ja auch noch da, und wenn's nicht anders geht, brauch' ich Gewalt! Wenn der Mai herankommt und ich befinde mich noch immer in dieser entsetzlichen Stadt, so kann das nur daran liegen, daß mir Doktor Pilcox beide Beine amputiert hat, und auch dann weiß ich noch nicht gewiß, ob ich mich nicht als Krüppel auf- und davonmachen würde!«

Summy Skim wußte eben noch immer nichts von den Mitteilungen des armen Jacques Ledun. Ben Raddle und Jane Edgerton hatten das einander zugesicherte Stillschweigen strengstens beobachtet und Lorique war in die Sache ebensowenig eingeweiht wie Summy Skim. Das hinderte den Werkführer jedoch nicht, Ben Raddle immer nach dem Munde zu reden und ihn zu weitern Unternehmungen anzuregen. Wenn er es einmal über sich gebracht hatte, nach Klondike zu kommen, könnte er sich doch nicht durch den ersten Mißerfolg entmutigt fühlen, zumal da dieser Mißerfolg durch ganz außergewöhnliche, um nicht zu sagen, ganz einzeln dastehende Ereignisse herbeigeführt worden war. Gewiß war die Zerstörung des Claims 129 höchst beklagenswert, doch warum sollte man sich deshalb nicht bemühen, einen andern Claim zu erwerben? Begab man sich weiter flußaufwärts, so fanden sich ohne Zweifel neue Lagerstätten, die die verloren gegangene mindestens ersetzten. In andrer Richtung lieferten die Bonanza und der Eldorado ja auch noch die reichlichsten Erträge. Nach der Seite der Domes zu erstreckte sich eine sehr weite, goldführende Gegend, die von Prospektoren noch sehr wenig abgebaut war. Die Placers dort gehörten dem, der sie zuerst in Besitz nahm. Der Werkführer würde es schon auf sich nehmen, Arbeitskräfte zu besorgen. Kurz, warum sollte gerade Ben Raddle der Erfolg versagt sein, wo das Glück so viele begünstigte? Ihm schien es vielmehr, als ob der Ingenieur mit seinen Kenntnissen bei diesem Glücksspiele gezeichnete Karten in der Hand hätte.

Es erscheint wohl nur natürlich, daß Ben Raddle solchen und ähnlichen Äußerungen ein williges Ohr lieh. Nahm er das Vorhandensein des Golden Mount anfänglich nur als eine Möglichkeit an, so verwandelte sich diese nach und nach zur Gewißheit... er träumte schon unablässig von diesem Golden Mount. Ein Claim... nein, weit mehr als ein Claim, ein ganzer Berg, dessen Innenwände Millionen von Pepiten enthielten... ein Vulkan, der seine Schätze[279] selbst ausliefern würde. O gewiß, dieses wunderbare Abenteuer mußte gewagt werden.

Wenn man mit Eintritt des Frühlings aufbrach, mußte der Berg in drei bis vier Wochen zu erreichen sein. Dann genügten jedenfalls wenige Tage, mehr Pepiten einzusammeln, als die Nebenflüsse des Yukon in zwei Jahren geliefert hatten, und noch vor dem Winter kehrte man zurück, beladen mit fabelhaften Schätzen, denen gegenüber die der Herrscher dieser Welt verschwinden mußten.

Ben Raddle und Jane widmeten öfters ganze Stunden dem Studium der von der Hand des Franzosen herrührenden Landkarte, die sie auf eine Übersichtskarte von Klondike übertragen hatten. Aus der ihnen bekannten geographischen Länge und Breite ersahen sie, daß die den Goldvulkan von Dawson City trennende Entfernung keine dreihundert Meilen, also etwa fünfhundert Kilometer, übertraf.

»Mit einem festen Wagen und einem guten Gespann, erklärte Lorique, den man wegen der Zurücklegung dieser Strecke befragt hatte, sind fünfhundert Kilometer recht wohl in zwanzig Tagen zu überwinden, und zwar von der zweiten Woche des Mai an.«

Inzwischen wiederholte Summy Skim immer für sich:

»Zum Kuckuck, was mögen die vier nur zu verhandeln haben?«

Obwohl er davon ja nichts wußte, vermutete er doch, daß die so häufigen Gespräche sich um eine neue Expedition drehen mochten, und er war fest entschlossen sich einer solchen mit allen Mitteln zu widersetzen.

