Vierzehntes Capitel.
Der Chubasco.

[189] Mit Tagesanbruch, als die letzten Sterne noch am Westhimmel flimmerten, wurden die Passagiere durch die Vorbereitungen zur Weiterfahrt geweckt. Alles ließ erwarten, daß dies der letzte Reisetag sein werde. San-Fernando lag jetzt nur noch fünfzehn Kilometer weit entfernt. Der Gedanke, heute Abend in einem wirklichen Zimmer und in einem leibhaftigen Bette zu schlafen,[189] berührte Alle natürlich höchst angenehm. Von Caïcara aus gerechnet, dauerte die Stromfahrt bereits einunddreißig Tage und folglich ebenso viele Nächte, während der man sich hatte mit den sehr primitiven Esteras der Deckhäuschen begnügen müssen.

Was den Aufenthalt in la Urbana, wie in den Dörfern Maipures und Atures betrifft, wo man in Strohhütten und auf indianischen Lagerstätten übernachtet hatte, so verschwand diese fragliche Annehmlichkeit doch ganz gegen den Comfort eines in europäischer Weise ausgestatteten einfachen Gasthauses, von dem eines eigentlichen Hôtels ganz zu schweigen. Ohne Zweifel würde ja San-Fernando nach dieser Seite alle Wünsche befriedigen.

Als die Herren Miguel und seine Gefährten aus den Deckhäusern hervortraten, schwammen die Falcas schon in der Mitte des Strombettes. Bei frischem Nordostwinde kamen sie jetzt ziemlich schnell vorwärts. Leider ließen gewisse Vorzeichen, über die sich Stromschiffer des Orinoco nicht wohl täuschen konnten, befürchten, daß die günstige Brise nicht lange genug anhalten werde, um fünfzehn Kilometer zurückzulegen.

Die Piroguen segelten wieder so nebeneinander hin, daß Jacques Helloch bequem nach der »Gallinetta« hinübersprechen konnte.

»Sie befinden sich doch heute Morgen wohl, lieber Jean? fragte er, mit der Hand grüßend.

– Ich danke Ihnen, Herr Helloch, erwiderte der junge Mann.

– Und Sie, Sergeant Martial?

– Mir scheint, ich befinde mich nicht schlechter als gewöhnlich, begnügte sich der alte Soldat zu antworten.

– Das sieht man... sieht man freilich auf den ersten Blick, versetzte Jacques Helloch froh gelaunt. Ich hoffe, wir werden heute Abend Alle bei vortrefflicher Gesundheit in San-Fernando ankommen.

– Heute Abend? wiederholte der Schiffer Valdez mit ungläubigem Kopfschütteln. Wer kann das wissen?«

Da mischte sich noch Herr Miguel, der den Himmel betrachtet hatte, in das Gespräch.

»Sind Sie nicht zufrieden mit dem Wetter, Valdez? fragte er.

– Nicht so ganz, Herr Miguel. Da oben ziehen Wolken aus dem Süden herauf, und die haben nichts Gutes zu bedeuten.

– Wird der Wind sie nicht vertreiben?[190]

– Wenn er aushält... vielleicht... doch wenn er, wie ich fürchte, abflaut oder sich ganz legt... Was da unten heraufsteigt, sind Gewitterwolken, und es ist ja nicht selten, daß solche dem Winde entgegen ziehen.«

Jacques Helloch ließ die Blicke über den Horizont schweifen und schien die Ansicht des Schiffers Valdez zu theilen.

»Nun, inzwischen, sagte er, wollen wir die Brise ausnutzen und so viel wie möglich Weg zurückzulegen suchen.

– Daran soll es nicht fehlen, Herr Helloch!« versicherte der Führer der »Gallinetta«.

Im Laufe des Vormittags erlitten die Piroguen keine nennenswerthe Verzögerung. Immer genügten die prall geschwellten Segel zur Ueberwindung der Strömung, hier übrigens einer recht schnellen, zwischen den von weiten Ilanos begrenzten Ufern und dem da und dort von einzelnen Mesas, das sind grünbedeckte Erdhaufen, durchsetzten Orinoco. Mehrere Rios, die von den letzten Regengüssen her noch reichliche Wassermassen führten, nach fünf bis sechs Wochen aber ganz versiegt sein würden, mündeten hier in den Hauptstrom ein.

