Zweites Capitel.
Der Sergeant Martial und seine Neffe.

[20] Die Abfahrt des Geographentrios – eines Trios, dessen Instrumente jedenfalls nie in gleiche Stimmung kommen würden – war auf den 12. August, mitten in der Regenzeit, angesetzt.

Am Vorabend dieses Tages gegen acht Uhr plauderten zwei im Hôtel von Ciudad-Bolivar abgestiegene Reisende in dem Zimmer eines derselben. Ein leichter erfrischender Luftzug strich durch das Fenster herein, das nach der Alameda-Promenade zu lag.

Eben hatte sich der jüngere der beiden Fremdlinge aufgerichtet und sagte zu dem andern in französischer Sprache:

»Sei achtsam, mein guter Martial, und ehe ich mich zur Ruhe lege, erinnre ich Dich noch einmal an alles, was vor der Abreise zwischen uns vereinbart worden ist.

– Wie Sie wünschen, Jean...

– Sapperment, rief Jean, da fällst Du ja gleich bei den ersten Worten aus der Rolle!

– Aus meiner Rolle...?

– Gewiß... Du duzest mich ja nicht.

– Richtig!... Das vermaledeite Duzen!... Ich bitte Sie... nein, ich bitte Dich... der Mangel an Gewohnheit...

– Der Mangel an Gewohnheit, mein armer Sergeant!... Das meinst Du wirklich?... Seit einem Monat haben wir Frankreich verlassen und Du hast mich doch auf der ganzen Ueberfahrt von Saint-Nazaire bis Caracas Du genannt.

– Das ist freilich wahr! antwortete der Sergeant Martial.

– Und jetzt, wo wir in Bolivar angekommen sind, das heißt, an dem Punkte, wo unsre Reise anfängt, die uns so viel Freude – vielleicht so große Enttäuschungen, so viele Schmerzen bereiten wird..«

Jean hatte diese Worte in tiefer Erregung ausgesprochen. Seine Brust hob sich, seine Augen wurden feucht. Dennoch bemeisterte er sich, als er das[20] Gefühl von Unruhe sah, das die harten Züge des Sergeanten Martial widerspiegelten.

Da schlug er lächelnd einen freundlicheren Ton an.

»Jawohl; jetzt, da wir in Bolivar sind, vergißt Du, daß Du mein Onkel bist und ich Dein Neffe bin...

– Ich alter Dummkopf! rief der Sergeant Martial, der sich einen tüchtigen Klaps an die Stirne gab.

– Nein... doch Du beunruhigst Dich, und statt daß Du mich behütetest, scheint es fast nöthig... Sage mir, lieber Martial, pflegt nicht gewöhnlich der Onkel den Neffen zu duzen?

– Allerdings wohl immer.

– Und hab' ich Dich nicht seit unsrer Einschiffung daran gewöhnt, indem ich stets Du zu Dir sagte?

– Ja... und doch... damit angefangen hast Du nicht so von... von...

– Kleinauf! unterbrach ihn Jean, das Wort besonders betonend.

– Freilich... nicht von kleinauf! wiederholte der Sergeant Martial, dessen Blick, als er sich auf den angeblichen Neffen richtete, einen ganz sanften Ausdruck bekam.

– Und vergiß auch nicht, setzte der junge Mann hinzu, daß »klein« auf Spanisch pequeño heißt.

Pequeño, wiederholte der Sergeant Martial. Ein hübsches Wort. Ich kenne es und auch noch gegen fünfzig andre... kaum mehr, soviel ich mir auch Mühe gegeben habe!

– O, der Dickschädel! rief Jean. Hab' ich Dir während der Ueberfahrt auf dem »Pereire« nicht Tag für Tag Deine spanische Aufgabe überhört?

– Zugegeben, Jean! Es ist aber schrecklich für einen alten Soldaten in meinen Jahren, der sein Lebtag nur französisch gesprochen hat, noch dieses Charabia der Andalusier lernen zu sollen. Wahrhaftig, es fällt mir schwer, mich zu hispanisieren, wie jener Andre sagt...

– Das wird sich schon noch finden, lieber Martial.

