Zehntes Kapitel.
Gefangen.

[131] Der Verdacht, der in Karl Dragoch aufgestiegen war und den die Entdeckung des Bildes bestätigt hatte, war nun, das müssen wir dem Leser zum Verständnis dieser Erzählung mitteilen, keineswegs ganz ungerechtfertigt. Bezüglich eines Punktes wenigstens trafen Karl Dragochs Schlußfolgerungen zu. Ja, Ilia Brusch und Serge Ladko waren ein und derselbe Mann.

Dragoch täuschte sich dagegen gründlich, wenn er seinem Reisegefährten jene Reihe von Diebstählen und Mordtaten zuschrieb, die nun seit so vielen Monaten die Gebiete längs der Donau heimsuchten. Vor allem glaubte er das bezüglich des letzten Einbruchs in Graf Hagenaus Villa und der schweren Verwundung Christian Hoëls. Ladko anderseits ahnte nicht im geringsten, daß sein Passagier solche gefährliche Gedanken hatte. Er wußte nur, daß sein Name zur Bezeichnung eines berüchtigten Verbrechers diente, und konnte unmöglich begreifen, wie es zu einer solchen Verwechslung gekommen war.

Zuerst geradezu entsetzt, als er von einem so furchtbaren Namensvetter hörte, der, um das Unglück vollzumachen, obendrein sein Landsmann war, hatte er sich nach dem ersten instinktiven Schreck doch wieder zu fassen verstanden. Was ging ihn auch ein Übeltäter an, mit dem er nichts als den Namen gemein hatte? Ein Unschuldiger hat ja nichts zu fürchten, und unschuldig an allen den vorgekommenen Verbrechen war er sicherlich.

Serge Ladko – wir wollen ihn fortan bei seinem richtigen Namen nennen – war am vorigen Abend ganz sorglos weggegangen, um sich, wie er gesagt hatte, nach Szalka zu begeben. In dieser kleinen Stadt war es, wo er nach seinem Weggange von Rustschuk unter dem Namen Ilia Brusch seine Wohnstätte aufgeschlagen hatte, und hier hatte er drei volle lange Wochen auf Nachricht von seiner geliebten Natscha gewartet.

Dieses Warten war ihm, wie wir schon wissen, schließlich unerträglich geworden, und er zermarterte sich den Kopf, Mittel zu finden, um unerkannt[131] nach Bulgarien zurückkehren zu können, als ihm der Zufall eine Nummer des »Pester Lloyd« in die Hand spielte, worin in nicht zu übersehender Weise der Angelwettkampf von Sigmaringen angekündigt war. Bei Durchlesung des betreffenden Artikels kam dem Verbannten, einem, wie man sich wohl erinnert, ebenso gewandten Fischer wie gesuchten Piloten, der Gedanke an eine Fahrt, deren Bizarrerie vielleicht allein schon den gewünschten Erfolg verbürgte.

Unter dem Namen Ilia Brusch, dem einzigen, dessen er sich in Szalka bedient hatte, wollte er in den Donaubund eintreten, am Wettbewerb in Sigmaringen teilnehmen, und wir wissen ja, daß er da, dank seiner Erfahrung und Geschicklichkeit, die beiden ersten Preise davongetragen hatte. Da nun sein angenommener Name schon hierdurch weit bekannt geworden war, wollte er dann recht auffallend und, wenn es gelang, unter Eingehung von Wetten seine Absicht ankündigen, mit der Angel in der Hand die ganze Donau von ihrem Ursprunge an bis zur Ausmündung ins Schwarze Meer hinunterzufahren. Ohne Zweifel mußte dieser Plan in den Kreisen der Angelfischer besondres Aufsehen erregen und seinem Urheber auch einen gewissen Ruf unter dem übrigen Publikum erwerben.

Als Vertreter eines bürgerlichen Berufs, den niemand anzweifeln konnte, hoffte Ladko unbelästigt die Donau hinunterzufahren. Die Bewegung seines Bootes gedachte er jedoch möglichst zu beschleunigen und mit dem Fischfange keine unnötige Zeit zu vergeuden. Immerhin würde er dabei von sich reden zu machen suchen, um nicht in Vergessenheit zu geraten, und dadurch geschützt, daß alle Welt ihn kannte, frei und offen in Rustschuk landen zu können.

