Drittes Capitel.
Der Artikel der »Morning-Post«.

[22] Denselben Tag, an dem sich die im Vorhergehenden geschilderte Scene abspielte, hätten Liebhaber von Merkwürdigkeiten Folgendes in der »Morning-Post« lesen können:

»Haben Sie jemals die Sonne beobachtet, wenn sie unter einem Meereshorizonte verschwand? – Ja, sicherlich. Sind Sie ihr auch mit dem Blick gefolgt bis zu Moment, wo sie, wenn der obere Rand ihrer Scheibe den Wasserrand berührt. eben gänzlich untergehen will? – Höchst wahrscheinlich. Aber haben Sie dabei die Erscheinung bemerkt, welche genau in dem Augenblicke auftritt, wo sie uns, vorausgesetzt, daß der dunstlose Himmel eine durch nichts gestörte Fernsicht gewährt, ihren letzten Strahl zusendet? – Nein, vielleicht nicht. Nun, so bald sich Ihnen eine Gelegenheit bietet – und das ist nur selten der Fall – bei der Sie diese Beobachtung machen können, so werden Sie wahrnehmen, daß nicht, wie man glauben könnte, ein rother, sondern ein »grüner« Strahl die Netzhaut des Auges trifft, aber ein Strahl von ganz wunderbarem Grün, von einem Farbenton, wie ihn kein Maler auf seiner Palette erzeugen kann, einem Grün, welches die Natur selbst weder in der so verschiedenen Färbung der Pflanzen, noch in der der klarsten, durchsichtigsten Meere jemals wieder in gleicher Nuance hervorbringt. Wenn es im Paradiese Grün gibt, so kann es nur das hier gemeinte sein, welches ohne Zweifel das wirkliche Grün der Hoffnung darstellt!«

So lautete der Artikel der »Morning-Post«, welches Blatt Miß Campbell beim Eintritt in den Salon in der Hand hielt. Die kurze Notiz hatte sie vollkommen eingenommen. Mit enthusiastischer Stimme las sie ihren beiden Onkels auch die angeführten wenigen Zeilen vor, welche in lyrischer Form die Schönheit jenes Grünen Strahles priesen.

Miß Campbell sagte dabei aber nicht, daß gerade dieser Grüne Strahl mit einer alten Legende in Verbindung steht, deren wirklicher Sinn ihr bisher verborgen geblieben war, einer gleich vielen anderen überhaupt unerklärten[22] sagenhaften Ueberlieferung, nach welcher derjenige, der jenen Grünen Strahl nur einmal gesehen, sich in Herzenssachen nicht mehr täuschen könne; sein Erscheinen zerstört alle Illusionen und Unwahrheiten; wer so glücklich war, ihn nur einmal wahrzunehmen, sieht dann eben so klar im eigenen Herzen wie in dem Anderer.

Verzeihe man der jungen Schottin der Hochlande das poetische Vertrauen, welches die Lectüre obigen Artikels der »Morning-Post« auf's Neue belebte.

Bei Anhörung der Worte der Miß Campbell starrten sich die Brüder Sam und Sib mit großen Augen an. Bisher hatten sie ohne jenen Grünen Strahl gelebt und waren der Meinung, man könne auch leben, ohne denselben jemals gesehen zu haben.

Damit schien freilich Helena nicht übereinzustimmen, welche den wichtigsten Schritt ihres Lebens der Beobachtung dieses immerhin seltsamen Phänomens unterzuordnen verlangte.

»Ah, also das ist es, was man den Grünen Strahl nennt? sagte Bruder Sam, leise den Kopf bewegend.

– Ja, erklärte Miß Campbell.

– Der, den Du auf jeden Fall sehen willst? sagte Bruder Sib.

– Und den ich mit Eurer Erlaubniß, liebe Onkels, sehen und, wenn es Euch, wie ich erwarte, genehm ist, binnen recht kurzer Zeit sehen werde.

Und dann, wenn Du ihn gesehen hast?...

