Viertes Capitel.
Erste Annäherung.

[44] In Las Bonitas, der officiellen Hauptstadt des zugehörigen Kreises, wohnt der Militärgouverneur über den Caura, d. h. über das von diesem großen Nebenflusse bewässerte Gebiet. Die Ortschaft liegt am rechten Ufer und etwa an derselben Stelle, die in früherer Zeit die spanische Mission Altagracia einnahm. Diese Missionäre sind die wirklichen Eroberer der spanisch-amerikanischen Besitzungen gewesen und sahen es nicht ohne Eifersucht, daß sich auch Engländer, Deutsche und Franzosen darum bemühten, die Indianer des[44] Innern zu bekehren. Noch heute kommt es aus dieser Ursache zu wiederholten Reibungen zwischen den Verbreitern der christlichen Lehre.

Der Militärgouverneur befand sich zur Zeit in Las Bonitas. Mit Herrn Miguel war er persönlich bekannt. Auf die Nachricht von dessen Abreise nach dem oberen Orinoco hin, beeilte er sich, sobald der Dampfer angelegt hatte, an Bord zu kommen.

Herr Miguel stellte dem Gouverneur seine beiden Collegen vor. Zwischen den Herren wurden verschiedene höfliche Redensarten gewechselt. Da der Aufenthalt des »Simon Bolivar« bis ein Uhr Mittags dauern sollte, nahmen die reisenden Gelehrten auch eine Einladung zum Frühstück in der Amtswohnung des hohen Beamten an.

Um ein Uhr Mittags war es noch Zeit genug zur Wiederabfahrt, denn der Dampfer erreichte dann immer noch am Abend Caïcara, wo die Passagiere, die nicht nach San-Fernando oder andern Ortschaften der Provinz Apure zu reisen beabsichtigten, das Schiff verlassen sollten.

Am nächsten Tage, dem 15. August, begaben sich die drei Mitglieder der geographischen Gesellschaft also nach der Wohnung des Gouverneurs. Vor ihnen aber – der Sergeant Martial hatte auf den Vorschlag seines Neffen hin »befohlen«, einmal auszusteigen – schlenderten diese Zwei schon durch die Straßen von Las Bonitas.

Ein Flecken in diesem Theile Venezuelas bildet immer nicht viel mehr als ein Dorf mit einer Anzahl Hütten, die unter dem dichten Grün der tropischen Pflanzenwelt zerstreut liegen. Da und dort erheben sich Gruppen prächtiger Bäume als Zeugen der vegetativen Macht des Erdbodens – Chaparos mit gewundenem Stamme, gleich dem der Olivenbäume, Copernicia-Palmen mit in Garben vereinigten Zweigen, von denen die Blattstiele fächerartig herausstehen, Mauritius-Palmen, die hier den »Morichal«, d. h. eine Art Sumpf erzeugen, da sie die Eigenschaft haben, das Wasser aus der Erde aufzusaugen und es an ihrem Fuße, aber recht schmutzig erscheinend, wieder austreten zu lassen.

Ferner gab es hier Copayseren, Saurans und riesenhafte, weit verästelte Mimosen, die sich durch die zarte Structur ihrer Blätter und deren blaßrothe schöne Färbung auszeichnen.

Jean und der Sergeant Martial lustwandelten unter diesen Palmenhainen, die von Natur ein regelmäßiges Dreieck bildeten, und durch das vom[45] niedrigen Gebüsch befreite Unterholz, wo elegante Bouquets von »Dormideras« oder Schläferinnen genannten Sensitiven von herrlicher Färbung in großer Menge vorkamen.