Um diesen einzigen Zweck seiner Fahrt aber glücklich zu erreichen, war es notwendig, daß niemand sei nen wahren Namen ahnte und daß kein Mensch am Äußern des Fischers Ilia Brusch den Piloten Serge Ladko erkennen konnte.

Die erste Bedingung war ja leicht zu erfüllen. Nachdem er zum Preisträger des Donaubundes geworden war, brauchte er diese Rolle nur gleichmäßig weiter zu spielen. Serge Ladko schwur sich also zu, mochte auf der Fahrt sonst etwas vorfallen, gegen jedermann Ilia Brusch zu sein. Übrigens war anzunehmen, daß die Fahrt nur verhältnismäßig langsam, aber in Sicherheit verlaufen und kein Zwischenfall es ihm erschweren[132] würde, seinen Schwur zu halten. Der zweiten Bedingung zu genügen, erschien eher noch leichter. Sich den Bart abrasieren zu lassen, ein Färbemittel anzuwenden, das das Aussehen seiner Haare veränderte, und eine große Brille mit dunkeln Gläsern, seine Augen zu verbergen, mehr bedurfte es dazu ja nicht. Serge Ladko nahm diese Verkleidung in der seiner Abfahrt vorhergehenden Nacht vor und machte sich dann noch vor der Morgenröte auf, jetzt versichert, für jeden unerwarteten Blick unerkennbar zu sein.

In Sigmaringen war alles seiner Annahme entsprechend verlaufen. Die Ankündigung seines Planes, des eines Preisträgers aus dem Wettbewerb, war von der Presse aller Uferstaaten wohlwollend aufgenommen worden. Dadurch genügend bekannt geworden, daß seine Identität nicht angezweifelt werden könnte, anderseits versichert, bei Kollegen vom Donaubunde die überall an dem langen Laufe des Stromes wohnten, nötigenfalls Hilfe zu finden, hatte sich Ladko der Strömung ruhig anvertraut.

In Ulm erlebte er die erste Enttäuschung, als er sah, daß seine verhältnismäßige Berühmtheit ihn nicht vor dem Wetterstrahl der Polizei schützte. Da fühlte er sich denn höchst befriedigt, einen Passagier aufgenommen zu haben, dessen Legitimationspapiere gut in Ordnung waren und dessen Ehrbarkeit die Polizei von vornherein anzuerkennen schien. Freilich, wenn er dann nach Rustschuk kam, und die vorgebliche Wette (Fische zu einem gewissen hohen Werte zu erbeuten) von ihm nicht mehr beachtet wurde, konnte die Gegenwart eines Fremden unbequem werden. Dann würde er sich seinem Begleiter jedoch erklären, während die Wette bis dahin die Wahrscheinlichkeit des Erfolgs der Reise vermehren mußte, deren glückliche Durchführung Serge Ladko vor allem am Herzen lag.

Zu erfahren, daß er denselben Namen hatte, wie ein gefürchteter Bandit, und daß dieser Bandit ebenfalls ein Bulgare war, das bereitete Serge Ladko eine zweite unangenehme Überraschung. So unbestreitbar seine Unschuld und folglich seine Sicherheit auch war, konnte er doch nicht verkennen, daß eine solche Namensgleichheit zu recht ärgerlichen Verwechslungen, ja zu noch ernstern Komplikationen führen könnte.

Würde der Name, den er unter dem Ilia Bruschs verbarg, bekannt, so würde das nicht allein seine Ausschiffung in Rustschuk in Frage stellen, sondern es war auch zu befürchten, daß ihm daraus überhaupt lange Verzögerungen erwüchsen.[133]

Gegen diese Gefahren hatte Serge Ladko kein Schutzmittel. Doch wenn sie auch ernst waren, brauchte man sie doch nicht zu übertreiben. Es war ja wirklich kaum zu glauben, daß die Polizei ohne besondre Veranlassung ihre Aufmerksamkeit einem harmlosen Angler zuwenden würde, und vor allem einem solchen, der durch die beim Wettbewerb von Sigmaringen errungenen Lorbeern geschützt war.