– Wenn ich ihn gesehen habe, werden wir von Herrn Aristobulos Ursiclos sprechen können.«

Bruder Sam und Bruder Sib warfen sich einen sinnigen Blick zu und lächelten einander verständnißinnig an.

»So wollen wir uns bemühen, den Grünen Strahl zu Gesicht zu bekommen, sagte der Eine.

– Ohne nur einen Augenblick zu verlieren,« setzte der Andere hinzu.

Aber als sie schon das Fenster des Salons öffnen wollten, hinderte sie Miß Campbell's Hand daran.


... wenn ihr feuriges Roß sie nicht etc. (S. 19.)
... wenn ihr feuriges Roß sie nicht etc. (S. 19.)

»Man muß dazu warten, bis die Sonne untergeht, sagte sie.

– Also diesen Abend... antwortete Bruder Sam.

– Bis die Sonne am reinsten aller Horizonte verschwindet, fügte Miß Campbell hinzu.

– Schön, so werden wir nach dem Essen alle Drei nach der Rosenheatspitze wandern, erklärte Bruder Sib.[23]

– Oder wir steigen einfach auf den Thurm unseres Hauses, meinte Bruder Sam.

– An der Rosenheatspitze, wie auf dem Thurm der Cottage, wandte Miß Campbell ein, erblicken wir keinen anderen Horizont als den der Ufer des Clyde. Es heißt aber ausdrücklich, daß die Sonne an der Linie zwischen Himmel und Wasser beim Untergange in's Meer beobachtet werden solle. Daraus werden meine lieben Onkels die Nothwendigkeit erkennen, mich so bald als möglich unter diese einzig zweckentsprechenden Bedingungen zu versetzen!«[24]

Miß Campbell sprach so ernsthaft und begleitete ihre Worte mit einem so verführerischen Lächeln, daß die Brüder Melvill der Ausführung eines solchen Planes nicht zu widerstehen vermochten.

»Es eilt damit wohl nicht so sehr?«... glaubte doch Bruder Sam bemerken zu müssen.

Und der Bruder Sib zögerte nicht, ihm hilfreich beizuspringen mit den Worten:

»Dazu werden wir immer Zeit haben...«

Miß Campbell schüttelte neckisch den Kopf.[25]

»Nein, dazu werden wir nicht immer Zeit haben, erwiderte sie, und im Gegentheil, die Sache hat Eile.

– Wäre es deshalb... vielleicht im Interesse des Herrn Aristobulos Ursiclos... sagte Bruder Sam.

– Dessen Lebensglück, scheint es, von der Beobachtung dieses Grünen Strahles abhängt, setzte Bruder Sib seine Worte fort.


 »Sehen Sie, Patridge...« (S. 29.)
»Sehen Sie, Patridge...« (S. 29.)

– Zunächst, liebe Onkels, deshalb, weil wir uns schon im Monat August befinden, antwortete Miß Campbell, und es also nicht mehr lange währen kann, bis die Nebel den Himmel Schottlands verdüstern; deshalb, weil es gerathen erscheint, die schönen Abende, welche das Ende des Sommers und der Anfang des Herbstes noch in Aussicht stellen, zu benützen. Wann reisen wir ab?«

Wenn Miß Campbell freilich noch dieses Jahr mit aller Gewalt den Grünen Strahl kennen lernen wollte, so war keine Zeit zu verlieren. Ohne nur einen Tag verstreichen zu lassen, hatte man dann nichts weiter zu thun, als sich unverzüglich nach irgend einem gegen Westen liegenden Punkte der schottischen Küste zu begeben, sich daselbst so bequem als möglich einzurichten, jeden Abend den Sonnenuntergang in Augenschein zu nehmen und endlich auf dessen allerletzten Strahl zu achten. Dann gelang es Miß Campbell vielleicht, bei einigem Glück, ihren etwas phantastischen Wunsch in Erfüllung gehen zu sehen, wenn der Himmel die Beobachtung der Erscheinung überhaupt begünstigte, was freilich ungemein selten ist, wie die »Morning-Post« sehr richtig bemerkte.

Es hatte Recht, das wohlinformirte Journal.