Auf diesen Bäumen schaukelten sich oder liefen und sprangen ganze Banden von Affen umher. Von solchen Burschen wimmelt es in ganz Venezuela, wo nicht weniger als sechzehn, zwar recht lärmende, doch völlig harmlose Arten derselben vorkommen, unter andern jene Aluates oder Araguatos mit einer wahrhaft entsetzlichen Stimme, die jeden, der das Thierleben in den tropischen Wäldern noch nicht kennt, zu erschrecken pflegt. Von einem Zweige zum andern hüpfte und flatterte eine ganze geflügelte Welt, darunter Truplais, die ersten Tenöre dieses lustigen Orchesters, die ihr Nest an das Ende einer langen Liane zu hängen lieben, ferner Lagunen-Hähnchen, eine reizende, graziöse Hühnerart, und auch, in Spalten und Löchern versteckt, die Dunkelheit zum Ausfluge abwartend, zahlreiche, pflanzenfressende Guacharos, gewöhnlicher »Teufelchen« genannt, von denen es aussieht, als würden sie von einer Sprungfeder in die Höhe geschnellt, wenn sie sich über die Baumgipfel erheben.

Immer weiter drangen die beiden Lustwandelnden in die Palmendickichte ein.

»Ich hätte doch meine Flinte mitnehmen sollen, meinte der Sergeant Martial.-

– Wolltest Du etwa Affen erlegen? fragte Jean.

– Affen?... Nein!... Wenn es hier aber andre und lästigere Thiere gäbe...

– Darüber sei ganz ruhig, lieber Onkel! Man muß sehr weit von bewohnten Stellen weggehen, um gefährlichen Raubthieren zu begegnen; es ist aber nicht ausgeschlossen, daß wir später in die Lage kämen, uns gegen solche vertheidigen zu müssen.

– Das ist ganz gleichgiltig. Ein Soldat soll nie ohne seine Waffe ausgehen, und ich verdiente eigentlich bestraft zu werden.«

Der Sergeant hatte seinen Verstoß gegen die Disciplin diesmal indeß nicht zu beklagen. Die großen und kleinen Katzenarten, die Jaguare, Tiger, Löwen, Ozelote und Wildkatzen, kommen meist nur in den dichten Urwäldern am Oberlaufe des Stromes vor. Dort läuft man gelegentlich auch Gefahr, auf Bären zu stoßen; diese Plantipeden (Sohlengänger) sind aber sanftmüthiger Natur und leben nur von Fischen und von Honig; wegen vorkommender[46] Faulthiere (Bratypus trydactylus) brauchte man sich aber erst recht keine Sorge zu machen.

Bei ihrem Spaziergange bemerkte der Sergeant Martial auch nur furchtsame Nagethiere, darunter viele Cabiais (eine Art Wasserschweine) und einzelne Pärchen von Chiniguis, die sehr geschickt im Tauchen, doch unbehilflich im Laufen sind.

Was die Bewohner des Gebietes angeht, so waren das meist Mestizen, nur vermischt mit einzelnen Indianerfamilien, die – vorzüglich die zugehörigen Frauen und Kinder – lieber in ihren Strohhütten hocken, als sich draußen zeigen.

Erst viel weiter oben am Strome konnten Onkel und Neffe mit den noch wilden Indianern des Orinoco in Berührung kommen, und da würde der Sergeant Martial allerdings gut thun, seine Flinte niemals zu vergessen.

Nach einem ziemlich ermüdenden, drei Stunden langen Ausflug in die Umgebung von Las Bonitas kehrten Beide zum Frühstück an Bord des »Simon Bolivar« zurück.

Zur gleichen Stunde setzten sich die Herren Miguel, Felipe und Varinas in der »Residenz« an die Tafel des Gouverneurs.

War die Speisekarte auch nur einfachen Art – und offen gestanden, kann man von dem Gouverneur einer Provinz ja nicht erwarten, was man von dem Präsidenten der venezuolanischen Republik vielleicht erwartet hätte – so fanden die Tischgäste dafür einen um so herzlicheren Empfang. Man sprach natürlich über die Aufgabe, die sich die drei Geographen gestellt hatten, der Gouverneur, als weltkluger Mann, hütete sich aber weislich, weder für den Orinoco, noch für den Guaviare oder den Atabapo Partei zu ergreifen. Ihm kam es ja darauf an, die Unterhaltung nicht in eine Streiterei umschlagen zu lassen, und wiederholt nahm er in dieser Absicht Veranlassung, das Gespräch auf einen andern Gegenstand zu lenken.