In Szalka, wohin er nach Sonnenuntergang gekommen und von wo er vor Tagesanbruch, ohne gesehen worden zu sein, wieder weggegangen war, hatte Serge Ladko nur sein Haus aufgesucht, wobei er sich leider überzeugte, daß ihn da auch keine Nachricht von Natscha erwartete. Ein so langes Schweigen raubte ihm fast den Verstand. Warum schrieb die junge Frau seit zwei Monaten nicht mehr? Was war ihr zugestoßen?... Die Zeiten öffentlicher Unruhen sind reich an privaten Unglücksfällen, und der Pilot fragte sich geängstigt, ob er bei einer glücklichen Landung in Rustschuk dort nicht schon zu spät erscheinen würde.

Dieser Gedanke, der ihm das Herz brach, verdoppelte gleichzeitig die Kraft seiner Muskeln. Der war es gewesen, der es ihm bei der Abfahrt von Gran möglich gemacht hatte, dem Unwetter zu trotzen und siegreich gegen den entfesselten Sturm zu kämpfen; derselbe Gedanke war es auch, der seinen Schritt beflügelte, als er mit der für Jäger bestimmten Herzstärkung zum Ufer zurückkehrte.

Wie groß war aber sein Erstaunen, hier den Passagier nicht zu finden, den er in einem fast hilflosen Zustande verlassen hatte, und die kurze schriftliche Nachricht, die er fand, verminderte dieses Erstaunen auch nicht. Welch zwingenden Grund konnte Jäger gehabt haben, sich trotz seiner Schwäche zu entfernen? Wie konnte es kommen, daß ein Wiener Bürger so dringliche Geschäfte hier auf plattem Lande und fern von jeder bewohnten Ortschaft haben könnte? Das war ein Rätsel, das der Lotse trotz eifrigen Nachsinnens nicht so bald lösen sollte.

Was der Grund dafür aber auch sein mochte, die Abwesenheit Jägers hatte in jedem Falle die Unannehmlichkeit, eine Reise, die an sich schon zu lang war, noch weiter zu verlängern. Ohne diesen unerwarteten Zwischenfall läge die Jolle jetzt schon wieder in der Strömung, und vor dem Abend wären noch viele Kilometer zu denen hinzugekommen, die sie bereits zurückgelegt hatte.[134]

Die Versuchung war erst groß, Jägers Bitte nicht weiter zu beachten, gleich vom Lande abzustoßen und ohne eine Minute zu verlieren eine Fahrt fortzusetzen, deren Ziel Serge Ladko wie der Magnet das Eisen anzog.

Der Pilot entschloß sich jedoch zu warten; er hatte auf seinen Passagier Rücksicht zu nehmen, und es war am Ende besser, einen Tag zu verlieren, um keinen Vorwand zu spätern Streitigkeiten zu liefern.

Um das Ende des schon halb verflossenen Tages auszunutzen, fehlte es glücklicherweise nicht an Arbeit. Ja der Tag würde kaum ausreichen, in der Jolle alles wieder in Ordnung zu bringen und die kleinen durch den Sturm verursachten Schäden auszubessern.

Serge Ladko ging zuerst daran, die Kasten in Ordnung zu setzen, deren Inhalt er bei seinem vergeblichen Nachsuchen am Morgen durcheinandergeworfen hatte. Das hätte ihm nicht viel Zeit gekostet, wenn beim Ordnen des letzten sein Blick nicht auf dieselbe Brieftasche gefallen wäre, die schon Karl Dragochs Aufmerksamkeit erregt hatte. Er öffnete sie, wie der Polizist vor ihm, und wie dieser, nur mit ganz andern Empfindungen, nahm er daraus das Bild hervor, das Natscha ihm bei ihrer Trennung übergeben und mit einer zärtlichen Widmung begleitet hatte.