Zunächst handelte es sich um Aufsuchung und Auswahl eines geeigneten Punktes der westlichen Küste, von dem aus die Erscheinung überhaupt beobachtet werden konnte. Um einen solchen zu finden, mußte man wenigstens über den Busen des Clyde hinausgehen.

In der That ist diese Einbuchtung seewärts des Firth of Clyde mit allerlei Hindernissen erfüllt, welche das Gesichtsfeld einschränken. Da sind die Kyles von Bute, die Insel Arran, die Halbinseln Knapdale und Cantyre, Jura, Islay, lauter aus geologischer Epoche her verstreute Felsenmassen, welche den größten Theil der Grafschaft Argyle zu einem Archipel umgestalten und es unmöglich machen, daselbst einen Kreisabschnitt des Meeres zu entdecken, innerhalb welchem das Auge den Untergang der Sonne beobachten könnte.

Wollte man nun Schottland selbst nicht verlassen, so mußte man sich mehr nach dem Norden oder nach dem Süden des Landes begeben, wo sich ein[26] unbegrenzter Fernblick bietet, und das auch noch vor dem Auftreten der Herbstnebel ausführen.

Wohin die Reise gehen würde, das galt der Miß Campbell gleichviel. Ob nach der Küste von Irland, der von Frankreich, Norwegen, Spanien oder Portugal – sie wäre überall mit hingegangen, wo das Strahlengestirn des Himmels sie beim Untergang mit seinem letzten Lichtblitze begrüßen konnte, und ob das den Brüdern Melvill paßte oder nicht, sie mußten ihr eben nachgeben.

Die beiden Onkels beeilten sich also das Wort zu nehmen, nachdem sie sich einen fragenden Blick zugeworfen – aber welchen Blick, und wie durchleuchtete denselben der frohe Schimmer eines seinen diplomatischen Schachzuges!

»Nun gut, meine liebe Helena, begann Bruder Sam, es ist ja ganz leicht, Deinen Wunsch zu erfüllen. Wir wollen nach Oban gehen.

– Es liegt auf der Hand, daß es einen geeigneteren Punkt als Oban gar nicht geben kann, setzte Bruder Sib hinzu.

– Meinetwegen nach Oban, versetzte Miß Campbell. Aber hat Oban wirklich auch einen freien Meereshorizont vor sich?

– Das will ich meinen! rief Bruder Sam.

– Es hat deren vielleicht gar zwei! bestätigte Bruder Sib.

– Gut, so reisen wir dahin.

– Binnen drei Tagen, meinte einer der Onkels.

– Binnen zwei Tagen, sagte der Andere, welcher es für angezeigt hielt, diese kleine Concession zu machen.

– Nein, morgen, erklärte Miß Campbell aufstehend, da eben die Tischglocke läutete.

– Morgen... ja wohl, morgen! sagte Bruder Sam kleinlaut.

– Ich möchte, wir wären schon da«, äußerte Bruder Sib.

Sie sagten Beide die Wahrheit. Warum aber diese Eile? Weil Aristobulos Ursiclos sich seit vierzehn Tagen zum Landaufenthalte nach Oban begeben hatte; weil Miß Campbell, welche davon nichts wußte, sich dort in Gesellschaft dieses jungen Herrn befinden würde, den sie aus allen Gelehrten erwählt, während die Brüder Melvill gar nicht daran zweifelten, daß es in Oban entsetzlich langweilig sei. Die jetzt etwas hinterlistigen Brüder rechneten nämlich darauf, daß Miß Campbell es zeitig genug überdrüssig werden dürfte, vergeblich auf einen geeigneten Sonnenuntergang zu harren, daß sie dann von ihrer etwas phantastischen Schrulle absehen und dem ihr zugedachten Verlobten die Hand reichen werde.[27]

Doch selbst wenn Helena das geahnt hätte, würde es für sie einflußlos gewesen sein. Die Anwesenheit Aristobulos Ursiclos' war nicht dazu angethan, sie zu geniren.

»Bet!

– Beth!

– Beß!

– Betsey!