Als die Stimmen der Herren Felipe und Varinas auf einmal eine herausfordernde Schärfe annahmen, leitete er das Gespräch gleich auf ein andres Thema über.

»Ist Ihnen vielleicht bekannt, meine Herren, ob unter den Passagieren des »Simon Bolivar« einer oder der andre ist, der den Orinoco bis zu seinem Oberlaufe hinauf zu gehen gedenkt?

– Das entzieht sich unsrer Kenntniß, antwortete Herr Miguel. Es scheint jedoch, daß die Mehrzahl derselben entweder in Caïcara zu bleiben[47] oder die Fahrt auf dem Apure nach Ansiedlungen in Columbia fortzusetzen gedenkt.

– Wenn sich jene beiden Franzosen nicht nach dem obern Orinoco begeben, flocht Herr Varinas ein.


 »Ich hätte doch meine Flinte mitnehmen sollen...«. (S. 46.)
»Ich hätte doch meine Flinte mitnehmen sollen...«. (S. 46.)

– Wie? Zwei Franzosen? bemerkte der Gouverneur.

– Ja, bestätigte Herr Felipe, ein alter und ein junger, die sich in Bolivar eingeschifft haben.

– Wohin wollen sie denn?
[48]

 »Sie sind ein junger Franzose?« fragte der Gouverneur. (S. 56.)
»Sie sind ein junger Franzose?« fragte der Gouverneur. (S. 56.)

– Das weiß kein Mensch, versicherte Herr Miguel, denn sie sind nicht besonders mittheilsamer Natur. Will man mit dem Jüngeren eine Unterhaltung anknüpfen, so mischt sich gleich der Aeltere, der ein soldatisches Aussehen hat, mit wüthendem Gesichtsausdruck ein, und läßt man sich dadurch nicht abschrecken, so schickt er seinen Neffen – denn der andre scheint sein Neffe zu sein – mit barschen Worten in seine Cabine. Es ist eine Art Onkel, der sich als Vormund aufspielt...

– Und ich bedaure den armen Jungen, den er unter seinem Schutze hat, fügte Herr Varinas hinzu, denn er leidet offenbar unter seiner Härte, und mehrmals glaubt' ich schon in seinen Augen Thränen zu sehen.«

Der vortreffliche Herr Varinas hatte das in der That gesehen. Wenn die Augen Jeans aber dann und wann feucht wurden, kam es daher, daß er an die Zukunft dachte, an das Ziel, das er verfolgte, und an die Enttäuschungen, die ihn vielleicht erwarteten, nicht aber daher, daß ihn der Sergeant Martial zu streng behandelt hätte. Fremde konnten sich darüber freilich leicht täuschen.

»Uebrigens, fuhr Herr Miguel fort, werden wir jedenfalls noch heute Abend erfahren, ob die beiden Franzosen den Orinoco hinauszufahren beabsichtigen oder nicht. Es würde mich das erstere kaum wundern, weil der junge Mann unausgesetzt das Werk eines seiner Landsleute studiert, dem es vor einigen Jahren gelang, die Quellen des Stromes zu erreichen...

– Wenn sie nach dieser Seite hin, in dem Gebirgsstock der Parima liegen... rief Herr Felipe, von dem in seiner Eigenschaft als Verfechter des Atabapo eine solche Einrede ja ganz natürlich erschien.

– Und wenn man sie nicht im Zuge der Anden zu suchen hat, meldete sich Herr Varinas, da wo der fälschlich als Nebenfluß bezeichnete Guaviare entspringt.«

Der Gouverneur merkte, daß der Wortkampf gleich wieder auflodern würde.