»Nur immer zu, Kinderchen! murmelte er in den Bart hin. Setzt eure Rechnung auf, ich entwerfe die meinige und wer zuletzt lacht, lacht doch am besten.«

Der März kam heran und mit ihm eine neue Periode strengster Kälte. Zwei Tage lang zeigte der Thermometer sechzig Zentigrad unter Null. Summy Skim veranlaßte Ben Raddle, sich davon zu überzeugen, und sagte noch, wenn das so fortginge, werde die Gradeinteilung des Instruments bald nicht mehr ausreichen.

Der Ingenieur, der etwas von der verhaltnen Gereiztheit seines Vetters ahnte, zwang sich, auf dessen Vorstellungen einzugehen.

»Ja freilich, sagte er gutmütig, das ist ja eine außerordentliche Kälte, da es aber auch windstill ist, erträgt man sie besser, als ich gedacht hätte.[280]

– Ja, Ben, ja, erwiderte Summy, sich bezwingend, sie hat wohl auch eine sehr heilsame Wirkung, ich glaube wenigstens, sie wird Milliarden von Mikroben töten.

– Und ich, fuhr Ben Raddle fort, muß dir noch bemerken, daß sie nach der Ansicht der Einheimischen nicht von langer Dauer sein dürfte. Man hat, wie es scheint, sogar die Hoffnung, daß die winterliche Periode dieses Jahr nur kurz sein werde und daß die Arbeiten schon mit Anfang Mai wieder aufgenommen werden könnten.

– Die Arbeiten?... Ich sage, wenn du mir das harte Wort erlaubst, daß die mich den Teufel scheren, alter Freund Ben, entgegnete Summy mit lauter Stimme Ich rechne stark darauf, daß wir uns den vorzeitigen Frühling zunutze machen und von hier weggehen, sobald der Scout wieder eingetroffen ist.

– Jawohl... indessen... siehst du, antwortete der Ingenieur, der jetzt die Zeit gekommen glaubte, seinen Vetter ins Vertrauen zu ziehen, es könnte sich doch wohl empfehlen, den Claim 129 vor der Abreise noch einmal aufzusuchen.

– Unser Hundertneunundzwanzig gleicht jetzt völlig einem auf den Meeresgrund gesunknen alten Schiffsrumpfe. Besuchen kann man ihn nur als Taucher und da wir kein Taucherkostüm besitzen...

– Da liegen aber doch verlorne Millionen!

– Meinetwegen Milliarden, Ben, das bestreite ich ja nicht, jedenfalls sind sie aber verloren, endgiltig verloren. Ich sehe die Notwendigkeit nicht ein, nach dem Forty Miles Creek zurückzukehren, denn das würde in dir nur gefährliche Erinnerungen wachrufen.

– O, ich bin kuriert, Summy, gründlich kuriert.

– Doch vielleicht nicht so ganz, wie du's glaubst. Mir scheint wenigstens, daß das Fieber... das berüchtigte Fieber... du verstehst mich schon... das Goldfieber...«

Ben Raddle sah seinem Vetter gerade ins Gesicht und wie einer, der einen unabänderlichen Entschluß gefaßt hat, entschied er sich jetzt dafür, Summy seine Pläne anzuvertrauen.

»Ich habe mit dir noch etwas zu besprechen, Summy, sagte er, doch komme nicht gleich bei den ersten Worten aus dem Häuschen.

– Und doch... erst recht, rief Summy Skim. Ich erkläre dir im voraus, daß ich für nichts und gar nichts zu haben bin, wenn du auch nur indirekt auf eine Verzögerung unsrer Rückfahrt eine Anspielung machst.[281]

– Nur ruhig Blut! Erst höre mich an, ich habe dir ein Geheimnis zu enthüllen.