– Na ja, für die fünfzig Wörter, wovon ich sprach, hat sich's ja schon gefunden. Ich kann zu essen verlangen: »Deme usted algo de comer; zu trinken: Deme usted de beber«; um ein Bett ersuchen: »Deme usted una cama«; nach dem Wagen fragen: »Enseñeme usted el camino«; wie viel kostet das?: »Cuánto vale esto« Ich kann auch Danke schön! »Gracias« und[21] Guten Tag!: »Buenos dias« sagen, ebenso wie Guten Abend!: »Buenos noches«, und wie befinden Sie sich?: »Como esta usted?« Daneben versteh ich zu wettern und zu schimpfen wie ein Aragonier oder ein Castilianer: Carambi de carambo de caramba...

– Genug, genug! unterbrach ihn Jean, ein wenig erröthend. Diese Schimpfreden hab ich Dir nicht gelehrt, und Du wirst gut thun, sie nicht bei jeder ersten besten Gelegenheit anzuwenden...

– Was denkst Du, Jean?... Die Gewohnheiten eines alten Unterofficiers! Mein Leben lang hab' ich mit lauter Tölpeln und mit manchem Donnerwetter nur so herumgeworfen, und wenn man seine Rede nicht mit ein paar solchen Kraftausdrücken würzt, kommt sie mir immer recht schal vor. Was mir am meisten gefällt an diesem spanischen Kauderwälsch, das Du wie eine Señora sprichst...

– Nun, das wäre, Martial...?

– Ja, wohl zu verstehen, daß dieses Kauderwälsch solche Kraftausdrücke in schwerer Menge... fast mehr als andre Wörter hat.

– Und die hast Du Dir natürlich am leichtesten gemerkt...

– Das gesteh' ich, Jean; der Oberst von Kermor war es aber, als ich unter ihm diente, nicht gewesen, der mir wegen meiner Bombendonnerwetter Vorwürfe gemacht hätte!«

Bei Erwähnung des Namens von Kermor veränderte sich der Gesichtsausdruck des jungen Mannes und eine Thräne benetzte die Lider des Sergeanten Martial.

»Siehst Du, Jean,« nahm der Soldat wieder das Wort, »wenn Gott jetzt zu mir spräche: »»Sergeant, in einer Stunde wirst Du Deinem Oberst die Hand drücken, in zwei Stunden werd' ich aber meinen Blitzstrahl auf Dich herabschleudern!««, dann antwortete ich gewiß: »Herr... mach' Deinen Blitzstrahl fertig und ziele mir aufs Herz!«

Jean trat an den alten Vertrauten heran, trocknete ihm die Thränen ab und betrachtete zärtlich die gute Seele, diese rauhe und offenherzige jeder Aufopferung fähige Natur. Und als Martial ihn an sich zog und in seine Arme preßte, sagte der Jüngling schmeichelnd: »O, so sehr sollst Du mich nicht lieben, bester Sergeant!«

»Wäre mir das möglich?...

– Möglich... und nothwendig... wenigstens vor den Leuten, wenn man uns beobachtet...[22]

– Wenn uns aber niemand sieht...

– Dann steht es Dir frei, Deiner Zärtlichkeit – doch mit einiger Vorsicht – Ausdruck zu geben.

– Das wird schwierig werden!

– Schwierig ist gar nichts, was man nicht umgehen kann. Vergiß nie, was ich bin, ein Neffe, der einer strengen Behandlung seitens seines Onkels bedarf...

– Du lieber Gott! Streng!... seufzte der Sergeant Martial, während er die großen Hände zum Himmel erhob.

– Gewiß! Ein Neffe, den Du nur hast auf die Reise mitnehmen müssen, weil es unangezeigt war, ihn allein zu Hause zu lassen, wo er Dummheiten begehen könnte.

– Dummheiten!...

– Einen Neffen, aus dem Du nach Deinem Vorbilde einen Soldaten machen möchtest...

– Einen Soldaten!...

– Natürlich... einen Soldaten, der in harter Schule erzogen werden muß und dem man keine Vorwürfe und Zurechtweisungen ersparen darf, wenn er sie verdient.

– Und wenn er keine verdient?..

– Das wird sich schon zeigen, erklärte Jean lächelnd, denn er ist ein schlechter Rekrut...

– Ein schlechter Rekrut!... Ich dächte doch...