Dank der Brise konnten die Fahrzeuge nach Umschiffung der Risse von Nericawa, wenn auch unter mancher Schwierigkeit und großer Anstrengung, das kleine Raudal von Aji überwinden, dessen Durchlässe zur Zeit überall noch Wassertiefe genug hatten, zwischen ihren Felsblöcken hindurchzulavieren. Eine Gefahr lag dabei nur darin, daß eine unerwarteterweise von der Strömung gepackte Pirogue gegen eine solche Klippe geschleudert würde, an der sie unfehlbar zertrümmert werden mußte.

Ein solcher Unfall wäre der »Moriche« beinahe zugestoßen. Mit ungeheurer Gewalt fortgerissen, war sie nahe daran, an die Kante eines mächtigen Felsblocks geworfen zu werden. Wäre dieses Unglück eingetroffen, so hätten die »Gallinetta« und die »Maripare« jedenfalls die Insassen und das Material der »Moriche« noch retten können. In diesem Falle hätten Jacques Helloch und sein Begleiter wohl oder übel nach einer andern Falca übersiedeln müssen, und es lag ja auf der Hand, daß dann die »Gallinetta« die beiden Landsleute an Bord aufnahm.

Das war ein möglicher Fall, der dem Sergeanten Martial – um nicht mehr zu sagen – gewiß arg gegen den Strich gegangen wäre, obwohl die den beiden Franzosen zu gewährende Gastfreundschaft voraussichtlich nur wenige Stunden dauern konnte.


 »Nach den Piroguen!... Schnell nach den Piroguen!« (S. 187.)
»Nach den Piroguen!... Schnell nach den Piroguen!« (S. 187.)

Nachdem die Schiffsleute den Gefahren des Raudals von Aji entgangen waren, gelang ihnen ebenso die Passage des Raudals von Castillito, des letzten, das stromabwärts von San-Fernando die Schifffahrt erschwerte.[191]

Nach eingenommenem Frühstück, d.h. um die Mittagszeit, erschien Jacques Helloch auf dem Vordertheil der »Moriche«, um eine Cigarre zu rauchen.

Mit lebhaftem Bedauern mußte er sich überzeugen, daß Valdez sich in seiner Voraussicht nicht getäuscht hatte.


 »Da oben ziehen Wolken aus dem Süden heraus.« (S. 190.)
»Da oben ziehen Wolken aus dem Süden heraus.« (S. 190.)

Die Brise wurde schwächer und die schlaffen Segel vermochten kaum noch die Strömung überwinden zu helfen. Nur[192] zuweilen noch spannte sie ein kurzer Windstoß stärker an, wobei die Piroguen ein paar Kabellängen weiter hinausgelangten.

Es lag auf der Hand, daß der Zustand der Atmosphäre in kurzer Zeit eine starke Veränderung erfahren werde. Im Süden thürmten sich bleigraue, von dunkleren Streifen wie das Fell mancher Raubthiere durchzogene Wolkenmassen auf. In der Ferne flogen auch zerfaserte Dunstsetzen schnell über den Himmel. Die Sonne, die zur Zeit ihrer Culmination im Zenith stand, mußte bald hinter dem dichten Dunstwall verschwinden.[193]

»Desto besser! rief Germain Paterne, über dessen gebräunte Wangen große Schweißtropfen hinabrieselten.

– Nein, desto schlimmer! entgegnete Jacques Helloch. Es wäre angenehmer, sich zu Wasser aufzulösen, als auf diesem Theile des Stromes, wo ich keinen Schlupfwinkel sehe, von einem Unwetter überrascht zu werden.«

Herr Felipe äußerte eben zu seinen Collegen:

»Man kann kaum noch athmen, und wenn sich der Wind ganz legt, müssen wir ersticken.

