Fünftes Capitel.
Von einem Dampfer zum anderen.

[40] Nach der zur Hälfte warmen, zur Hälfte kalten Mahlzeit – in dem »Dining-room« der »Columbia«, war ein vortreffliches Frühstück nach englischer Sitte aufgetragen worden – kehrten Miß Campbell und die Brüder Melvill nach dem Deck zurück.

Helena konnte einen Schrei der Enttäuschung nicht unterdrücken, als sie ihren Platz auf dem Spardeck wieder eingenommen hatte.

»Wo ist mein Horizont hin?« rief sie.

Allerdings, ihr Horizont war nicht mehr vorhanden, sondern vor nur wenigen Minuten verschwunden. Der Dampfer lief jetzt, mit dem Bug nach Norden, durch die lange Meerenge der Kyles of Bute.

»Das ist nicht hübsch, Onkel Sam! beklagte sich das junge Mädchen und verzog schmollend den feingeschnittenen Mund.

– Aber mein liebes Kind...

– Ich werde mir's merken, Onkel Sib!«

Die beiden Brüder wußten nicht, was sie antworten sollten, und doch konnte unmöglich sie Jemand dafür verantwortlich machen, daß die »Columbia nach Aenderung der vorher eingehaltenen Richtung jetzt gegen Nordwesten dampfte.

Es gibt nämlich zwei verschiedene Routen, um auf dem Wasserwege von Glasgow nach Oban zu gelangen.

Der eine, dem die »Columbia« nicht gefolgt war, ist der weit längere. Nach dem Anlaufen von Rothesay, dem Hauptorte der Insel Bute, der von seinem alten, aus dem elften Jahrhunderte stammenden Schlosse beherrscht und nach Westen von tiefen Thälern umrahmt wird, welche ihn gegen rauhe Winde von der Seeseite schützen, kann der Dampfer noch weiter den Golf von Clyde hinabgehen, das östliche Ufer der Insel passiren; dabei kam er in Sicht von Groß- und Klein-Cumbray vorüber und gelangte in gleicher Richtung bis zum südlichen Theil der Insel Arran, welche fast gänzlich, vom Fuße ihres Felsenuntergrundes bis zum Gipfel des Goatfell, der ziemlich achthundert Meter über das Meer emporsteigt und dem Herzoge von Hamilton gehört. Hierauf legt der[40] Steuermann das Ruder um, so daß die Compaßnadel sich weiter nach Westen dreht; man umsegelt die Insel Arran, ferner den langen Vorsprung der Halbinsel Cantyre fährt an der Westküste hinauf, dringt durch den zwischen der Insel Islay und Jura sich hinziehenden Sund in die Gigha-Straße ein und erreicht dann den weitoffenen Kreisabschnitt des Firth of Lorn, dessen kurzer Schenkel ihn ein wenig oberhalb Oban abschließt.


Die lange Meerenge der Kyles of Bute (S. 40.)
Die lange Meerenge der Kyles of Bute (S. 40.)

Wenn Miß Campbell Alles in Allem irgend einen Grund hatte, darüber zu klagen, daß die »Columbia« nicht diesen Cours eingeschlagen hatte, so hatten[41] vielleicht auch die beiden Onkels Ursache, es zu bedauern. Wenn man nämlich längs des Küstengeländes von Islay hinfährt, wäre ihren Blicken der alte Stammsitz der Mac Donald erschienen, welche, zu Anfang des siebzehnten Jahrhunderts besiegt und vertrieben, den Campbells weichen mußten. Vor dem Schauplatze einer historischen Thatsache, welche sie selbst so nahe berührte, hätten die Brüder Melvill, ohne hier von Frau Beß und Patridge zu reden, ihre Herzen gewiß kräftiger und schneller, aber unisono klopfen gefühlt.

Was Miß Campbell anbetrifft, so hätte sich der so bedauerte Horizont länger ihrer Bewunderung dargeboten. Von der Spitze von Arran bis zum Vorgebirge Cantyre liegt das Meer nämlich nach Süden zu offen; von der Mull von Cantyre bis zur äußersten Spitze von Islay dehnt es sich nach Westen hin frei aus, das heißt, hier glitzert die ungeheure Wasserfläche, welche erst die Küste Amerikas in einer Entfernung von dreitausend Meilen begrenzt.

Dieser Weg aber ist lang, manchmal beschwerlich, wenn nicht gar gefährlich, und ein Passagierdampfer muß auch mit denjenigen Touristen rechnen, welche vor den Wechselfällen einer oft stürmischen Fahrt zurückschrecken, wenn es gilt, der starken hohlen See in der Gegend der Hebriden Trotz zu bieten.

Die Ingenieure – jeder ein kleiner Lesseps – haben den Gedanken gehabt, aus dieser Halbinsel Cantyre eine wirkliche Insel zu machen. Dank ihren Arbeiten, ist in deren nördlichen Theile der Canal von Crinan ausgehoben worden; er kürzt die Reise um wenigstens zweihundert Meilen ab und erfordert nur drei bis vier Stunden zur Durchfahrt.

Auf diesem Wege hielt sich die »Columbia« auf ihrer Fahrt nach Oban zu, immer zwischen den Lochs und Meerengen, mit keinem anderen Ausblick als den auf Küsten, auf Wälder und Berge. Von allen Passagieren war übrigens Miß Campbell zweifellos die Einzige, welche die andere Route vorgezogen hätte, doch sie mußte sich wohl oder übel fügen. Voraussichtlich fand sie ja den ersehnten Meereshorizont ein wenig oberhalb des Canals von Crinan, einige Stunden später und jedenfalls noch eher wieder, als die Sonne ihre Scheibe in's Meer versenken konnte.