– Und wenn Du ihm vor den Leuten den Kopf zurechtgesetzt hast...

– Werd' ich ihn unter vier Augen um Entschuldigung bitten! rief Martial.

– Ganz nach Belieben, alter Freund, vorausgesetzt, daß uns niemand sieht!«

Der Sergeant Martial umarmte seinen Neffen, nachdem er vorausgeschickt hatte, daß sie hier in dem verschlossenen Hôtelzimmer wohl Keiner beobachten könne.

»Und jetzt, lieber Freund, sagte Jean darauf, ist die Zeit gekommen, der Ruhe zu pflegen. Geh' in Dein Zimmer hier nebenan, ich werde mich in dem meinigen einschließen.

– Wünschest Du, daß ich die Nacht über vor Deiner Thür wache? fragte der Sergeant Martial.

– Das ist unnöthig. Hier droht keinerlei Gefahr...[23]

– Gewiß nicht; und doch...

– Wenn Du von Anfang an meinen Schutzengel in dieser Weise spielst, wirst Du Deine Rolle als gestrenger Onkel herzlich schlecht spielen...

– Als gestrenger Onkel?... Könnt' ich gegen Dich jemals streng auftreten?

– Es muß aber sein... um jeden Verdacht abzuwenden.

– Nun, Jean, warum hast Du mit aller Gewalt hierher gewollt?...

– Weil ich mußte!

– Warum bist Du nicht da unten in unserm Hause geblieben... in Chantenay oder in Nantes?

– Weil es meine Pflicht war, abzureisen!

– Hätte ich diese Reise nicht allein unternehmen können?

– Nein!

– Gefahren?... Es ist mein Beruf, Gefahren zu trotzen. Ich hab' in meinem Leben nichts andres gethan! – Obendrein bedeuten sie für mich nicht so viel, wie für Dich.

– Ich habe doch darauf bestanden, Dein Neffe zu werden, lieber Onkel!

– Ja, doch wenn mein Oberst darum hätte befragt werden können! rief der Sergeant Martial..

– Und wie denn? entgegnete Jean, dessen Stirn sich furchte.

– Freilich, das war ja unmöglich! Erhalten wir aber in San-Fernando zuverlässige Auskunft und ist es uns jemals vergönnt, ihn wieder zu sehen, was wird er dann sagen?

– Er wird es seinem alten Sergeanten Dank wissen, daß dieser meinen Bitten nachgegeben, daß er zugestimmt hat, mich diese Reise unternehmen zu lassen. Er wird Dich in die Arme drücken und erklären, daß Du ebenso Deine Pflicht gethan hast, wie ich die meine!

– Ich sehe schon, rief der Sergeant Martial, Du machst mit mir eben, was Du willst!

– Das ist ganz in der Ordnung, da Du mein Onkel bist und der Onkel stets dem Neffen gehorchen muß... natürlich nicht vor den Leuten!

– Nein... nicht vor andern Leuten! So lautet die Ordre.

– Und nun, mein lieber Martial, geh' schlafen und schlafe recht gut. Morgen früh müssen wir uns beizeiten auf dem Orinoco-Dampfer einschiffen and dürfen seine Abfahrt nicht verfehlen.[24]

– Gute Nacht, Jean!

– Gute Nacht, mein Freund, mein einziger Freund!... Morgen, und Gott leihe uns seinen Schutz!«

Der Sergeant Martial ging nach der Thür, öffnete sie und drückte sie sorgsam wieder zu, dann aber lauschte er, bis Jean den Schlüssel umdrehte und den Riegel an der Innenseite vorschob. Einige Augenblicke stand er still und hatte das Ohr an die Thürfüllung gelegt. So hörte er, daß Jean, ehe er sich zu Bette begab, sein gewohntes Abendgebet sprach. Erst nach erlangter[25] Gewißheit, daß der junge Mann sich niedergelegt hatte, begab er sich nach seinem Zimmer, und sein einziges Gebet, während er sich mit der Faust an den Kopf hämmerte, lautete:

»Ja... daß der Herr des Himmels uns beschütze, denn was wir vorhaben, ist ja grade schwer genug!«


Caracas. (S. 29.)
Caracas. (S. 29.)