– Wissen Sie, wieviel das Thermometer im Innern des Deckhauses zeigt? erwiderte Herr Varinas. Siebenunddreißig Centigrade, und wenn es nur noch ein wenig steigt, sind wir in Gefahr, gesotten zu werden.

– Eine solche Hitze hab' ich auch noch nicht erlebt!« sagte Herr Miguel einfach und wischte sich gemüthsruhig die Stirn ab.

In den Deckhäusern Schutz zu suchen, war ganz unmöglich geworden. Auf dem Hintertheile der Piroguen konnte man wenigstens ein wenig Luft »schnappen« – freilich eine glühende Luft, die dem Schachte eines Hochofens zu entströmen schien. Zum weitern Unglück bewegten sich die Falcas ja mit der Brise, so daß man von dieser kaum etwas und bei dem bedrohlich zunehmenden Aussetzen derselben gar nichts verspürte.

Der »Gallinetta«, der »Maripare« und der »Moriche« gelang es indeß, gegen drei Uhr eine größere Insel anzulaufen, die man auf den Karten unter dem Namen Amananemi verzeichnet findet, eine bewaldete Insel mit dichtem Gestrüpp und steil abfallenden Ufern. Indem sie den Arm des Stromes hinausgingen, wo nur eine mäßigere Strömung stand, und sich mittelst der Espilla weiter fortarbeiteten, erreichten die Schiffsleute noch glücklich die Südspitze dieser Insel.

Die Sonne war jetzt hinter den angehäuften Dunstmassen, die sich eine über die andre hinwegzuwälzen schienen, verschwunden. Lang andauerndes Donnerrollen ertönte von Süden her. Schon zerrissen die er sten Blitze die Wolkenhaufen, die fast zu zerspringen drohten. Von Norden her wehte kein Lufthauch mehr. Das Gewitter zog herauf und breitete seine elektricitätsschwangern Fittige von Osten bis nach Westen hin aus. Daß die großartige Naturerscheinung ohne furchtbaren Aufruhr der Elemente vorübergehen könnte, war zwar nicht ausgeschlossen, doch auch der vertrauensseligste Meteorolog hätte es hier nicht zu hoffen gewagt.[194]

Aus Vorsicht wurden die jetzt doch ganz nutzlosen Segel der Piroguen eingezogen. Die Schiffsleute legten aus demselben Grunde auch die Masten nieder und banden sie auf den Schiffen fest. Sobald die Falcas zurückzuweichen begannen, erfaßte jeder die Palaucas und arbeitete sich, mit so viel Kraft, wie ihm die erstickende Atmosphäre gerade noch übrig gelassen hatte, gegen den Strom hinaus.

Nach der Insel Amanameni erreichte man die nicht kleinere Insel Guayartivari, wo es möglich war, sich längs des abschüssigen Ufers hinzuschleppen. Die Piroguen kamen dabei schneller als durch die Palancas vorwärts und konnten unter diesen Umständen über die stromaufwärts gelegene Spitze hinausgelangen.

Während die Mannschaften, die so schwer zu schleppen gehabt hatten, ein wenig ausruhten, um nachher die Palancas mit neuer Kraft zu handhaben' näherte sich Herr Miguel der »Moriche«.

»Wie weit sind wir noch von San-Fernando? fragte er.

– Drei Kilometer, erklärte Jacques Helloch, der eben die Stromkarte eingesehen hatte.

– Nun, diese drei Kilometer müssen wir im Laufe des Nachmittags noch hinter uns bringen,« sagte Herr Miguel sehr bestimmt.

Dann wendete er sich an die Schiffsmannschaften.

»Auf, liebe Freunde, rief er mit lauter Stimme, noch eine letzte Anstrengung! Ihr sollt es nicht zu bereuen haben und werdet für Eure Mühe reichlich belohnt werden. Zwei Piaster für jeden Mann, wenn wir noch heute Abend am Quai von San-Fernando liegen!«

Die Gefährten des Herrn Miguel verpfändeten ebenfalls ihr Wort für diese Zusage. Angefeuert durch den versprochenen Preis, schienen die Mannschaften der drei Piroguen bereit, auch das Unmögliche möglich zu machen, um die Belohnung einzuheimsen. Unter den Verhältnissen freilich, unter denen man ihnen diesen Mehraufwand von Energie zumuthete, waren die zwei Piaster gewiß redlich verdient.