– Ein Geheimnis? Wen betrifft es denn?

– Jenen Franzosen, den du halbtot aufgehoben und nach Dawson City geschafft hast.

– Jacques Ledun hätte dir ein Geheimnis anvertraut?

– Jawohl.

– Und davon hast du mir noch kein Wort gesagt?

– Nein, weil das in mir den Gedanken zu einem Plane wachrief, der reiflich erwogen sein wollte.«

Summy Skim schnellte in die Höhe.

»Zu einem Plane? rief er. Zu welchem Plane?

– Ruhig, Summy, erwiderte Ben Raddle. Erst reden wir von dem Geheimnis, der Plan kommt später an die Reihe. Immer Ordnung halten in allen Dingen, und zu allererst: beruhige dich gefälligst.«

Ben Raddle unterrichtete nun seinen Vetter von dem Vorhandensein des Golden Mount, dessen Lage an der Mündung des Mackensie und an der Küste des Eismeers Jacques Ledun genau festgestellt und angegeben hatte. Summy Skim mußte dazu erst die Originalzeichnung besichtigen und dann die Landkarte, worauf der Ingenieur den Berg eingetragen hatte. Die diesen von Dawson City trennende Entfernung war neben einer nordnordöstlich, etwa auf dem hundertsechsunddreißigsten Meridian hinführenden Linie ebenfalls eingeschrieben. Endlich wurde Summy mitgeteilt, daß dieser Berg ein Vulkan sei, ein Vulkan, dessen Krater ungeheure Mengen goldhaltigen Quarzes enthielt und in dessen Innern Milliarden von Pepiten abgelagert wären.

»Und du glaubst auch an diesen Vulkan aus Tausend und einer Nacht? fragte Summy Skim spöttischen Tons.

– Ja gewiß, versichert Ben Raddle, der entschlossen schien, über diesen Punkt jede Diskussion zu verhindern.

– Na... meinetwegen, sagte sein Vetter. Doch was dann?

– Wie?... Was dann? erwiderte Ben Raddle lebhafter werdend. Ich bitte dich, uns wäre ein solches Geheimnis offenbart worden und wir sollten daraus keinen Nutzen ziehen, sollten es andern überlassen, diese Schätze zu heben!«

Summy Skim nahm sich nach Kräften zusammen, um sein kaltes Blut zu bewahren, und so begnügte er sich zu antworten:[282]

»Nun ja, Jacques Ledun hat daraus Nutzen ziehen wollen, auch der, und du weißt ja, wie es ihm dabei ergangen ist. Die Milliarden Pepiten des Golden Mount haben ihn auch nicht beschützt, im Bette eines Krankenhauses zu sterben.

– Weil er von Verbrechern überfallen worden ist...

– Was uns nicht widerfahren kann, natürlich nicht... Um diesen Berg auszubeuten, müßten wir, wie ich annehme, noch hundert Lieues weiter nach Norden hinaufziehen.

– Jawohl, hundert Lieues... vielleicht auch noch etwas mehr.

– Unsre Abreise nach Montreal ist aber doch auf die ersten Tage des Mai festgesetzt.

– Da wird sie sich also um einige Monate verschieben; das ist alles.

– Das ist alles! wiederholte Summy ironisch. Dann wird es aber für den Aufbruch überhaupt zu spät sein.

– Ja, wenn's dann zu spät ist, überwintern wir einfach noch einmal in Dawson City.

– Nimmermehr!« rief Summy Skim so entschlossenen Tones, daß Ben Raddle dieses gar zu interessante Gespräch besser glaubte abbrechen zu sollen.

Natürlich rechnete er darauf, es wieder aufzunehmen, und das tat er auch trotz des Übelwollens seines Vetters. Er unterstützte sein Projekt mit den besten Gründen. Die Reise wird nach Eintritt des Tauwetters ohne Schwierigkeiten auszuführen sein. In zwei Monaten könnte man den Golden Mount erreicht, dort einige Millionen eingeheimst haben und auch nach Dawson zurückgekehrt sein. Dann wäre es noch Zeit, sich nach Montreal aufzumachen, und die ganze Fahrt nach Klondike würde dann wenigstens nicht vergeblich gewesen sein.