Wer sind nun diese beiden Franzosen? Woher kommen sie? Welcher Beweggrund führte sie nach Venezuela? Warum sind sie übereingekommen, hier als Onkel und Neffe aufzutreten? Zu welchem Zwecke wollen sie sich an Bord eines der Orinoco-Dampfer einschiffen und wie weit wollen sie den großen Strom hinausgehen?

Auf alle diese Fragen ist es vorläufig unmöglich, eine erschöpfende Antwort zu geben. Das wird die Zukunft thun, und in der That wird es auch nur die Zukunft zu thun im Stande sein.

Aus dem im Vorhergehenden wiedergegebenen Zwiegespräch läßt sich indeß etwa das Folgende ableiten:

Es waren zwei Franzosen, zwei Bretagner aus Nantes. Wenn über ihre Herkunft kein Zweifel herrscht, so ist das dafür desto mehr der Fall bezüglich der Bande, die sie verknüpfen, und nicht leicht zu sagen, welch gegenseitige Stellung sie einnehmen. Unbekannt ist ja auch jener Oberst von Kermor, dessen Namen zwischen ihnen so häufig erwähnt wurde und sie so tief zu erregen schien.

Jedenfalls mochte der junge Mann nicht älter als sechzehn bis siebzehn Jahre sein. Er war mittelgroß und für sein Alter offenbar recht kräftig entwickelt. Sein Gesicht erschien etwas ernst, selbst traurig, wenn er sich seinen gewohnten Gedanken hingab; seine Züge machten aber einen bestechenden Eindruck mit dem sanften Blick der Augen, dem lächelnden Munde mit perlweißen Zähnen, und mit der warmen Röthe seiner Wangen, die durch die viele freie Luft bei der Ueberfahrt hierher jetzt etwas gebräunt waren.

Der andre der beiden Franzosen – er mochte an der Grenze der Fünfziger stehen – entsprach völlig dem Typus des Sergeanten, des ehemaligen Soldateneindrillers, der so lange gedient hatte, wie seine Jahre ihm zu dienen erlaubten. Seinen Abschied als Unterofficier nehmend, hatte er unter dem Befehle des Obersten von Kermor gestanden, der ihm in einer Schlacht des blutigen Krieges von 1870/71 mit eigner Gefahr das Leben gerettet hatte. Er war einer der wackern Alten, die, wenn sie auch gelegentlich brummen, im Hause ihres frühern Vorgesetzten bleiben, zum Factotum der Familie werden,[26] die Kinder derselben erziehen sehen, wenn sie sie nicht selbst erziehen und, was man auch sagen möge, verwöhnen, und die ihnen zuerst das Reiten lehren, indem sie die Kleinen auf den Knien schaukeln, und den ersten Gesangunterricht ertheilen, indem sie ihnen die Signale des Regiments beibringen.

Trotz seiner fünfzig Jahre ist der Sergeant Martial noch stramm und kräftig. Abgehärtet und unempfindlich durch seinen Beruf als Soldat, auf den weder Hitze noch Kälte merkbaren Einfluß haben, würde er am Senegal nicht sieden und in Rußland nicht erfrieren. Seine Constitution ist fest, sein Muth jeder Probe gewachsen. Er fürchtet sich vor nichts und niemand, höchstens vor sich selbst, denn er mißtraut allem, was er aus eigner Anregung unternimmt. Groß von Gestalt, dabei ziemlich hager, haben seine Glieder nichts von ihrer früheren Kraft eingebüßt, und auch in seinem jetzigen Alter hat er sich die ganze militärische Strammheit bewahrt. Er mag ein Brummbär, ein alter Schnauzbart sein, doch im übrigen, welch gutmüthige Natur, welch vortreffliches Herz, und was würde er nicht alles für die thun, die er liebt! Es scheint jedoch, daß diese sich in unsrer niedern Welt auf zwei Persönlichkeiten beschränken, auf den Oberst von Kermor und auf Jean, dessen Onkel zu spielen er zugestimmt hat.