Die Fahrzeuge befanden sich jetzt dem Guaviare gegenüber, dessen Mündung das linke Ufer des Orinoco tief einbuchtet, wenn es nicht der Orinoco ist, der tief in das rechte Ufer des Guaviare einschneidet, im Falle daß Herr Varinas gegen die Herren Miguel und Felipe Recht behielt.

Es darf wohl nicht wundernehmen, daß der Vertheidiger des Guaviare, das Fernrohr vor den Augen, die Blicke über den weiten Einschnitt schweifen[195] ließ, durch den der von ihm bevorzugte Fluß sein thoniges, gelbliches Wasser entleerte. Freilich darf man sich auch nicht mehr wundern, daß Herr Felipe, der die vollkommenste Nichtachtung heuchelte, als die Pirogue vor der weiten Bucht vorüberglitt, obgleich er recht wohl wußte, um was es sich handelte, ironischen Tones fragte:

»Welcher Bach ist denn das?«

Ein Bach, dieser Guaviare, den Fahrzeuge noch tausend Kilometer hinaufsegeln können; ein Bach, dessen Zuflüsse das Gebiet bis zum Fuße der Anden bewässern; ein Bach, der in der Secunde eine Wassermasse von dreihundertzweitausend Cubikmetern in den andern Strom ergießt!

Auf die verächtliche, spöttische Frage des Herrn Felipe erfolgte jedoch keine Antwort, denn niemand fand Zeit zu einer solchen, oder sie bestand doch nur in dem einen Worte, das die Mannschaften der drei Falcas gleichzeitig hervorstießen:

»Chubasco!... Chubasco!«

Das ist der indianische Name für den furchtbaren kurzen Sturm, der jetzt am fernen Horizonte losbrach. Einer Lawine gleich wühlte sich der Chubasco in das Bett des Orinoco ein. Seltsam ist dabei und unerklärlich für jeden, der mit diesen, den venezuolanischen Ilanos eigenthümlichen Erscheinungen nicht vertraut ist, daß er von Nordwesten her über deren Ebenen dahinbraust.

Noch einen Augenblick vorher war die Luft ruhig... mehr als ruhig, schwer, dick, fast zum festen Körper erstarrt. Die von Elektricität übersättigten Wolken verbreiteten sich mehr und mehr über den Himmel, der Sturm aber, statt ebenfalls von Süden herzukommen, raste von der entgegengesetzten Seite heran. Nahe dem Zenith prallte er auf jene Dunstmassen, zerstreute die einen und wälzte dafür andre zu Haufen an, die, vom Winde gebläht, von Regen- und Hagelmassen belastet, sich über die Stromecke entluden, an der sich die Fluthen eines mächtigen Stromes mit denen seiner zwei großen Zuflüsse mischten.

Die erste Wirkung des Chubasco bestand darin, daß er die Fahrzeuge von der Mündung des Guaviare entfernte, die zweite aber darin, daß er sie, ohne Mithilfe der Palancas, nicht nur gegen die Strömung festhielt, sondern sie sogar in schräger Richtung auf San-Fernando zutrieb. Brachte der wilde Sturm sie selbst nicht in Gefahr, so hatten die Passagiere sich nicht über die Richtung zu beklagen, die er den drei Piroguen aufzwang.

Leider sind diese Chubascos aber gewöhnlich von zahlreichen Unfällen begleitet. Wer nicht selbst davon Zeuge gewesen ist, kann sich von ihrem Ungestüm[196] gar keine Vorstellung machen. Sie erzeugen alles zerreißende, mit Hagelschauern verbundene Böen, denen man sich nicht ungestraft aussetzen könnte, einen Kartätschenhagel, der auch die Strohdächer der Deckhäuser durchlöchert.

