Einundzwanzigstes Capitel.
Ein voller Sturm in einer Höhle.

[173] Olivier Sinclair war heil und gesund und für den Augenblick auch in Sicherheit. Die hier herrschende Dunkelheit verhinderte ihn zuerst, irgend etwas zu erkennen. Der matte Schein der Abenddämmerung drang nur in der Zeit zwischen zwei Wogen ein, wenn das Wasser den Eingang zur Grotte nur zur Hälfte anfüllte.

Olivier Sinclair suchte zu entdecken, wo Miß Campbell eine Zuflucht gefunden habe... vergeblich.

Er rief laut:

»Miß Campbell! Miß Campbell!«

Wie könnten wir beschreiben, was in ihm vorging, als er eine Stimme antworten hörte:

»Herr Olivier! Herr Olivier!«

Miß Campbell lebte noch.

Aber wohin hatte sie sich vor den andrängenden Wogen flüchten können?

Auf der Gallerie hinkriechend, durchsuchte Olivier Sinclair den inneren Theil der Fingalshöhle.

Da in der linken Wand hatte das Zurückweichen des Basaltes einen Schlupfwinkel gleich einer Nische gebildet. Die Felsenpfeiler traten hier mehr auseinander. Am Anfang noch ziemlich weit offen, verengerte sich die Vertiefung[173] so weit, daß nur eine Person darin Platz finden konnte. Die Sage gab diesem Loche den Namen »Fingal's Armstuhl«.

In diese Nische hatte sich die von dem steigenden Meere erschreckte Miß Campbell geflüchtet.

Einige Stunden vorher war der Zugang zur Grotte bei der Ebbe ganz unbehindert gewesen und sie hatte arglos hier ihren gewöhnlichen Besuch machen wollen. Versunken in ihre Träume, hatte sie an die Gefahr gar nicht gedacht, welche die Fluth mit sich bringen mußte, und wie groß war ihr Entsetzen, als sie wieder hinausgehen wollte und sich überzeugte, daß ihr das eindringende Wasser jeden Weg versperrte!

Miß Campbell verlor indeß nicht den Kopf; sie suchte sich Deckung, so gut es anging, und nach mehreren vergeblichen Bemühungen, noch nach Außen zu gelangen, erreichte sie wenigstens, freilich unter der Gefahr, zwanzigmal vom Wasser fortgerissen zu werden, den Armstuhl Fingal's.

Dort fand sie Olivier Sinclair eingeklemmt, aber doch außerhalb der Tragweite der Wogen.

»O, Miß Campbell, rief er, wie konnten Sie auch so unvorsichtig sein, sich bei Beginn des Sturmes in solche Gefahr zu begeben? Wir hielten sie schon für verloren.

– Und Sie sind doch gekommen, mich zu retten, Herr Olivier? antwortete Miß Campbell, mehr gerührt von dem Muthe des jungen Mannes, als erschreckt von den Gefahren, die ihr noch drohen konnten.

– Ich bin gekommen, Sie aus schlimmer Lage zu befreien, Miß Campbell, und mit Gottes Hilfe wird es mir gelingen. Sie haben doch keine Furcht?

– Ich habe keine Furcht, gewiß nicht!... Da Sie bei mir sind, fürchte ich nichts mehr... Und kann man übrigens eine andere Empfindung als die maßloser Bewunderung haben gegenüber einem so erhabenen Schauspiel?... Sehen Sie selbst.«

Miß Campbell hatte sich ganz bis in den Hintergrund der kleinen Aushöhlung zurückgedrängt. Dicht vor ihr stehend, suchte Olivier Sinclair sie bestmöglich zu schützen, wenn eine sich wüthend aufbäumende Welle sie zu erreichen drohte.

Beide schwiegen still. Mußte Olivier Sinclair denn sprechen, um sich verständlich zu machen? Und wozu hätte es der Worte bedurft, um alles das auszudrücken, was Miß Campbell empfand?[174]

Der junge Mann sah indeß mit unsäglicher Angst, nicht um seinet-, wohl aber um Miß Campbell's willen, die zunehmende Gefahr ihrer Lage. Wenn er das Heulen des Windes, das Tosen des Meeres hörte, verrieth ihm das nicht, daß der Sturm sich mit noch wachsender Wuth entfesselte? Sah er nicht, wie das Wasser unter der Mitwirkung der Fluth noch immer mehr anstieg und die Höhle noch weiter anfüllte? Wenn jetzt hier keine absolute Finsterniß herrschte, so kam das daher, daß die Wogenkämme gleichsam von außen eingesaugtes Licht mitbrachten. Breite phosphorescirende Flächen leuchteten dabei wie durch eine Art elektrischer Ausstrahlung, die sich an den Winkeln des Basaltes brach, die Kanten der Prismen erhellte und einen gewissen Dämmerschein zurückließ.