Mit welch' ängstlicher Sorgfalt behütet er den jungen Mann! Wie sorgt er für ihn, obgleich er sich entschlossen hat, sich seiner Ansicht nach sehr streng zu erweisen! Man hätte ihn freilich nicht fragen dürfen, was diese Strenge für Zweck habe und warum er überhaupt diese ihm so widerstrebende Rolle spiele. Da hätte man zornige Blicke zu sehen und recht abschreckend lautende Antworten zu hören bekommen. Ja, er hätte jeden Frager mit Grazie dahin verwünscht, wo der Pfeffer wächst.

Daran hatte es auch während der Fahrt von der Alten nach der Neuen Welt über den Atlantischen Ocean keineswegs gefehlt. Wie waren da die Passagiere des »Pereire«, die sich Jean hatten nähern, mit ihm gelegentlich plaudern oder ihm kleine, an Bord so alltägliche Dienste erweisen wollen, da sie sich für den jungen Mann zu interessieren schienen, der von seinem querköpfigen und wenig umgänglichen Onkel so hart behandelt wurde – wie waren sie zurückgescheucht worden mit dem ernstlichen Rathe, so etwas nicht noch einmal zu versuchen!

Wenn der Neffe ein reichlich weites Reisecostüm mit flatternder Jacke und Hofe trug, die kurz geschnittenen Haare mit einem weißen Tropenhelm bedeckte und starksöhlige Stiefeln an den Füßen hatte, so erschien der Onkel im Gegentheil[27] in einen langen Rock eingezwängt. Ohne grade eine Uniform zu sein, erinnerte er an eine solche doch durch den militärischen Zuschnitt. Es fehlten nur die Schnüre und die Achselstücke daran. Unmöglich konnte man den Sergeanten Martial überzeugen, daß es rathsamer sei, eine dem venezuolanischen Klima mehr angepaßte Kleidung zu wählen, die er folglich hätte anlegen sollen. Wenn er keine Dienstmütze trug, kam das nur daher, daß Jean ihn genöthigt hatte, auch einen Tropenhelm aus weißem Stoff aufzusetzen, der besser als jede andre Kopfbedeckung gegen die Gluthstrahlen der Sonne schützt.

Der Sergeant Martial war dem Befehle nachgekommen. Doch, »was kümmerte er sich denn um das bischen Sonne!« – er mit seinem Felle von kurzen, starren Haaren und einem Schädel aus Stahl!

Selbstverständlich enthielten die, wenn auch nicht gar so umfänglichen Reisesäcke des Onkels und des Neffen, was Kleidung zum Wechseln, Leibwäsche, Toilettenbedürfnisse, Schuhwerk u. dgl. betraf, alles, was eine solche Reise erforderte, da sich solche Dinge unterwegs ja nicht neu beschaffen ließen. Darunter befanden sich Schlafdecken und auch Waffen und Munition in ausreichender Menge, ein Paar Revolver für den jungen Mann und ein zweites Paar für den Sergeanten Martial – ohne ein kurzes Gewehr zu zählen, von dem letzterer, ein sehr sichrer Schütze, bei Gelegenheit guten Gebrauch zu machen hoffte.

Bei Gelegenheit?... Sind die Gefahren im Gebiete des Orinocobeckens denn gar so groß, daß man wie im Innern Afrikas jeden Augenblick zur Vertheidigung bereit sein muß? Streifen wohl so viele Banden räuberischer, blutdürstiger Indianer, die zum Theil noch Menschenfresser sein sollen, an den Ufern und in der Nachbarschaft des Stromes umher?

Ja und nein.

Wie es schon aus dem Gespräche der Herren Miguel, Felipe und Varinas hervorging, bietet der untere Orinoco von Ciudad-Bolivar bis zur Einmündung des Apure keinerlei Gefahr. Sein Mittellauf, zwischen dieser Flußmündung und San Fernando de Atabapo, erheischt schon einige Vorsicht, besonders wegen der übel beleumundeten Quivas-Indianer. Der Oberlauf des Stromes aber ist nichts weniger als sicher; die Stämme, die hier hausen, haben noch ihre völlige Wildheit bewahrt.

Wie der Leser weiß, lag es nicht in der Absicht des Herrn Miguel und seiner beiden Collegen, über den Flecken San-Fernando hinauszugehen. Ob der[28] Sergeant Martial und sein Neffe sich noch weiter hinauswagen würden, ob unvorhergesehene Zwischenfälle sie vielleicht bis zu den Quellen des Orinoco hinauf führen sollten, das konnte niemand wissen und wußten sie vorher selbst nicht.