Ben Raddle hielt noch mit einem wichtigen letzten Argument zurück. Wenn Jacques Ledun ihm jene Mitteilungen gemacht hatte, so hatte er dazu auch noch einen besondern Beweggrund gehabt. Er liebte seine ihn überlebende Mutter, eine arme, unglückliche Frau, für die er sich bemüht hatte, ein Vermögen zu erwerben, und deren alte Tage sich sorgenfrei gestaltet hätten, wenn die Absichten ihres Sohnes in Erfüllung gegangen wären. Konnte Summy Skim wollen, daß sein Vetter das einem Sterbenden gegebne Versprechen nicht einlöste?

Summy Skim hatte Ben Raddle reden lassen, ohne ihn zu unterbrechen. Er fragte sich nur, wer hier eigentlich der Tor sei, ob Ben, der so ungeheuerliche Dinge sagte, oder er selbst, der sie widerspruchslos anhörte. Als das Plaidoyer aber zu Ende war, ließ er seiner Entrüstung die Zügel schießen.[283]

»Ich habe dir nur eines zu erwidern, sagte er mit vor Ingrimm zitternder Stimme, das eine, daß ich so weit gekommen bin, es zu beklagen, dem unglücklichen Franzosen Hilfe gebracht und es dadurch verhindert zu haben, daß sein unseliges Geheimnis mit ihm begraben wurde. Bist du ihm gegenüber eine sinnlose Verpflichtung eingegangen, so gibt es wohl noch andre Mittel, dieser gerecht zu werden. Man kann ja seiner Mutter eine Pension aussetzen und ich selbst erbiete mich, dafür aufzukommen, wenn dir das recht ist. Aber die Spielerei noch einmal anzufangen, die uns so vortrefflich geglückt ist... nein und abermals nein! Ich habe dein Wort, nach Montreal heimzukehren, und das geb' ich dir niemals zurück. Nun kennst du mein letztes Wort.«

Vergeblich ging Ben Raddle noch einmal zum Angriff über: Summy blieb unbeweglich. Er schien dem Widerstreben seines Vetters sogar eine illoyale Absicht unterschieben zu wollen und Ben wurde allmählich wirklich unruhig wegen der Wendung, die ihr bisher brüderliches Verhältnis zu nehmen drohte.

Im Grunde kämpfte Summy eigentlich gegen sich selbst. Er erwog stets den Gedanken, was denn werden sollte, wenn es ihm mißlänge, Ben zu seiner Ansicht zu bekehren. Wenn dieser nun darauf bestand, das Abenteuer bis zum Ende zu bestehen, sollte er dann zugeben, daß dieser sich allein in das gefährliche Abenteuer einließe? Summy gab sich keiner Täuschung hin. Er wußte, daß das ihm nur unausgesetzte Unruhe und Angst bereiten würde und daß er im letzten Augenblicke doch noch nachgeben müßte, um sich diese Qual zu ersparen. Dieser Gedanke erregte seinen Zorn; er verbarg aber seine Schwäche unter der möglichst rauhen Außenseite, die sein wohlwollender Charakter herauszukehren vermochte.

Ben Raddle wieder, der sich doch nur an diese äußere Erscheinung halten konnte, verzweifelte tagtäglich mehr und mehr, seinen Vetter zur Zustimmung zu seinen Ideen zu bewegen. Obgleich er nicht so sentimental veranlagt war wie dieser, betrübte ihn der Riß, den ihre Freundschaft zu bekommen drohte, recht tief. Da die Zeit ohne eine Änderung der Sachlage verstrich, entschloß er sich, als er eines Tags im Krankenhause war, Jane Edgerton von dem unbesiegbaren Widerstande Summy Skims Mitteilung zu machen. Das junge Mädchen erstaunte darüber nicht wenig. Daß Summy eine andre Meinung über das Projekt, wofür sie schwärmte, haben könnte, daran hatte sie noch nie gedacht. Der mutigen Prospektorin – die übrigens in Verlegenheit gekommen wäre, für ihren Optimismus durchschlagende Gründe anzuführen – war es ganz natürlich erschienen,[284] daß dessen Anschauungen mit den ihrigen übereinstimmen müßten. Wie dem aber auch sein mochte, ihr Erstaunen verwandelte sich bald zum Unmut, als ob der unglückliche Summy sich einer persönlichen Beleidigung ihr gegenüber schuldig gemacht hätte. Ihrer gewöhnlichen schnellen Entschlossenheit entsprechend, suchte sie ihn sofort im Hotel auf, um ihm sein unqualifizierbares Verhalten unverblümt vorzuwerfen.