Lange Zeit betrachtete Serge Ladko das liebliche Gesicht auf dem Bilde. Natscha! Ja, das war sie, das waren ihre geliebten Züge, ihre sonnenhellen Augen, ihre wie zum Sprechen halbgeöffneten Lippen.

Mit einem Seufzer legte er das ihm so teure Bild in die Brieftasche zurück, und diese in den Kasten, den er sorgsam verschloß und dessen Schlüssel er in die Tasche steckte. Dann verließ er die Koje, um sich andern Arbeiten zu widmen.

Er hatte jedoch nicht mehr den richtigen Mut dazu. Bald ruhten seine Hände, und auf einer der Bänke mit dem Rücken dem Ufer zugewendet sitzend, blickte er auf den Strom hinaus. Seine Gedanken flogen nach Rustschuk. Er sah seine Gattin, sein freundliches Häuschen, worin so oft ein Lied erklang. Sicherlich bedauerte er nichts. Wie schon einmal, würde er dem Vaterlande sein eignes Glück, wenn es notwendig wurde, auch nochmals opfern. Doch welcher Schmerz, ein so großes Opfer umsonst gebracht zu haben! Wie viele Jahre würde nun, nachdem der Aufstand vorzeitig ausgebrochen und blutig niedergeschlagen war, Bulgarien noch unter dem Joche seiner Unterdrücker seufzen? Würde er selbst dessen Grenze[135] überschreiten können, und die wieder finden, die er liebte? Hatten sich die Türken ihrer, der Frau eines ihrer entschiedensten Gegner, nicht als Geisel bemächtigt? Und wenn es sich so verhielt, was war dann mit Natscha geschehen?

Ach, dieses kleine, intime Drama verschwand ja ganz unter den Zuckungen, die die Balkanländer erschütterten. Was zählte das Unglück zweier Wesen inmitten des öffentlichen Elends? Durch die ganze Halbinsel streiften jetzt zügellose Horden; überall erzitterte die Erde unter dem wilden Galopp der Pferde, und auch die ärmlichsten Dörfer zeigten die Verwüstungen des Krieges.

Dem türkischen Koloß standen zwei Pygmäen, Serbien und Montenegro, gegenüber. Würde es diesen Davids gelingen, den Goliath zu besiegen?

Ladko sah ein, wie ungleich der Kampf war, und nachdenkend setzte er seine Hoffnung auf den Vater aller Slawen, auf den großen Zar von Rußland, der einst schon noch eine schützende Hand über seine unterdrückten Söhne breiten werde.

Von solchen Gedanken eingenommen, hatte Serge Ladko völlig vergessen, wo er sich befand. Hinter ihm hätte ein ganzes Regiment am Ufer hinziehen können, ohne daß er sich umgedreht hätte. Desto weniger bemerkte er das Herannahen dreier Männer, die von stromaufwärts herkamen und sich vorsichtig heranschlichen.

Wenn aber Ladko die drei Männer nicht sah, so sahen die ihn gar zu gut, sobald sie an einer Windung des Stromes die Jolle erblickten. Das Kleeblatt machte sofort Halt und begann mit heimlicher Stimme eine Beratung.

Einen der drei Ankömmlinge hat der Leser schon bei der Schilderung des Aufenthalts in Wien unter dem Namen Titscha kennen gelernt. Er war es, der sich mit einem Begleiter Karl Dragoch an die Fersen geheftet hatte, während der Detektiv selbst Ilia Brusch nachgegangen war, als dieser einen ganz unschuldigen Gang zu einem der Vermittler unternahm, die bei den Waffensendungen nach Bulgarien tätig gewesen waren. Dabei waren die beiden Spione, wie man sich erinnern wird, bis in die Nähe der Jolle gekommen, und sicher in der Meinung, die schwimmende Wohnstätte des Polizisten zu kennen, hatten sie sich dann entfernt, um überdie Ausnützung ihrer Entdeckung zu beratschlagen. Die damals entworfenen Pläne galt es jetzt auszuführen.