In dem Augenblicke, als die Touristen, welche sich im »Dining-room« ein wenig verspätet hatten, nach dem Deck zurückkamen, berührte die »Columbia« am Eingang des Loch Ridden fast die kleine Insel Elbangreig, die letzte Veste, nach der sich der Herzog von Argyle flüchtete, ehe dieser im Kampfe für die politische und religiöse Befreiung Schottlands ehrenvoll unterlegene Held seinen Kopf nach[42] Edinburgh unter das Fallbeil der schottischen Guillotine trug. Dann wandte sich der Dampfer wieder nach Süden, ging die Meerenge von Bute hinunter inmitten jenes bewunderungswürdigen Panoramas von baumlosen oder bewaldeten Inseln, über denen ein leichter Dampf zu ruhen schien, der ihre schroffen Profile abrundete. Nachdem er endlich das Cap Ardlamont umschifft, schlug er durch den Loch Fyne wieder eine nördliche Richtung ein, ließ auf der Küste von Cantyre das Dorf East Tarbert zur Linken, glitt am Cap Ardrishaig hin und erreichte an der Burg von Lochgilpheat den Eingang des Canals von Crinan.

Hier mußten die Reisenden die »Columbia« verlassen, welche für die Dimensionen des Canals zu groß ist. Dieser Durchstich, dessen Niveau-Unterschied durch fünfzehn Schleusen ausgeglichen wird, eignet sich in seinem neun Meilen langen Laufe nur für schmale Fahrzeuge von geringem Tiefgang.

Ein kleines Dampfboot, der »Linnet«, erwartete die Passagiere der »Columbia«. Die Uebersiedelung ging binnen wenigen Minuten von Statten. Jedermann richtete sich nach Belieben auf dem Spardeck des Dampfers ein; dann schlüpfte der »Linnet« raschen Laufes zwischen den Rändern des Canals hin, während ein »Bagpiper«, das ist ein Dudelsackpfeifer im Nationalcostüm, sein Instrument ertönen ließ. Es gibt kaum etwas melancholischeres als jene wunderlichen Lieder, welche von den Baßtönen dreier Schnurrpfeifen begleitet werden, die nur zwei Töne zu erzeugen im Stande sind, während ihnen die halben Töne gänzlich fehlen, ganz wie in den alten Weisen vergangener Jahrhunderte.

Es ist eine reizende Fahrt durch diesen Canal, der bald zwischen hohen steilen Ufern sich hinwindet, bald sich der Seite eines mit Gebüsch bestandenen Hügels anschmiegt. der hier durch offenes Land verläuft, dort sich durch enge Felsenmauern zwängt. An den Schleusen gibt es selbstverständlich einigen Aufenthalt. Während die betreffenden Leute das Schiff möglichst rasch heben oder senken, bieten junge Männer oder junge Mädchen, die Kinder des Landes, den Touristen frisch gemolkene Milch an und sprechen dabei jenes gaëlische Idiom, dessen sich die alten Kelten dereinst bedienten, eine Sprache, welche ein Fremder gar nicht und selbst ein Engländer nur selten versteht.

Sechs Stunden später – an einer der Schleusen, welche schlecht functionirte, war ein Aufenthalt von zwei Stunden entstanden – verschwanden allmählich die Weiler und Farmen, der sonst etwas traurigen Gegend, gleichwie die ungeheuren Sümpfe von Add, die sich an der rechten Seite des Canals ausdehnen. Der »Linnet« hielt beim Dorfe Ballanoch kurze Zeit an. Hier mußte eine zweite Uebersiedlung[43] stattfinden. Die Passagiere der »Columbia«, jetzt solche des »Glengarry«, dampften nun nach Nordwesten, um aus der Bucht von Crinan herauszukommen und die Landspitze zu umschiffen, auf der sich das alte Feudalschloß Duntroon-Castle erhebt.

Seit jenem kurzen Augenblicke, bei Umsegelung der Insel Bute, war der Meereshorizont noch nicht wieder erschienen.

Man begreift leicht die Ungeduld der Miß Campbell. Auf diesen, nach allen Seiten eingeschlossenen Gewässern hätte sie eher geglaubt, mitten in Schottland, in der Gegend der Landseen, im Land Rob Roy's zu sein. Ueberall pittoreske Inseln mit weichen Wellenlinien und von Weiden und Lärchenbäumen bestanden.

Endlich überholte der »Glengarry« die Nordspitze der Insel Jura, und zwischen dieser Spitze und der kleinen Insel Scarba, welche davon losgelöst ist, erschien die ausgedehnte Fläche des Meeres, welche sich mit dem unteren Himmelsrande berührte.

»Nun, da sieh, liebe Helena, sagte Bruder Sam, während seine Hand nach Westen hindeutete.

– Es war ja nicht unser Fehler, fügte Bruder Sib hinzu, wenn diese verzwickten Inseln, die der alte Nick versenken möge, Dir den Ausblick eine zeitlang gehemmt haben.

– Ihr seid vollständig entschuldigt, liebe Onkels, antwortete Miß Campbell, aber ich wünschte doch, daß so etwas nicht wieder vorkäme.«

Quelle:
Jules Verne: Der grüne Strahl. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band XLII, Wien, Pest, Leipzig 1887, S. 40-44.
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