Bei dem kurzandauernden Aufleuchten dieser Lichtblitze wandte sich Olivier Sinclair gegen Miß Campbell um. Er schaute ihr mit einer Erregung in's Gesicht, welche nicht allein durch die Gefahr hervorgerufen wurde.

Miß Campbell lächelte freudig bei der Erhabenheit des Schauspiels – bei dem Sturm in dieser Höhle.

Da brandete eine unermeßliche Woge bis zur Vertiefung des Armstuhls Fingal's hinaus. Olivier Sinclair glaubte, daß er und sie davon aus ihrem Schlupfwinkel herausgerissen werden könnten.

Er umschlang das junge Mädchen mit beiden Armen gleich einer Beute, welche das Meer ihm entreißen wollte.

»Olivier! Olivier!... rief Miß Campbell voller Schrecken, den sie nicht bemeistern konnte.

– Fürchten Sie nichts, Helena, antwortete Olivier Sinclair. Ich werde Sie schützen, Helena... ich...«

Er sagte es, er wollte sie vertheidigen und schützen! Doch wie? Wie konnte er sie der Wuth der Wellen entziehen, wenn diese noch mehr zunahm, wenn das Wasser noch immer höher anstieg, wenn auch dieser letzte Zufluchtsort unhaltbar wurde? Wo würde er eine Stelle finden, die nicht von dem wüthend erregten Meere erreicht wurde? Alle diese Möglichkeiten drängten sich ihm in all' ihrer Schrecklichkeit vor Augen.

Vor allen Dingen kaltes Blut! Olivier Sinclair gelobte sich, wenigstens seiner selbst Herr zu bleiben.

Er mußte das um so mehr, da dem jungen Mädchen, wenn auch nicht die moralische, doch die physische Kraft bald genug ausgehen konnte. Erschöpft von zu langem Kampfe, mußte jeden Augenblick die nothwendige Reaction[175] in ihr eintreten. Olivier Sinclair fühlte, wie sie schon allmählich schwächer wurde. Er wollte sie beruhigen, obgleich ihm selbst jede Hoffnung mehr und mehr schwand.

»Helena... meine liebe Helena, flüsterte er, bei meiner Rückkehr nach Oban... hab' ich es gehört... daß Sie... daß ich Ihnen meine Rettung aus dem Strudel des Corryvrekan zu danken habe.

– Olivier... Sie wüßten es!... antwortete Miß Campbell mit fast erstickter Stimme.[176]

– Ja... und heute werde ich es Ihnen entgelten können... ich rette Sie aus der Fingalshöhle.«


 »Olivier! Olivier!« - rief Miß Campbell. (S. 175.)
»Olivier! Olivier!« - rief Miß Campbell. (S. 175.)

Wie konnte Olivier Sinclair von Heil und Rettung zu sprechen wagen, jetzt wo sich schon die Wassermasse am Fuße ihres Zufluchtsortes brach! Es gelang ihm nur sehr mangelhaft, das junge Mädchen vor ihrem Ungestüm zu bewahren. Zwei- oder dreimal wäre er fast mit weggezerrt worden... und wenn er noch Widerstand leistete, so geschah es mit wirklich übermenschlicher Anstrengung, weil er Miß Camp bell's Arme wie um seine Taille geknüpft fühlte[177] und begriff, daß das Meer sie mit ihm fortspülen werde. – Es mochte gegen neuneinhalb Uhr Abends sein. Der Sturm hatte zu dieser Zeit seine höchste Intensität erreicht. Das steigende Wasser stürzte sich mit der Wuth einer Sintflut in die Fingalshöhle. Sein Anprall an den Hintergrund und an die Seitenwände erzeugte ein betäubendes Krachen, und die Gewalt desselben war so groß, daß von den Wänden losgerissene Basaltstücke herabstürzten und dunkle Löcher in den phosphorescirenden Schaum schlugen.

Würden unter diesem Angriffe nicht gar die Basaltpfeiler Stein für Stein in den Abgrund versinken?

Olivier Sinclair konnte Alles befürchten. Auch er fühlte sich schon von einer unüberwindlichen Empfindungslosigkeit befallen, gegen welche er vergeblich ankämpfte. Das kam wohl mit davon her, daß es hier manchmal an Luft fehlte, und wenn diese mit den Wogen in vollen Strömen eindrang, so schien das Wasser sie doch gleich wieder aufzusaugen, wenn der Rückstrom sie mit nach außen führte.

Völlig erschöpft und kraftlos, war Miß Campbell einer Ohnmacht nahe.

»Olivier!... Olivier!«... murmelte sie und sank in seinen Armen zusammen.