Auf den Ruf »Chubasco! Chubasco!« hatten die Passagiere sofort Unterschlups gesucht. In richtiger Voraussicht dieses »Hundewetters«, wie es die Stromschiffer nennen, waren schon die Segel eingezogen und die Masten niedergelegt worden, und so konnten die »Maripare«, die »Moriche« und die »Gallinetta« dem ersten Anprall des Orkans widerstehen.

Jene Vorsichtsmaßregeln hatten jedoch noch keineswegs alle Gefahren beseitigt; es drohten auch noch andre, außer der des Kenterns. Vom wüthenden Winde getrieben und von schäumenden, denen des Oceans ähnlichen Wellen überspült, schwankten die Falcas eine auf die andre zu, stießen gegeneinander und drohten dadurch leck zu werden oder an den Felsen des rechten Ufers in Trümmer zu gehen. Selbst wenn die Passagiere sich dann noch ans Land zu retten vermochten, mußte doch ihr Gepäck und alles Schiffsmaterial dabei verloren gehen.

Jetzt taumelten die Fahrzeuge auf dem auf- und abwogenden Strome hilflos umher. Es war den Schiffern ganz unmöglich, sie mittelst der Palancas am Achter in bestimmter Richtung hinzusteuern. Sie drehten sich völlig um sich selbst, wenn sie auf eine riesige Woge stießen, die einen furchtbaren Wasserschwall über ihren Bordrand ergoß. Durch diese Ueberlastung tiefer eingedrückt, wären sie zweifellos gesunken, wenn die Schiffsleute nicht ununterbrochen bemüht gewesen wären, das Wasser auszuschöpfen, und die Passagiere ihnen dabei nicht redlich geholfen hätten.

Die flachbodigen Fahrzeuge, nur bestimmt, auf ruhigen Wasserflächen zu segeln, sind weder der Größe, noch der Gestalt nach geeignet, einen derartigen Sturm auszuhalten, und groß ist die Zahl derer, die bei den in der warmen Jahreszeit so häufigen Chubascos zwischen den Ufern des mittleren Orinoco zugrundegehen.

Der Strom ist an dieser Stelle grade sehr breit. Er erweiterte sich schon von der Südspitze der großen Insel Guayartivari an. Man könnte ihn für einen großen Binnensee halten, der, im Osten und gegenüber der Mündung des Guaviare abgerundet, sich nach Süden in Trichterform fortsetzt. Hier können die Stürme unbehindert ihre Wuth entfalten, denn die Ilanos am Ufer haben weder Cerros noch Waldmassen, die ihre Kraft brechen könnten. Ein von solchem Unwetter überraschtes Fahrzeug hat nicht einmal, wie auf dem Meere, die[197] Möglichkeit, sich ihm durch Flucht zu entziehen, sondern muß als einziges Rettungsmittel auf gut Glück auf das Ufer laufen.

Die Mannschaften wußten das recht gut und vermochten doch nichts zu thun, um einer solchen Katastrophe vorzubeugen. Schon dachten sie daran, ehe sie gegen die Felsen stießen, ihre Personen zu retten, und das war nur dadurch möglich, daß sie sich in die schaumige Brandung stürzten und schwimmend das Ufer zu erreichen suchten.

Die Herren Miguel, Felipe und Varinas hatten, trotz des Wüthens der Böe, das Deckhaus der »Maripare« verlassen, die durch überschlagende Wellen halb angefüllt war. Jetzt hielten sie sich für jede Möglichkeit bereit.

Der eine von ihnen sagte nur beiläufig:

»Das nennt man: im Hafen scheitern!«

An Bord der »Gallinetta« bemühte sich der Sergeant Martial, nach Kräften ruhig und gefaßt zu bleiben. Wäre er allein gewesen und hätte er nur für sich selbst zu fürchten gehabt, so würde er wohl bald die Resignation des alten Soldaten gefunden haben, der ganz andern Gefahren ins Auge geblickt hat. Doch Jean... den Sohn seines Obersten... das Kind, das er bei dieser abenteuerlichen Reise zu begleiten und zu schützen übernommen hatte, wie konnte er es retten, wenn die Pirogue entfernt vom Ufer unterging? –

Der Sergeant Martial konnte nicht schwimmen, doch wenn er es auch gekonnt hätte, was hätte er in den aufgeregten Fluthen, deren Wogen blitzgeschwind dahintrieben, auszurichten vermocht? Immerhin würde er sich im Nothfalle hineinstürzen, und wenn es ihm nicht gelang, Jean zu retten, so wollte er wenigstens mit ihm sterben.