»Es scheint, Sie widersetzen sich unserm Zuge nach dem Golden Mount, sagte sie ohne weitere Vorrede und in einem Tone, der ihre Bitterkeit erkennen ließ.

– Unserm? antwortete Summy, wie verletzt durch den unerwarteten Überfall.

– Ja, ich frage mich, fuhr Jane fort, welche Gründe Sie haben können, die Reise, die wir, Ihr Herr Vetter und ich, geplant haben, überhaupt verhindern zu wollen.«

Summys Gesicht spielte eine Sekunde lang in allen Regenbogenfarben.

»Ah, stammelte er, Sie beteiligen sich also auch daran, Fräulein Jane?

– Ach, spielen Sie doch nicht den Unwissenden, erwiderte diese streng. Sie würden weit besser tun, sich als williger Teilnehmer zu erweisen und mitzukommen, um Ihren Anteil an der Ausbeute zu erhalten. Der Golden Mount wird uns alle drei leicht genug zu reichen Leuten machen können«

Summy wurde rot wie ein Puterhahn. Mit einem Atemzuge saugte er so viel Luft ein, daß er sich fragen konnte, ob für alle übrigen noch genug vorhanden wäre.

»Mein Gott, sagte er mit kühner Stirn, ich wünsche ja selbst gar nichts andres!«

Jetzt war Jane an der Reihe, erstaunt zu sein.

»Bah! stieß sie hervor. Was hat mir denn da Herr Ben Raddle erzählt?

– O, Ben weiß manchmal nicht, was er spricht, versicherte Summy mit der Frechheit eines hartgesottenen Lügners. Ich habe ihm gegenüber zwar einige, nur Einzelheiten berührende Einwände erhoben, die bezogen sich aber ausschließlich auf die Organisation des Zugs nach Norden. Von diesem selbst ist dabei nie die Rede gewesen.

– Nun, das laß ich mir gefallen, sagte Jane.

– Ich bitte Sie auch, Fräulein Jane: wie hätte ich wohl auf eine solche Reise verzichten können!... Offengestanden ist es nicht etwa das Gold, das mich anlockt, sondern...«[285]

Summy unterbrach sich; er war zu verlegen, zu gestehen, was ihn lockte, und etwas Unverfängliches wußte er nicht gleich vorzubringen.

»Nun... sondern? fragte Jane.

– Sapperment, die Jagd... die Reise an sich... die Entdeckungslust... das Abenteuerliche dabei...«

Summy Skim verirrte sich aufs lyrische Gebiet.

»Nun ja, jeder nach seinem Geschmack,« schloß Jane die Unterredung, während sie schon aufbrach, Ben Raddle von dem Erfolge zu berichten.

Dieser erreichte das Hotel fast mit einem einzigen Luftsprunge.

»Ist's denn wahr, Summy? fragte er, auf seinen Vetter hinzueilend. Du hast dich entschlossen, uns zu begleiten?

– Habe ich denn jemals das Gegenteil gesagt?« erwiderte Summy mit einer so wunderbaren Frechheit, daß Ben Raddle darüber ganz aus dem Häuschen kam und sich fragte, ob er die langen Zwiegespräche der vorhergegangenen Tage etwa nur geträumt hätte.

Quelle:
Jules Verne: Der Goldvulkan. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXXXIX–XC, Wien, Pest, Leipzig 1907, S. 268-286.
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