Unzweifelhaft war nur, daß der Oberst von Kermor Frankreich vor vierzehn Jahren verlassen hatte, um sich nach Venezuela zu begeben. Was er daselbst machte, was aus ihm geworden war, infolge welcher Umstände er sich zu einer so überstürzten Auswanderung entschlossen hatte, daß er nicht einmal seinen alten Waffengefährten davon unterrichtete – das wird vielleicht der Verlauf dieser Erzählung lehren. Aus der Unterhaltung des Sergeanten Martial und des jungen Mannes hätte sich in Bezug hierauf nichts Bestimmtes entnehmen lassen.

Was diese Zwei selbst anging, wäre etwa Folgendes zu berichten:

Vor drei Wochen hatten sie ihre Wohnung in Chantenay bei Nantes verlassen und sich in Saint-Nazaire auf dem »Pereire«, einem Packetboot der Transatlantischen Gesellschaft eingeschifft, das nach den Antillen bestimmt war. Von da hatte ein andres Schiff sie nach La Guayra, dem Hafen von Caracas, übergeführt und eine kurze Eisenbahnfahrt sie endlich nach der Hauptstadt Venezuelas gebracht.

Ihr Aufenthalt in Caracas währte nur eine Woche. Sie verwandten auch gar keine Zeit auf den Besuch der, wenn nicht merkwürdigen, so doch recht hübschen Stadt, in der der Höhenunterschied zwischen dem obern und dem untern Theile über tausend Meter beträgt. Ja sie bestiegen kaum den Calvarienberg mit seiner umfassenden Aussicht auf die ganze Ortschaft mit ihren meist leicht gebauten Häusern – leicht, weil sie so weniger Gefahr bei Erdbeben bieten – wie dem von 1812, bei dem zwölftausend Menschen umkamen. Uebrigens giebt es in Caracas auch recht schöne Parkanlagen mit vielen immergrünen Bäumen, einige sehenswerthe öffentliche Gebäude, wie den Palast des Präsidenten, eine Kathedrale von herrlicher Architektur, und Terrassen, die das prächtige Antillenmeer zu beherrschen scheinen; übrigens wogt hier das bunte Leben einer großen Stadt, denn Caracas zählt schon über hunderttausend Einwohner.

Alles das vermochte den Sergeanten Martial und seinen Neffen aber keinen Augenblick von dem abzuziehen, was sie hier vor allem beabsichtigten. Sie benützten die acht Tage fast ausschließlich zur Einziehung von Erkundigungen bezüglich der Reise, die sie vorhatten und die sie vielleicht bis in die fernsten und fast unbekannten Theile der Republik Venezuela führen sollte. Was sie[29] hier erfuhren, war freilich nicht viel und meist recht unbestimmt, sie hofften sich aber in San-Fernando ausführlicher und besser unterrichten zu können. Von da aus wollte Jean seine Nachsuchungen, soweit wie es irgend nöthig erschien, ausdehnen und wenn es sein mußte, bis nach den gefährlichen Gebieten des obern Orinoco vordringen.

Wenn der Sergeant Martial dann etwa seine Autorität geltend machen wollte, wenn er Einspruch erhob, daß Jean sich den Gefahren einer solchen Reise aussetzte, so stieß er allemal – der alte Soldat wußte das ja gar zu gut – auf einen so zähen Widerstand bei dem jungen Manne – eigentlich Knaben dieses Alters, auf einen so unbeugsamen Willen, daß er schließlich nachgab, weil er eben nachgeben mußte.

Deshalb wollten also die beiden Franzosen, die erst am Abend vorher in Ciudad-Bolivar eingetroffen waren, schon am nächsten Morgen an Bord des Dampfers weiter fahren, der den Dienst auf dem untern Orinoco versieht.

»Gott leihe uns seinen Schutz, hatte Jean gesagt... ja, er beschütze uns bei der Hinreise wie bei der Wiederkehr!«

Quelle:
Jules Verne: Der stolze Orinoko. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXXIII–LXXIV, Wien, Pest, Leipzig 1899, S. 20-30.
Lizenz:

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