»Meine Herren, sagte er zu seinen Gästen, der Onkel und der Neffe, von denen Sie sprechen, erregen meine Neugierde. Bleiben sie nicht in Caïcara oder ist ihr Ziel nicht San-Fernando de Apura oder de Nutrias, sondern beabsichtigten sie wirklich, ihre Reise auf dem Oberlauf des Orinoco fortzusetzen, so wär' ich gespannt, zu erfahren, welchen Zweck sie damit verfolgten. Die Franzosen sind ja kühn, das geb' ich zu, sind wagemuthige Forscher... die Gebiete Südamerikas haben ihnen aber doch schon mehr als ein Opfer gekostet den Doctor Crevaux, der von den Indianern auf den Ebenen[51] Bolivars erschlagen wurde, sowie seinen Begleiter, François Burban, dessen Grabstätte auf dem Friedhof von Moitaco sich schon nicht mehr nachweisen läßt. Ein gewisser Chaffanjon hat freilich bis zu den Quellen des Orinoco vordringen können...

– Wenn das der Orinoco ist! platzte Herr Varinas heraus, der eine ihm so ungeheuerliche Behauptung nicht ohne energischen Widerspruch hingehen lassen konnte.

– Gewiß, wenn das der Orinoco ist, antwortete der Gouverneur, und über diese geographische Frage werden wir ja nach Ihrer Reise, meine Herren, endlich aufgeklärt sein. Ich sagte also, daß jener Chaffanjon heil und gesund zurückgekehrt sei, freilich nicht, ohne wiederholt in Gefahr gewesen zu sein, wie alle seine Vorgänger niedergemetzelt zu werden. Man möchte wirklich behaupten, daß unser stolzer venezuolanischer Strom sie anlocke, diese Franzmänner, und ohne von denen zu sprechen, die jetzt unter den Passagieren des »Simon Bolivar« sind...

– Ja, das ist richtig, fiel Herr Miguel ein. Erst vor wenigen Wochen haben zwei dieser Wagehälse einen Zug durch die Ilanos östlich vom Strome unternommen...

– Wie Sie sagen, Herr Miguel. Es waren zwei junge Leute von fünfundzwanzig bis dreißig Jahren, der eine, Jacques Helloch, ein Entdeckungsreisender, der andre, namens Germain Paterne, ein Naturforscher, der den Kopf daran setzen würde, ein neues Grashälmchen zu finden.

– Und seit jener Zeit haben Sie nichts von ihnen gehört? fragte Herr Felipe.

– Nicht das geringste, meine Herren. Ich weiß nur, daß sie in Caïcara an Bord einer Pirogue gegangen und daß sie, einer Meldung nach, bei Buena-Vista und bei la Urbana vorübergekommen sind, von wo aus sie sich auf einem der Zuflüsse des rechten Ufers hinausbegeben haben sollen. Von jener Zeit ab hat man nicht wieder von ihnen reden gehört, und man beunruhigt sich wohl mit Recht wegen ihres ferneren Schicksals.

– Hoffen wir wenigstens, sagte Herr Miguel, daß sie nicht in die Hände jener räuberischen und mordlustigen Quivas gefallen sind, die Columbia nach Venezuela hinüber gejagt hatte und die jetzt einen gewissen Alfaniz, einen aus dem Bagno von Cayenne entwichenen Sträfling, zum Anführer haben sollen.[52]

– Ist das Thatsache? fragte Herr Felipe.

– Es scheint so, und ich wünsche Ihnen nicht, mit diesen Quivasbanden zusammenzustoßen, meine Herren, antwortete der Gouverneur. Uebrigens ist ja nicht ausgeschlossen, daß jene Franzosen einem ihnen gelegten Hinterhalte haben entgehen können und sie ihre Reise noch mit ebenso viel Glück und Muth fortsetzen, und endlich ist es ja möglich, daß sie heute oder morgen in einem der Dörfer des rechten Ufers wieder auftauchen. Möchten sie doch den gleichen Erfolg haben, wie ihr Landsmann! Man spricht hier aber auch noch von einem Missionär, der sogar noch weiter nach Osten zu vorgedrungen sein soll, von einem Spanier, einem Pater Esperante. Nach kurzem Aufenthalt in San-Fernando hatte dieser Pater nicht gezaudert, bis über die Quellen des Orinoco hinauszugehen...