– Betty!«

Wieder schallte die ganze Rufnamenreihe durch den Salon; diesmal aber erschien Frau Beß in eigener Person und empfing den Befehl, morgen Alles zu einer bevorstehenden Abreise bereitzustellen.

Es galt in der That zu eilen. Der jetzt über 30 und 3/10 »Zoll (760 Mm.) hoch stehende Barometer versprach noch andauernde gute Witterung. Wenn man morgen früh abreiste, konnte man noch zu guter Stunde in Oban eintreffen, um den Sonnenuntergang zu beobachten.

Natürlich waren Frau Beß und Patridge wegen dieser plötzlichen Reise mit Arbeit überhäuft. Die siebenundvierzig Schlüssel der wackeren Frau klirrten und klingelten, wie die Schellen am Lederzeug eines spanischen Maulesels. Wie viele Schränke, wie viele Kästen gab es da zu öffnen und zu verschließen. Vielleicht blieb die Cottage in Helensburgh auf lange Zeit verlassen. Wer konnte die Launen der Miß Campbell ahnen? Wenn es nun dem liebenswürdigen Mädchen einfiel, ihrem Grünen Strahl nachzulaufen? Und wenn dieser Grüne Strahl gar damit coquettirte, sich zu verstecken? Wenn nun der Horizont von Oban nicht die zu derartigen Beobachtungen unerläßliche Klarheit darbot? Wenn es sich nöthig machte, einen anderen astronomischen Standpunkt am südlicheren Ufer Schottlands, an den Englands oder Irlands aufzusuchen, vom Continent ganz zu schweigen? Morgen würde man abreisen, das stand wohl fest; aber wann würde man nach der Cottage zurückkehren? Nach einem oder nach sechs Monaten, nach einem oder nach sechs Jahren?

»Wie kommt sie nur auf die Idee, den Grünen Strahl sehen zu wollen? fragte Frau Beß, welche Patridge nach Kräften unterstützte.

– Ja, weiß ich's? antwortete Patridge, doch es muß wohl seinen guten Grund haben, denn unsere junge Herrin thut nichts ohne vernünftige Ursache, das wissen Sie ja so gut wie ich, Mavourneen!«

Mavourneen ist ein Schmeichelwort, das man in Schottland oft und gerne anwendet, und dem etwa im Deutschen »mein Schätzchen« entspricht. Der vortrefflichen[28] Hausverwalterin mißfiel es nicht im geringsten, sich von dem braven Schotten so nennen zu hören.

»Patridge, antwortete sie, ich vermuthe ganz wie Sie, daß dieser Einfall der Miß Campbell, der ihr über Nacht gekommen sein muß, irgend einen geheimen Hintergedanken bergen möge.

– Welchen?

– O, wer weiß? Wenn nicht eine Ablehnung, so doch eine Hinausschiebung der Projecte ihrer Onkels.

– Wahrhaftig, erwiderte Patridge, ich begreife nicht, warum die Herren Melvill auf jenen Herrn Ursiclos so reinweg versessen sind. Ist denn das der rechte Mann für unser Fräulein?

– Halten Sie sich überzeugt, Patridge, entgegnete Frau Beß, daß sie ihn, wenn er ihr nur zur Hälfte gefällt, überhaupt nicht heiratet. Sie wird ihren beiden Onkels ein nettes rundes »Nein« sagen, küßt sie dabei auf die Wangen, und ihre beiden Onkels werden sofort höchlich erstaunt sein, wie sie an den Genannten nur je haben denken können, an ihn, dessen Anmaßungen mir auch keinesfalls gefallen.

– So wenig wie mir, Mavourneen!

– Sehen Sie, Patridge, Miß Campbell's Herz gleicht ganz dieser Schublade, welche mit einem Sicherheitsschloß versehen ist. Sie allein hat den Schlüssel dazu, und um dieselbe zu öffnen, muß sie ihn herausgeben...

– Wenn man ihr denselben nicht wegnimmt, meinte Patridge zustimmend lächelnd.