Der junge Mann hatte übrigens seinen Gleichmuth bewahrt, während der Sergeant Martial ihn mehr und mehr zu verlieren schien. Aus dem Deckhause heraustretend, klammerte er sich fest an einen Balken auf dem Hintertheile des Fahrzeugs an. Er sah wohl die Gefahr, wendete die Augen aber nicht davon ab, und seine Lippen murmelten den Namen seines Vaters.

Einer wachte jedoch über ihn, ohne daß er es bemerkte, während die steuerlosen Piroguen nach der gleichen Seite dahintrieben und bald dicht nebeneinander, bald, durch eine überbrechende Woge getrennt, schaukelnd umhergeworfen wurden. Jacques Helloch verlor ihn nicht aus dem Auge, und wenn die Falcas dicht und nahe daran, eine die andre zu zerstören, aneinander dahinliefen, dachte er nur daran, ihm Muth zuzusprechen. Der junge[198] Mann, der auch vor der drohenden Todesgefahr nicht erzitterte, bedurfte dessen freilich nicht.

»Noch zwei Minuten, und wir sind am Strande, sagte Germain Paterne, der auf dem Vordertheile der »Moriche« stand.

– Aufgepaßt, rief Jacques Helloch, jeder sei bereit, den andern zu retten!«

In Folge der Krümmung, die der Strom da beschreibt, wo er sich mit der Mündung des Guaviare verbindet, war das linke Ufer des Orinoco jetzt nur noch zweihundert Meter weit entfernt. Durch die vom Regen und Hagel gebildeten Streifen sah man es, von den Dunstmassen, die seine Klippen umwogten, ganz weiß vor sich liegen. In wenigen Augenblicken mußte es erreicht sein, denn die Gewalt des Chubasco nahm noch immer weiter zu, und die von der Seite gepackten Piroguen tauchten zwischen den Wogenfurchen, immer Wasser übernehmend, auf und nieder.

Da erfolgte ein heftiger Stoß.

Die »Moriche« hatte die »Gallinetta« angerannt.

Der Stoß war so stark und die »Gallinetta« neigte sich dadurch so weit über, daß das Wasser über das Schandeck hereinfluthete.

Dennoch kenterte sie nicht.

Ein entsetzlicher Schrei übertönte aber das betäubende Geheul des Sturmes.

Der Sergeant Martial war es, der ihn ausgestoßen hatte.

Im Augenblicke der Collision war Jean in die gurgelnde Fluth gestürzt.

»Mein Kind!... Mein Kind!« wiederholte der alte Soldat, der den Kopf ganz verloren hatte und dessen Glieder jetzt gelähmt schienen.

Dennoch versuchte er, in den Strom nachzuspringen, und was hätte er da zu thun vermocht?

Jacques Helloch packte ihn mit kräftigem Arme und drängte ihn nach der Mitte der Pirogue zurück.


Die Fahrzeuge taumelten auf dem auf- und abwogenden Strome hilflos umher. (S. 197.)
Die Fahrzeuge taumelten auf dem auf- und abwogenden Strome hilflos umher. (S. 197.)

Wenn Jacques Helloch jetzt unmittelbar bei der Hand war, kam das daher, daß er kurz vorher nach der »Gallinetta« hinübersprang, um dem jungen Manne näher und sofort zu etwaiger Hilfeleistung bereit zu sein.

Und im Augenblicke, wo Jean verschwand, hatte er den Sergeanten Martial einen Namen... freilich einen andern und nicht den Namen Jean rufen gehört.