– Des falschen Orinoco!« riefen gleichzeitig Herr Felipe und Herr Varinas.

Dabei schleuderten sie ihrem Collegen einen herausfordernden Blick zu, dieser aber neigte nur wenig den Kopf mit den Worten:

»So falsch, wie es Ihnen beliebt, werthe Collegen!«

Dann wendete sich Herr Miguel an den Gouverneur und sagte:

»Hab' ich nicht auch gehört, daß es jenem frommen Pater gelungen sei, eine Mission zu gründen?

– Ganz recht, die Mission Santa-Juana, in der Nähe des Roraima, und sie scheint auch gut zu gedeihen.

– Ein schwieriges Unternehmen, meinte Herr Miguel.

– Vorzüglich, bestätigte der Gouverneur, wo es sich darum handelt, die wildesten der seßhaften Indianer, die in den südlichsten Gebieten hausen, die Guaharibos – beklagenswerthe Geschöpfe, die so tief unter der übrigen Menschheit stehen – zu civilisieren, zum katholischen Glauben zu bekehren, kurz sie von Grund aus umzugestalten. Man vergegenwärtige sich nur, wie viel Muth, Entsagung und Geduld, mit einem Worte: apostolische Tugend dazu gehört, ein solch humanitäres Werk durchzuführen. In den ersten Jahren hörte man gar nichts vom Pater Esperante, und selbst 1888 hatte jener französische Reisende nicht das mindeste über ihn erfahren, obwohl die Mission Santa-Juana gar nicht fern von den Quellen liegt.«

Er hütete sich weislich, hier wieder »des Orinoco« hinzuzusetzen, um keinen Funken ins Pulverfaß zu schleudern.[53]

»Seit zwei Jahren fuhr er fort, drangen jedoch mehrfach Nachrichten von ihm bis San-Fernando und alle bestätigten, daß sein Eifer unter den Guaharibos wahre Wunder bewirkt habe.«

Bis zur Beendigung des Frühstücks drehte sich das Gespräch nur um die Gebiete, die der – kein Streitobject bildende – Mittellauf des Orinoco durchströmt, und um die jetzigen Verhältnisse der Indianer, sowohl derer, die schon »gezähmt« sind, wie derer, die sich jeder geregelten Herrschaft, überhaupt jeder Civilisation entziehen.

Der Gouverneur des Caura theilte eingehende Einzelheiten über alle diese Eingebornen mit, Einzelheiten, von denen Herr Miguel, ein so gelehrter Geograph er auch war, Nutzen ziehen sollte und wirklich Nutzen zog. Kurz, die Unterhaltung artete in keinen weitern Streit aus, da sie den Herren Felipe und Varinas keine geeigneten Angriffspunkte bot.

Gegen Mittag erhoben sich die Gäste der Residenz von der Tafel und begaben sich wieder nach dem »Simon Bolivar«, der um ein Uhr abfahren sollte.

Der Onkel und sein Neffe hatten, seit ihrer Rückkehr zum Almuerzo (Frühstück) an Bord, den Fuß nicht wieder ans Land gesetzt. Vom Hintertheile des Oberdecks, wo der Sergeant Martial sein Pfeifchen rauchte, sahen sie schon von fern her Herrn Miguel und dessen Collegen auf dem Wege zum Schiffe.

Der Gouverneur begleitete sie, da er ihnen noch einmal die Hand drücken und ein letztes Lebewohl sagen wollte, ehe der Dampfer abfuhr. So betrat er diesen mit den Gelehrten und erschien auf dem Spardeck.

Da flüsterte der Sergeant Martial Jean zu:

»Das ist mindestens ein General, der Gouverneur da, obgleich er eine Jacke statt des Waffenrocks, einen Strohhut statt des Dreimasters trägt, und obgleich seine Brust nicht mit Orden geschmückt ist.

– Wohl möglich, lieber Onkel!

– Einer der Generale ohne Soldaten, wie es deren in den amerikanischen Republiken so viele giebt.