– Das wird nicht geschehen, so lange sie ihn sich nicht nehmen lassen will, versicherte Frau Beß, und da soll der Wind mir doch meine Haube gleich nach dem Glockenthurm von St. Mungo entführen, wenn unser junges Fräulein jemals Herrn Ursiclos heiratet!

– Einen Südländer! rief Patridge, einen »Southern«, der, wenn er je in Schottland geboren ist, doch stets südlich des Tweed gelebt hat!«

Frau Beß schüttelte den Kopf. Die beiden Hochländer verstanden sich vollkommen. In ihren Augen bildeten die niedrigen Landestheile kaum ein Zubehör des alten Caledoniens, trotz aller Verträge der Union. Entschieden waren die Beiden keine Begünstiger des geplanten Ehebundes; sie erhofften für Miß Campbell eine bessere Partie. Wenn die vorliegende auch nach manchen Seiten passend erschien, so genügte sie ihnen doch noch nicht.[29]

»Ach, Patridge, nahm Frau Beß wieder das Wort, die alten Gewohnheiten der Hochländer waren doch die besten, und ich glaube, daß die Heiraten, zufolge der Sitten der alten Clans, mehr Glück gewährt haben, als das heutzutage der Fall ist.

– Sie haben nur ein wahres Wort gesprochen, Mavourneen! antwortete Patridge ernsthaft. Jener Zeit wählte man etwas mehr unter Befragung des Herzens und weniger unter Befragung des Geldbeutels. Das Geld ist ja ganz gut, aber die Zuneigung ist doch noch besser und mehr werth.

– Ja wohl, Patridge, und außerdem hielt man auch darauf, sich kennen zu lernen, ehe man an den Altar trat. Erinnern Sie sich noch der Gepflogenheiten von der Messe zu Saint Olla in Kirkwall? Während ihrer ganzen Dauer, das heißt vom Anfang des August an, traten die jungen Leute zu Paaren zusammen und diese Paare nannte man »Bruder und Schwester vom 1. August«. Bruder und Schwester, bildete das nicht eine vortreffliche Vorschule, um später Mann und Frau zu werden? Doch dabei fällt mir ein, daß wir heute gerade den richtigen Tag haben, an dem die Messe von Saint Olla, welche Gott wieder in's Leben rufen möge, eröffnet wurde.

– O könnte er Sie hören! antwortete Patridge. Auch Herr Sam und Sib selbst wären, wenn sie irgend einer anderen jungen Schottin zugesellt worden wären, dem allgemeinen Schicksale nicht entgangen, und Miß Campbell würde jetzt in ihrer Familie zwei Tanten mehr zählen.

– Das geb' ich gerne zu, Patridge, bestätigte Frau Beß, aber nun stellen Sie sich einmal vor, heute Miß Campbell dem Herrn Ursiclos zuzutheilen, da flösse doch gleich der Clyde von Helensburgh bis Glasgow stromaufwärts, wenn diese Verbindung nicht binnen acht Tagen aus den Fugen ginge!«

Ohne die Unzuträglichkeiten hervorzuheben, welche jene jetzt übrigens verschwundenen, den Geschwistern von Kirkwall zugestandenen Vertraulichkeiten mit sich führen konnten, müssen wir doch damit übereinstimmen, daß die Thatsachen der Frau Beß unzweifelhaft Recht gegeben hätten.

Wie dem auch sei, Messen sind um der Geschäfte, nicht um der Heiraten willen da. Wir müssen also Frau Beß und Patridge ihrer Trauer überlassen, obwohl die Beiden trotz ihres Plauderns keine Minute versäumten.

Die Abreise war festgesetzt; die Stelle für den Landaufenthalt gewählt. In den Journalen der vornehmen Welt las man sicher am nächsten Tage unter der Rubrik »Ortsveränderungen und Villeggiaturen« die Namen der beiden Brüder[30] Melvill und der Miß Campbell als abgereist nach Oban. Doch auf welche Weise sollte diese Ortsveränderung vor sich gehen? Diese Frage harrte noch der Lösung.

Zwei verschiedene Wege bieten sich, nach jener kleinen Stadt zu gelangen, welche an der Meerenge von Mull einige hundert Meilen nordöstlich von Glasgow liegt.