Die drei Männer hatten sich im hohen Grase des Ufers niedergestreckt und belauschten von hier Serge Ladko. In sein Nachsinnen verloren, wurde dieser ihre Gegenwart nicht gewahr und ahnte nicht im mindesten die Gefahr, die ihm jetzt drohte. Diese Gefahr war jedoch groß, denn die Männer im Hinterhalte, Zugehörige der Verbrecherbande, die gegenwärtig die Donaugegend heimsuchte, gehörten nicht zu Leuten, mit denen gut an einem einsamen Ort zusammenzutreffen ist.

Titscha war sogar ein hervorragendes Mitglied der Bande. Er konnte als erster nach dem Anführer betrachtet werden, dessen Taten genügend berüchtigt waren. Die beiden andern, Sakmann und Zerlanz, waren einfache Statisten, nur Arme, keine Köpfe.


Der Lotse, in seine Träumereien verloren... (S. 139.)
Der Lotse, in seine Träumereien verloren... (S. 139.)

»Das ist er! murmelte Titscha, indem er seine Begleiter mit der Hand zurückhielt, sobald er die Jolle am Ufer erblickt hatte.

– Dragoch? fragte Sakmann.

– Ja.

– Bist Du dessen sicher?

– Vollkommen.

– Du siehst ja aber sein Gesicht nicht, da er uns den Rücken zukehrt, wendete Zerlanz ein.

– Sein Gesicht zu sehen, würde mir auch wenig nützen; ich kenne ihn ja eigentlich nicht und hab' ihn nur ganz flüchtig in Wien gesehen.

– Dann begreife ich nur nicht...

– Ich erkenne aber ganz genau das Boot wieder, fiel ihm Titscha ins Wort, denn ich habe Muße genug gehabt, es zu sehen, während Ladko und ich von der Menschenmenge umdrängt waren. Nein, ich bin sicher, mich nicht zu täuschen.

– Dann also ans Werk! mahnte einer der Männer.

– Ans Werk«, stimmte Titscha ein, indem er schon ein Paket öffnete, das er bisher unter dem Arme trug.

Der Lotse merkte noch immer nichts davon, daß ihm ein Unheil bevorstand. Er hatte die drei Männer nicht herankommen hören und hörte von ihnen auch jetzt nichts, wo sie, nahe hinter ihm, den Laut ihrer Schritte durch das dichte Ufergras dämpften. In seine Träumereien verloren,[139] eilten seine Gedanken mit der Strömung zu Natscha und nach seinem Vaterlande.

Plötzlich schlang sich eine Menge unentwirrbarer Fesseln um ihn, die ihn auch des Augenlichtes beraubten und ihn lähmten und erstickten.

Mit einem Rucke aufgerichtet, wehrte er sich instinktiv dagegen und erschöpfte sich in nutzloser Anstrengung, als ein heftiger Schlag auf den Kopf ihn auf den Boden der Jolle betäubt niederstreckte, doch nicht so schnell, daß er nicht hätte sehen können, daß er in den Maschen eines großen, sogenannten Wurfnetzes gefangen war, wie er ein solches beim Fischfang oft genug selbst benutzt hatte.

Als Serge Ladko aus seiner halben Bewußtlosigkeit wieder zu sich kam, war er nicht mehr von dem Netze umschlungen, mit dem man ihn zur Ohnmacht verurteilt hatte. Jetzt konnte er vor den vielfachen Touren eines festen Strickes nicht mehr die geringste Bewegung machen, ein Knebel hätte nötigenfalls jeden Hilferuf von ihm erstickt, und eine undurchdringliche Binde beraubte ihn des Sehvermögens.

Serge Ladkos erste Empfindung, als er wieder zum Leben erwachte, war die einer grenzenlosen Bestürzung. Was war mit ihm vorgegangen? Was bedeutete dieser unerklärliche Überfall und was hatte man mit ihm vor? Einigermaßen konnte er sich jedoch beruhigen. Wenn man ihn hätte morden wollen, würde das doch wohl schon geschehen sein. Da er noch in dieser Welt war, stellte man jedenfalls nicht seinem Leben nach, sondern die Angreifer, wer sie auch sein mochten, hatten wohl keine andre Absicht, als sich seiner Person zu bemächtigen.