– Er hat aber ein recht intelligentes Aussehen, bemerkte der junge Mann.

– Das kann sein; jedenfalls macht er mir mehr den Eindruck eines Neugierigen, erwiderte der Sergeant Martial, denn er beobachtet uns in einer Weise, die mir nicht halb... nein, ganz und gar nicht behagt.«[54]

Wirklich richtete der Gouverneur seine Blicke vorzugsweise auf die beiden Franzosen, von denen beim Frühstück die Rede gewesen war. Ihre Anwesenheit an Bord des »Simon Bolivar«, der tiefere Grund, warum sie diese Reise unternommen hatten, die Frage, ob sie in Caïcara bleiben oder, entweder auf dem Apure oder dem Orinoco selbst, noch weiter ins Innere gehen würden, erregte allerdings seine Neugierde. Personen, die den Strom genauer durchforschen wollen, sind ja gewöhnlich in den besten Jahren, wie die, die vor wenigen Wochen Las Bonitas besuchten und von denen man seit ihrem Aufbruch aus la Urbana keine Nachricht erhalten hatte. Bei dem blutjungen Manne von sechzehn bis siebzehn Jahren und dem wenigstens fünfzigjährigen Soldaten konnte man dagegen kaum voraussetzen, daß sie nur zu einer wissenschaftlichen Reise ausgezogen wären.

Nebenbei bemerkt, hat ein Gouverneur, selbst in Venezuela, gewiß das Recht, sich wegen der Gründe, die ganz Fremde in sein Gebiet führten, zu erkundigen und diese darüber, mindestens officiös, zu befragen.

Der Gouverneur ging also mit Herrn Miguel, den seine in ihren Cabinen beschäftigten Collegen mit dem Regierungsbeamten allein gelassen hatten, einige Schritte nach dem Hintertheile zu.

Der Sergeant Martial durchschaute seine Absicht.

»Achtung! rief er. Der General sacht Fühlung mit dem Feinde, und jedenfalls wird er uns fragen, wer wir sind, warum wir hierher kommen und wohin wir wollen...

– Nun, mein guter Martial, wir haben ja in dieser Beziehung nichts zu verheimlichen, antwortete Jean.

– Ich liebe es aber nicht, daß sich Einer um meine Angelegenheiten bekümmert, und werde ihm den Weg weisen...

– Willst Du uns Schwierigkeiten bereiten, lieber Onkel? sagte der junge Mann, ihn an der Hand zurückhaltend.

– Ich mag nicht, daß jemand mit Dir spricht... mag nicht, daß Einer Dich umschleicht...

– Und ich, ich will nicht, daß Du uns durch Deine Derbheit oder Deine Thorheiten Unannehmlichkeiten zuziehst! entgegnete Jean entschiedenen Tones. Wenn der Gouverneur des Caura eine Frage an mich richtet, werd' ich mich nicht weigern, ihm Rede zu stehen, ja es liegt mir sogar daran, von ihm einige Auskunft zu erbitten.«[55]

Der Sergeant knurrte, passte mächtig aus seiner Pfeife und trat näher an seinen Neffen heran, den der Gouverneur jetzt in spanischer Sprache, die Jean hinlänglich beherrschte, anredete.

»Sie sind ein junger Franzose?...

– Ja, Herr Gouverneur, antwortete Jean, höflich den Hut ziehend.

– Und Ihr Reisegefährte?

– Mein Onkel... ebenfalls ein Franzose, ein verabschiedeter früherer Sergeant.«

Mit der spanischen Sprache sehr wenig vertraut, hatte Martial von diesen Worten doch soviel verstanden, daß von ihm die Rede war. So richtete er sich denn stramm in ganzer Länge auf in der Ueberzeugung, daß ein Sergeant vom 72. Linienregiment doch ebensoviel werth sei, wie ein venezuolanischer General, wenn dieser auch nebenbei Provinzgouverneur wäre.