»Ueberlassen Sie Alles mir! sagte er zu dem alten Soldaten.[199]

– Sie werden mich nicht abhalten wollen... entgegnete dieser.

– O, Sie können nicht schwimmen... Sie kämen nur Beide ums Leben. Ich... ich werde Ihr Kind schon retten!«

Ohne eine weitere Erwiderung abzuwarten, war Jacques Helloch kopfüber ins Wasser gesprungen.

Der ganze Auftritt hatte nur wenige Secunden gewährt.

Mit fünf bis sechs Armbewegungen gelang es Jacques Helloch, sich zu Jean hinzuarbeiten, der nach mehrfachem Wiederauftauchen jetzt dem Versinken nahe war. Er faßte ihn mitten um den Leib, stützte seinen Kopf, um diesen über Wasser zu halten, und ließ sich nach dem Ufer hintreiben.

»Muth, nur Muth!« raunte er ihm wiederholt zu.

Jean, der mit geschlossenen Augen und halb bewußtlos in seinen Armen lag, konnte ihn nicht hören, nicht verstehen.


Jean war in die gurgelnde Fluth gestürzt (S. 199.)
Jean war in die gurgelnde Fluth gestürzt (S. 199.)

Die Piroguen waren kaum um zwanzig Meter zurück. Während Valdez den ganz verzweifelten Sergeanten Martial zurückhielt, konnte man sehen, wie Jacques Helloch den jungen Mann fest hielt. Die Oberwasserströmung trug Beide nach dem Ufer hin.

Auch die Falcas erreichten es endlich und wurden durch einen glücklichen, Zufall, statt gegen die Klippen geschleudert zu werden, durch eine Grundwelle hoch emporgehoben und auf eine sandige Strandstelle getragen, wo sie ohne ernstere Beschädigung liegen blieben.

Im nämlichen Augenblick erhob sich Jacques Helloch aus dem Wasser und kam auf die Füße zu stehen.

Jean, der das Bewußtsein jetzt ganz verloren hatte, hing in seinen Armen. Nachdem er ihn mit leicht erhobenem Kopfe neben einen Felsblock niedergelegt hatte, versuchte er, ihn wieder zum Bewußtsein zu bringen.

Bei dem tollen Sturme hatte niemand das Leben eingebüßt, weder als die Piroguen wiederholt gegeneinanderstießen, noch als sie am Ufer strandeten.

Herr Miguel und seine Genossen, die sofort aus der »Maripare« sprangen, eilten auf den neben dem jungen Manne knieenden Jacques Helloch zu.

Heil und gesund kam auch Germain Paterne herbei, während die Mannschaften die Fahrzeuge bis über die Linie der Brandung hinauszogen.

Der Sergeant Martial erschien gerade zur Zeit, wo Jean die Augen aufschlug und den Blick auf seinen Lebensretter richtete.

»Mein Kind... mein Kind! rief er schluchzend.

– Martial... mein guter Martial!« flüsterte Jean.

Dann schlossen sich seine Augen wieder, nachdem er noch mit einem Blicke dem gedankt, der um seinetwillen drohender Todesgefahr getrotzt hatte.

Fünfhundert Schritt weit zur Linken erhoben sich die ersten Häuser von San-Fernando, wohin man sich nun ohne Säumen begeben mußte.

Jacques Helloch wollte den jungen Mann wieder aufheben und stützen da erhob aber der Sergeant Martial Einspruch mit den Worten:[203]

»Wenn ich auch nicht schwimmen kann, mein Herr, so kann ich doch gehen, und an Kraft, mein Kind zu tragen, wird mir's auch nicht fehlen!«

Das war der ganze Dank, den er dem muthigen jungen Manne zollte.

Jean in den Armen haltend und begleitet von Herrn Miguel nebst seinen zwei Collegen, von Jacques Helloch und Germain Paterne, schritt der Sergeant Martial dann auf dem Uferpfade hin, der nach der nahen Ortschaft führte.

Quelle:
Jules Verne: Der stolze Orinoko. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXXIII–LXXIV, Wien, Pest, Leipzig 1899, S. 189-201,203-204.
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