Warum und zu welchem Zwecke aber das?

Diese Frage war schwer zu beantworten. Diebe?... Die hätten sich kaum die Mühe genommen, ihr Opfer mit einem solchen Luxus von Vorsichtsmaßregeln zu fesseln, wenn ein Dolchstoß ihnen schneller und sichrer geholfen hätte. Wie heruntergekommen mußten auch Diebe sein, die der dürftige Inhalt der Jolle zu einem solchen Überfalle verleiten konnte!

Handelte es sich um einen Akt der Rache? Das schien noch unmöglicher zu sein. Ilia Brusch hatte keine Feinde. Die einzigen Feinde Ladkos, die Türken, konnten gar nicht ahnen, daß sich der bulgarische Patriot unter dem Namen eines Fischers verbarg, und selbst wenn sie davon unterrichtet gewesen wären, war er doch keine so außerordentlich wichtige[140] Persönlichkeit, daß sie so weit von der Grenze, fast im Herzen des österreichischen Kaiserstaats, einen solchen Gewaltakt gewagt hätten. Übrigens würden ihn auch die Türken, noch sichrer als einfache Diebe, jedenfalls auf der Stelle umgebracht haben.

In der Überzeugung, daß dieses Geheimnis, wenigstens augenblicklich, doch nicht zu durchschauen wäre, hörte Serge Ladko als praktischer Mann auf, darüber nachzudenken, und verwendete seine ganze Intelligenz nur darauf, zu beobachten, was nun folgen würde, sowie – wenn es solche gab – die Mittel zu suchen, seine Freiheit wieder zu erlangen.

In der jetzigen Lage konnte er freilich nicht viele Beobachtungen anstellen. Starr und steif durch den Druck des seinen Körper in vielen Spiralen umgebenden Strickes, war ihm selbst die geringste Bewegung unmöglich, und die Binde saß so fest über seinen Augen, daß er nicht hätte sagen können, ob es Tag oder Nacht wäre. Das erste, dessen er sich bewußt wurde, als er seine ganze Aufmerksamkeit im Gehörsinn konzentrierte, war, daß er in einem Boote lag, wahrscheinlich in seinem eignen, und daß dieses unter dem Antrieb kräftiger Arme schnell dahinglitt. Er hörte nämlich deutlich das Knarren der Riemen an den Bordwandpflöcken und das Rauschen des an den Seiten des Fahrzeugs dahinfließenden Wassers.

In welcher Richtung sich das Boot bewegte, war eine zweite Frage, deren Lösung ihm ziemlich leicht gelang. Er fühlte nämlich deutlich einen Temperaturunterschied zwischen der linken und rechten Seite seines Körpers. Die leichte Erschütterung des Fahrzeugs bei jedem Ruderschlage verriet ihm, daß er in der Richtung von dessen Bewegung lag, und da die Sonne, als er überfallen wurde, kaum über den Meridian hinaus war, schloß er daraus leicht, daß die eine Seite seines Körpers im Schatten der Wand des Fahrzeugs lag, und daß dieses sich von Westen nach Osten und mit der Strömung in derselben Richtung wie früher bewegte, als es noch seinem rechtmäßigen Eigentümer gehorchte.

Zwischen denen, die ihn jetzt in ihrer Macht hatten, wurde kein einziges Wort gewechselt. Kein menschlicher Laut schlug an sein Ohr, außer dem »He!« der Schiffer, wenn die sich in die Riemen legten. Die schweigsame Fahrt hatte etwa anderthalb Stunden gedauert, als die Sonnenwärme sein Gesicht traf und ihn erkennen ließ, daß man nun nach dem Süden[141] steuerte. Den Lotsen verwunderte das nicht. Seine gründliche Kenntnis des Verlaufs des Flußbettes sagte ihm, daß man nach dem Bogen kam, den dieses gegenüber dem Pilisberge beschreibt. Darauf mußte bald eine Wendung nach Osten und dann nach Norden bis zu dem äußersten Punkte folgen, von wo aus die Donau sich fast durchgängig der Balkanhalbinsel zuwendet.

Seine Annahme bestätigte sich nur teilweise. Gerade, als man nach Serge Ladkos Berechnung in der Mitte der Bucht am Pilis war, hörte das Geräusch von den Riemen plötzlich auf, und während die Jolle noch weiter glitt, wurde eine rauhe Stimme hörbar.

»Den Bootshaken her«, befahl einer der unsichtbaren Angreifer.

Fast gleichzeitig erfolgte ein Stoß, dem ein Scharren folgte, als ob die Bordwand einen harten Körper streifte, und dann fühlte sich Serge Ladko emporgehoben und wie von Hand zu Hand weitergegeben.

Offenbar hatte die Jolle an einem größern Fahrzeug angelegt, auf dem der Gefangene ganz wie ein Frachtstück untergebracht wurde. Dieser spitzte vergeblich das Ohr, um dabei einige Worte aufzuhaschen; es wurde aber keine Silbe gesprochen. Die Kerkermeister verrieten sich nur durch die Berührung mit ihren groben Händen und durch den keuchenden Atem ihrer Lungen.

Hin- und hergeworfen und nach allen Richtungen gezerrt, kam Serge Ladko gar nicht dazu, einen Gedanken zu fassen. Erst emporgehißt, ließ man ihn dann an einer Art langen Leiter hinuntergleiten, die ihm am Rücken arge Schmerzen verursachte. Aus den Stößen, die er dabei empfand, entnahm er, daß er durch eine enge Öffnung hinuntergelassen wurde, und nach roher Beseitigung einiger seiner Fesseln und der Augenbinde warf man ihn endlich wie ein Paket noch ein Stück hinunter, während gleich das dumpfe Geräusch einer sich schließenden Klappe über ihm hörbar wurde.

Es dauerte lange, ehe der von der Erschütterung halbbetäubte Serge Ladko wieder zum Bewußtsein seiner selbst kam. Danach aber erschien ihm seine Lage gebessert: er konnte ja wieder sprechen und die Augen gebrauchen. Wenn seine Feinde einen Knebel des Mundes jetzt für unnötig hielten, lag das daran, daß doch niemand einen Schrei von ihm hören könnte, und die Entfernung der Binde war ihm so auch nicht von besonderm Nutzen. Vergebens öffnete er die Augen; rings um ihn war es[142] dunkel, und wie dunkel! Nach dieser Wahrnehmung sagte sich der Gefangene, daß er in den Frachtraum eines Schiffes geschafft worden sei, und erschöpfte sich mit nutzlosen Bemühungen, einen schwachen Lichtstrahl an der Luke durchschimmern zu sehen. Doch nichts... nichts. Hier herrschte nicht die Dunkelheit eines Kellers, worin es dem Auge noch möglich ist, einen schwachen Lichtschein zu unterscheiden, hier herrschte eine völlige Finsternis, die nur mit der des Grabes zu vergleichen war.

Wie viele Stunden verflossen nun so? Serge Ladkos Schätzung nach mußte es Mitternacht sein, als ein durch die Entfernung gedämpfter Lärm sich erhob, der bis zu ihm herunterdrang. Da gingen und liefen Leute hin und her. Dann kam das Geräusch näher. Schwere Kolli wurden über ihm hingeschleppt, und er hätte darauf schwören mögen, daß ihn nur eine Bretterwand von den unbekannten Arbeitern trennte.

Das Geräusch näherte sich immer mehr. Neben ihm wurden, ohne Zweifel hinter einer der Scheidewände, die sein Gefängnis begrenzten, mehrere Stimmen laut, ohne daß er jedoch ein Wort verstehen konnte.

Bald wurde es wieder ruhiger, und von neuem herrschte Stillschweigen um den unglücklichen Lotsen, den das undurchdringliche Dunkel umgab.

Serge Ladko schlief endlich ein.

Quelle:
Jules Verne: Der Pilot von der Donau. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band XCIV, Wien, Pest, Leipzig 1909, S. 131-137,139-143.
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