»Ich glaube nicht indiscret zu sein, mein junger Freund, fuhr der letztere fort, wenn ich frage, ob Ihre Reise noch über Caïcara hinausgehen wird?

– Ja... noch darüber hinaus, Herr Gouverneur, bestätigte Jean.

– Auf dem Orinoco oder auf dem Apure?

– Auf dem Orinoco.

– Bis nach San-Fernando de Atabapo?

– Bis zu diesem Orte, Herr Gouverneur, und vielleicht auch noch da drüber hinaus, wenn die Auskünfte, die wir dort zu erlangen hoffen, das nöthig machen.«

Der Gouverneur fühlte sich, ganz wie Herr Miguel, sofort eingenommen für den jungen Mann, der so viele Entschiedenheit zeigte und so klar und bestimmt antwortete, und man erkannte leicht, daß das die aufrichtige Antheilnahme der beiden Herren erweckte.

Grade diese sichtliche Theilnahme wollte der Sergeant Martial aber mit allen Kräften abwehren. Es mißfiel ihm, daß jemand mit seinem Neffen in so nahe Berührung trat, er wollte es nicht leiden, daß Andre, ganz fremde oder nicht, von seiner natürlichen Liebenswürdigkeit gefesselt würden. Am meisten wurmte es ihn, daß Herr Miguel die Gefühle, die er für den jungen Mann hegte, gar nicht zu verbergen suchte. Der Gouverneur des Caura kam weit weniger in Frage, denn der blieb in Las Bonitas zurück; Herr Miguel dagegen mehr als jeder andere Passagier des »Simon Bolivar«, denn er sollte ja bis San-Fernando mit hinausfahren, und hatte er dann mit Jean erst Bekanntschaft angeknüpft[56] mußte es schwierig werden, die Beziehungen wieder zu lösen, die sich zwischen den Theilnehmern einer längeren Reise fast nothwendig entwickeln.

Warum, möchte man fragen, wollte der Sergeant Martial das verhindern?

Welchen Nachtheil hätte es haben können, daß angesehene Personen, wenn sie sich bei einer niemals ganz gefahrlosen Fahrt auf dem Orinoco hilfswillig zeigten, mit dem Neffen und dem Onkel auf vertrauteren Fuß kamen? Das ist doch einmal der gewöhnliche Verlauf der Dinge.[57]

Ja, und wenn man den Sergeanten Martial gefragt hätte, warum er sich dem widersetzen wollte, würde er doch nur abweisenden Tones geantwortet haben: »Weil mir das nicht behagt!« und man hätte sich schon mit dieser Erklärung zufrieden geben müssen, da ihm doch keine andere zu entlocken gewesen wäre.


Sie spähten nach einem passenden Fahrzeug.(S. 64)
Sie spähten nach einem passenden Fahrzeug.(S. 64)

Eben jetzt konnte er Seine Excellenz nicht einmal sich »seiner Wege scheeren« heißen und mußte den jungen Mann ganz nach Belieben an dem eingeleiteten Gespräche theilnehmen lassen.

Dem Gouverneur schien viel daran gelegen, Jean über den Zweck seiner Reise auszufragen.

»Sie gehen also nach San-Fernando? sagte er.

– Ja, Herr Gouverneur.

– Und aus welcher Absicht, mein junger Freund?

– Ich hoffe dort einige Auskunft zu erhalten.

- Auskunft?... Auskunft?... Ueber was oder über wen?

– Ueber den Oberst von Kermor.

– Oberst von Kermor? wiederholte der Gouverneur. Diesen Namen höre ich hier zum allerersten Male, und es ist mir nicht zu Ohren gekommen, daß in San-Fernando seit der Durchreise des Herrn Chaffanjon je von einem Franzosen die Rede gewesen wäre.

– Er befand sich dort schon einige Jahre früher, bemerkte der junge Mann.

– Worauf stützt sich Ihre Behauptung? fragte der Gouverneur.

– Auf den letzten Brief des Obersten, der in Frankreich eingetroffen ist, einen Brief, der an einen seiner Freunde in Nantes gerichtet war und als Unterschrift seinen Namen trug.