Der eine ist ein Landweg. Man fährt nach Bowling, berührt nachher, über Dumbarton längs des rechten Ufers des Leven, Balloch am Ende des Lomond, überschreitet diesen herrlichsten See Schottlands mit seinen dreißig Inseln zwischen dessen historischen Gestaden, an welchen sich, im Lande Rob Roy's und Robert Bruce's, das Andenken der Mac-Gregor und der Mac-Farlane knüpft; von hier aus kommt man nach Dalmaly und endlich gelangt der entzückte Tourist auf einer Straße, welche die Bergabhänge umkreist, oft nahe der Küste verläuft, über Wasserfälle und Fjorde quer durch die Vorläufer der Grampianberge hinführt und dabei sich durch Thäler hinschlängelt, welche von Eichen, Lärchenbäumen und Weiden erfüllt sind, hinunter nach Oban, dessen Uferland sich getrost mit den schönsten Küstenpunkten des Atlantischen Oceans messen kann.

Das Ganze ist ein herrlicher Ausflug, den jeder Reisende in Schottland gemacht hat oder doch machen sollte; einen Meereshorizont bietet er freilich in seinem Verlaufe nirgends. Die Brüder Melvill, welche diesen Weg Miß Campbell vorschlugen, erfuhren des halb auch nur eine Abweisung.

Die zweite Linie verläuft theils in Strömen, theils auf dem Meere. Wer diese einschlägt, hat zunächst den Clyde hinabzufahren bis zu dem, seinen Namen tragenden Golf, dann zwischen den Inseln und Holmen hinzusegeln, die diesen wunderlichen Archipel der Riesenhand einer Skelets ähnlich erscheinen lassen, welche diesen Theil des Oceans umkrallt, und von hier führt er nach der rechten Seite weiter bis zum Hasen von Oban. Das entsprach ganz den Wünschen der Miß Campbell, für welche das hochinteressante Land um den Lac Lomond und den Lac Katerine keine Geheimnisse mehr barg. Uebrigens eröffnete sich durch den Zwischenraum zwischen je zwei Inseln, draußen jenseits der Meerengen und Golfe, da und dort ein weiter Ausblick über das Meer, dessen kreisrunde Grenze das Wasser bildete. Wenn nun gelegentlich dieser kurzen Fahrt in der letzten Stunde derselben keine Dunstwand den Horizont verdeckte, wäre es ja nicht unmöglich gewesen jenen Grünen Strahl zu beobachten, dessen Dauer kaum eine Fünftelsecunde beträgt.[31]

»Du begreifst, Onkel Sam, sagte Miß Campbell, und siehst ein, Onkel Sib, daß es sich eben nur um einen Moment handelt. Wenn ich gesehen habe, wonach mir verlangt, ist die Reise als vollendet zu betrachten und wird es zwecklos, sie noch bis Oban auszudehnen.«


Die Broomielaw-Brücke in Glasgow. (S. 34.)
Die Broomielaw-Brücke in Glasgow. (S. 34.)

Das stimmte mit den heimlichen Motiven der Brüder Melvill freilich nicht überein. Sie wollten sich für einige Zeit in Oban häuslich niederlassen – wir wissen es ja weshalb – und verlangten gar nicht danach, durch ein schnelles Auftreten jenes Phänomens ihre Projecte zerstört zu sehen.


Das Schloß Dumbarton. (S. 37.)
Das Schloß Dumbarton. (S. 37.)

Da Miß Campbell's Stimme von jeher die tonangebende war, und sie für den Seeweg eintrat, so wurde denn auch dieser gewählt und vom Landwege war keine Rede mehr.

»Zum Kukuk mit diesem Grünen Strahl! platzte Bruder Sam heraus, als Helena den Salon verlassen.

– Und mit Denen, die ihn erfunden haben!« tönte[32] das Echo des Bruder Sib.[33]

Quelle:
Jules Verne: Der grüne Strahl. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band XLII, Wien, Pest, Leipzig 1887, S. 22-34.
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