Olivier Sinclair hatte sich mit dem jungen Mädchen so tief als möglich in den Hintergrund der kleinen Steinhöhle gedrängt. Er fühlte, daß sie kalt, scheinbar leblos war. Er wollte sie erwärmen, wollte ihr alle Lebenskraft einflößen, die ihm noch übrig geblieben war. Schon rollten ihm aber die Wellen bis zur halben Körperhöhe empor, und wenn er jetzt das Bewußtsein verlor, war es um Beide geschehen.


Er begann dem schmalen Steige zu folgen. (S. 179.)
Er begann dem schmalen Steige zu folgen. (S. 179.)

Der unerschrockene junge Mann hatte jedoch die Kraft, mehrere Stunden lang so auszuhalten. Er hielt Miß Campbell, deckte sie gegen den wilden Wogenschlag, kämpfte, indem er sich nur mit den Ellenbogen an die Basaltvorsprünge stemmte, und das mitten in einer Finsterniß, welche das Verlöschen der Phosphorescenzerscheinungen ganz tief erscheinen ließ, mitten unter diesem unaufhörlichen Donner des anprallenden gurgelnden Wassers und des heulenden Sturmes. Das war jetzt nicht mehr die Stimme Selmas, die im Fingals-Palaste wiederhallte. Es war das betäubende Gebell der Hunde von Kamtschatka, welche, sagt Michelet, »in großen zu Tausenden zählenden Banden während der langen Nächte den heulenden Wogen antworten und mit der Wuth eines nördlichen Oceans wetteifern!«[178]

Endlich machte sich die eintretende Ebbe bemerkbar. Olivier Sinclair überzeugte sich, daß auch die hohle See sich mit dem fallenden Wasser ein wenig beruhigte. Jetzt war es in der Höhle so vollkommen finster, daß es draußen noch verhältnißmäßig tageshell zu sein schien. In diesem Halbschatten zeichnete sich die Oeffnung der Grotte, welche nicht mehr von dem aufwallenden Meere verschlossen wurde, in geisterhaften Umrissen ab. Bald spritzten nur noch Schaumflocken bis zum Fuße des Armstuhls Fingal's hinaus. Jetzt bildeten die Wellen nicht mehr einen Lasso, der sein Opfer umschlingt und mit sich fort reißt. In Olivier Sinclair's Herz zog allmählich die Hoffnung wieder ein.

Mittelst Abschätzung nach dem Stande des Meeres konnte man annehmen, daß Mitternacht vorüber sei. Noch zwei Stunden, dann spülten die Wellen voraussichtlich nicht mehr über die Gallerie hinweg, und diese mußte wieder gangbar werden. Olivier hatte freilich Mühe, bei der herrschenden Finsterniß überhaupt etwas zu sehen, überzeugte sich aber schließlich doch, daß der ersehnte Zeitpunkt, die Grotte zu verlassen, endlich gekommen sei.

Miß Campbell hatte auch jetzt ihre Besinnung nicht wieder erlangt. Olivier Sinclair hielt ihren gänzlich leblosen Körper in den Atmen; vorsichtig schlich er aus dem Armstuhl Fingal's hervor und begann dem schmalen Steige zu folgen, dessen Eisengeländer von den wüthenden Wellen verbogen, zum Theil sogar losgerissen war.

Wenn ein Wasserberg ihn noch zu erreichen drohte, blieb er still stehen oder wich einen Schritt zurück.

Noch zuletzt, als Olivier Sinclair dem Ausgange der Höhle ganz nahe war, stürzte noch einmal eine Wassermasse über ihn hinweg... Er fürchtete, mit Miß Campbell an die Wand gedrückt und dann in den Abgrund gerissen zu werden, der sich unter seinen Füßen öffnen mußte....

Mit dem letzten Aufgebot aller Kräfte leistete er Widerstand, und als das Wasser zurückströmte, benützte er den Augenblick, schnell aus der Grotte zu entkommen.

Nach einigen Augenblicken hatte er den scharfen Winkel des Ufers erreicht, wo ihn die Brüder Melvill, Patridge und Frau Beß, welche auch herbeigeeilt war, schon die ganze Nacht erwarteten.

Er und sie waren gerettet.

Jetzt verließ aber auch Olivier Sinclair die geistige und leibliche Energie, die er zuletzt fast künstlich aufrecht erhalten hatte, und nachdem er noch Miß[179] Campbell in die Arme der Frau Beß gelegt, sank er bewegungslos am Fuße der Felsen zusammen.

Ohne seinen Muth und seine Opferwilligkeit wäre Miß Campbell nicht lebend aus der Fingalshöhle herausgekommen.

Quelle:
Jules Verne: Der grüne Strahl. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band XLII, Wien, Pest, Leipzig 1887, S. 173-180.
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