– Und Sie sagen, liebes Kind, fuhr der Gouverneur fort, daß der Oberst von Kermor vor einigen Jahren in San-Fernando geweilt habe?

– Daran ist kaum zu zweifeln; sein Brief war vom 12. April 1879 datiert.

– Das nimmt mich wunder!

– Warum denn, Herr Gouverneur?

– Weil ich mich zu jener Zeit als Gouverneur selbst in genanntem Orte befand, und wenn ein Fremder, wie der Oberst von Kermor, dort aufgetaucht wäre, würde mir das ohne Zweifel gemeldet worden sein. Ich erinnere mich dessen aber nicht... nicht im geringsten!«

Diese so bestimmte Aussage des Gouverneurs schien auf den jungen Mann einen tiefen Eindruck zu machen. Sein Gesicht, das im Laufe des Gesprächs[58] einen lebhafteren Ausdruck angenommen hatte, verlor die gewöhnliche Färbung. Er erbleichte, seine Augen wurden feucht und er mußte alle Willenskraft zusammennehmen, um sich aufrecht zu erhalten.

»Ich danke Ihnen, Herr Gouverneur, sagte er, ich danke Ihnen für die Theilnahme, die wir, mein Onkel und ich, bei Ihnen finden. So gewiß Sie sich aber auch sein mögen, nie etwas vom Oberst von Kermor gehört zu haben, steht es dennoch fest, daß dieser sich in San-Fernando aufgehalten hat, denn von da aus kam der letzte Brief, den man in Frankreich von ihm erhielt.

– Und was hatte er in San-Fernando vor?« fiel jetzt Herr Miguel mit einer Frage ein, die der Gouverneur noch nicht gestellt hatte.

Sie brachte dem ehrenwerthen Mitgliede der geographischen Gesellschaft einen vernichtenden Blick vom Sergeanten Martial ein, der zwischen den Zähnen murmelte:

»Muß der sich denn auch noch einmischen?... Der Gouverneur... na, meinetwegen, doch dieser Philister...«

Jean zögerte indeß gar nicht, auch dem »Philister« Antwort zu geben.

»Was der Oberst dort beabsichtigte, mein Herr, das weiß ich selbst nicht, das ist ein Geheimniß, das wir enthüllen werden, wenn es Gott gefällt, uns ihn finden zu lassen...

– In welchem Verhältniß stehen Sie zu dem Oberst von Kermor? fragte noch der Gouverneur.

– Er ist mein Vater, erklärte Jean, und ich bin nach Venezuela gekommen, um meinen Vater zu suchen!«

Quelle:
Jules Verne: Der stolze Orinoko. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXXIII–LXXIV, Wien, Pest, Leipzig 1899, S. 44-59.
Lizenz:

Buchempfehlung

Prévost d'Exiles, Antoine-François

Manon Lescaut

Manon Lescaut

Der junge Chevalier des Grieux schlägt die vom Vater eingefädelte Karriere als Malteserritter aus und flüchtet mit Manon Lescaut, deren Eltern sie in ein Kloster verbannt hatten, kurzerhand nach Paris. Das junge Paar lebt von Luft und Liebe bis Manon Gefallen an einem anderen findet. Grieux kehrt reumütig in die Obhut seiner Eltern zurück und nimmt das Studium der Theologie auf. Bis er Manon wiedertrifft, ihr verzeiht, und erneut mit ihr durchbrennt. Geldsorgen und Manons Lebenswandel lassen Grieux zum Falschspieler werden, er wird verhaftet, Manon wieder untreu. Schließlich landen beide in Amerika und bauen sich ein neues Leben auf. Bis Manon... »Liebe! Liebe! wirst du es denn nie lernen, mit der Vernunft zusammenzugehen?« schüttelt der Polizist den Kopf, als er Grieux festnimmt und beschreibt damit das zentrale Motiv des berühmten Romans von Antoine François Prévost d'Exiles.

142 Seiten, 8.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.

456 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon