Zweites Capitel.
Erste Etappe.

[235] Die »Gallinetta« und die »Moriche« wurden wie seit der Abfahrt von Caïcara von den Schiffern Parchal und Valdez befehligt. Mit Parchal und dessen Leuten hatten Jacques Helloch und Germain Paterne wegen der Verlängerung der Fahrt keinerlei Schwierigkeiten gehabt. Für eine Reise von unbestimmter Dauer angeworben, kümmerten sich die wackern Leute sehr wenig darum, ob dabei der Orinoco bis zu seinen Quellen oder irgend einer seiner Nebenflüsse untersucht werden sollte, wenn sie nur gute Bezahlung erhielten.

Was dagegen Valdez betraf, so mußten mit diesem neue Bedingungen vereinbart werden. Der Indianer sollte ja den Sergeanten Martial und[235] dessen Neffen zunächst nur nach San-Fernando befördern, denn diese hatten nur einen dahin lautenden Vertrag mit ihm abschließen können, da alles Weitere von den Nachrichten abhing, die sie in dem genannten Orte einziehen konnten. Valdez stammte, wie wir wissen, aus San-Fernando, wo er auch seinen Wohnsitz hatte, und nach Verabschiedung vom Sergeanten Martial hatte er darauf gerechnet, mit andern Passagieren, Reisenden oder Händlern, den Strom wieder hinabzufahren.

Der Sergeant Martial und Jean waren nun aber mit der Geschicklichkeit und dem Eifer des Valdez ganz zufrieden gewesen und hätten es herzlich bedauert, sich für den zweiten und gleichzeitig schwierigsten Theil der Fahrt von ihm trennen zu müssen. Sie machten ihm deshalb den Vorschlag, bei der Reise über den obern Orinoco auch ferner auf seiner Pirogue, der »Gallinetta«, zu bleiben.

Valdez ging gern darauf ein. Von den neun Leuten seiner Mannschaft konnte er freilich nur fünf behalten, während die andern sich für die Kautschukernte verdingen wollten, bei der sie recht hohen Lohn bezogen. Der Führer konnte sie aber glücklicherweise ersetzen, indem er drei Mariquitarer und einen Spanier anwarb, um die Besatzung der »Gallinetta« zu vervollständigen.

Die Mariquitarer, die dem gleichnamigen, in den Gebieten des Ostens hausenden Stamme angehörten, sind vortreffliche Ruderer. Sie kennen auch den Strom gründlich bis einige Hundert Kilometer aufwärts von San-Fernando.

Was den Spanier, namens Jorres betrifft, der erst vor vierzehn Tagen im Orte eingetroffen war, so sachte dieser gerade Gelegenheit, nach Santa-Juana zu kommen, wo der Pater Esperante, wie er sagte, es nicht abschlagen würde, ihn in den Dienst der Mission aufzunehmen. Da er nun gehört hatte, daß der Sohn des Oberst von Kermor und in welcher Absicht dieser sich auch nach Santa-Juana begeben wollte, bot sich Jorres sofort als Ruderer und Bootsgehilfe an. Valdez, dem ja noch ein Mann fehlte, ging auf das Anerbieten ein. Der Spanier schien recht geweckter Natur zu sein, obwohl seine harten Züge und ein fast unheimlicher Glanz seiner Augen nicht gerade zu Gunsten des Mannes sprachen. Uebrigens sprach er nur das Nöthigste und war jedenfalls nicht mittheilsamer Art.

Hier sei eingeschaltet, daß die Schiffer Valdez und Parchal den Strom schon bis zum Rio Mavaca, einem linksseitigen Nebenflusse, hinausgefahren waren, d. h. etwa bis dreihundertundfünfzig Kilometer unterhalb des Gebirgsstockes der Parima, von dem die ersten Wasseradern des großen Stromes entspringen.[236]

Die Piroguen, die zur Vermittlung des Verkehrs auf dem obern Orinoco dienen, sind gewöhnlich von leichterer Bauart, als die auf dem Mittellaufe. Die »Gallinetta« und die »Moriche« schienen indeß bei ihren an und für sich beschränkten Abmessungen zu dieser Art Schifffahrt nicht ungeeignet. Sie waren auch sorgfältig untersucht, am Boden frisch kalfatert und überhaupt so gut wie möglich in Stand gesetzt worden. Im October hat die trockne Jahreszeit noch nicht den größten Tiefstand des Stromes herbeigeführt; er hatte für die beiden Falcas daher immer noch genug Wasser, und da die Reisenden sich auf diesen schon seit zwei Monaten sozusagen eingewohnt hatten, würde sie Keiner gern gegen andre vertauscht haben.

Zur Zeit, als Chaffanjon seine berühmt gewordene Reise ausführte, gab es von Stromkarten nur die im ganzen wenig zuverlässige von Codazzi, deren vielfach falsche Angaben der französische Reisende erst berichtigen mußte. So sollte denn jetzt die von Chaffanjon entworfene Karte bei dem zweiten Theile der Fahrt benutzt werden.

Der Wind, eine ziemlich steife Brise, war günstig. Die beiden Piroguen mit ihren festgestellten Segeln glitten, fast in gleicher Linie, schnell dahin. Die Mannschaft, die auf den Vordertheilen in Gruppen zusammenstand, brauchte ihre Arme nicht anzustrengen. Es war schönes Wetter mit leichten, von Westen heranziehenden Wolken am Himmel.

In San-Fernando waren die Falcas frisch verproviantiert worden, und zwar mit gedörrtem Fleisch, Gemüsen, Cassavebrod, Conserven, Tabak, Tafia und Aguardiente, ferner mit Tauschartikeln, wie mit Messern, Aexten, Glaswaaren, Spiegeln, Stoffen, doch auch mit Kleidungsstücken, Decken und einem reichlichen Vorrath an Munition. Das war eine weise Vorsicht, denn weiter stromaufwärts wurde es, von den nöthigsten Nahrungsmitteln abgesehen, gewiß sehr schwierig, sich derartige Gegenstände zu beschaffen. Was übrigens die Ernährung der Mannschaften betraf, durfte man erwarten, daß die Hammerleßbüchse Jacques Helloch's und die Jagdflinte des Sergeanten Martial dazu genügende Beiträge liefern würden. Auch auf ergiebigen Fischfang war jedenfalls zu rechnen, denn an den Mündungen der zahlreichen Rios, die sich in den Oberlauf des Stromes ergießen, wimmelt es überall von schmackhaften Wasserbewohnern.

Abends gegen fünf Uhr legten die von der Brise getriebenen Piroguen an der äußersten Spitze der Insel Mina fast gegenüber dem Mawa an. Hier wurde ein Wasserschweinspärchen erlegt, und so brauchte weder für die Passagiere,[237] noch für die Mannschaften auf den vorhandenen Mundvorrath zurückgegriffen zu werden.

Am nächsten Tage, am 4. October, ging die Fahrt unter ganz gleichen Verhältnissen weiter. Nach Zurücklegung einer fast ganz geraden, zwanzig Kilometer langen Strecke des Orinoco, der die Indianer den Namen Canon Nube gegeben haben, ankerten die »Moriche« und die »Gallinetta« am Fuße der merkwürdigen Felsen der Piedra Pintada.

Diese bilden den »Bemalten Stein«, dessen Inschriften Germain Paterne vergebens zu entziffern suchte, und die übrigens auch zum Theil überfluthet wurden. Die reichlichen Niederschläge der Regenzeit erhielten hier noch immer einen die normale Höhe übersteigenden Wasserstand. Jenseits der Mündung des Cassiquiare trifft man noch auf eine andre »Piedra Pintada« mit ganz ähnlichen hieroglyphischen Zeichen – eine Erinnerung an uralte Indianerrassen – die der Zahn der Zeit verschont hat.

Die Reisenden auf dem Alto Orinoco bringen die Nacht mit Vorliebe auf dem Lande zu. Sobald da unter Bäumen eine Art Lagerplatz hergestellt ist, bringen sie ihre Hängematten an niedrigeren Zweigen an und schlafen ruhig unter dem sternenbesäeten Himmel, wenn gerade Sterne flimmern, die dann aber am venezuolanischen Firmament immer schön sind. Die Passagiere hatten sich bisher freilich mit dem Obdach, das die Deckhäuser boten, begnügt und hielten es nicht für nothwendig, ihre Piroguen zu verlassen.

Wer unter freiem Himmel schläft, ist hier übrigens plötzlichen und heftigen, gerade in dieser Gegend häufigen Regenschauern ausgesetzt und auch noch andern Zufälligkeiten preisgegeben, die ebensowenig angenehmer Art sind.

Die beiden Schiffer Valdez und Parchal sprachen gerade an diesem Abend darüber.

»Wenn man dadurch von den Muskitos verschont bliebe, meinte der Erstere, dann wäre ja ein Nachtlager am Lande vorzuziehen. Die Quälgeister sind am Ufer aber ebenso zudringlich, wie auf dem Strome.

– Außerdem, ergänzte Parchal seines Collegen Rede, wird man dort noch von Ameisen überfallen, deren Bisse einen fieberhaften Zustand erzeugen können.

– Sind das nicht die, die man »Veinte y cuatro« nennt? fragte Jean, der sich durch fleißiges Studium seines Führers vielseitig unterrichtet hatte.

– Ganz recht, bestätigte Valdez, und zu jenen gesellen sich noch die Chipitas, kleine Insecten, die man mit bloßem Auge kaum sehen kann und[238] die einen vom Kopf bis zu den Füßen zerstechen; ferner die Termiten, die so unerträglich sind, daß die Indianer vor ihnen nicht selten aus ihren Hütten entfliehen...

– Ohne von den Sandflöhen zu reden, setzte Parchal hinzu, und von den Vampyren, die ihrem Opfer das Blut bis zum letzten Tropfen absaugen...

– Und die Schlangen nicht zu vergessen, vervollständigte Germain Paterne diese Liste, die über sechs Meter lange Culebra mapanare und andre. Gegen sie sind mir die Muskitos doch noch lieber...

– Und ich mag weder von den einen, noch von den andern etwas wissen!« erklärte Jacques Helloch.

Dieser Ansicht schlossen sich Alle an. Das Nachtlager an Bord sollte also beibehalten werden, so lange kein Unwetter, wie etwa ein plötzlicher Chubasco, die Passagiere nöthigte, am Ufer Schutz zu suchen.

Im Laufe des Nachmittags gelang es noch, die Mündung des Rio Ventuari, eines bedeutenden rechtsseitigen Nebenflusses, zu erreichen. Es war kaum um fünf Uhr, und blieb also noch zwei Stunden lang tageshell. Auf Anrathen des Schiffers Valdez wurde jedoch schon hier Halt gemacht, denn oberhalb des Ventuari bietet das von Felsen durchsetzte Flußbett der Schifffahrt ernste Schwierigkeiten, und es wäre unklug gewesen, sich diesen bei Annäherung der Dunkelheit auszusetzen.

Das Abendessen wurde gemeinschaftlich verzehrt. Der Sergeant konnte jetzt, wo Jeans Geheimniß seinen beiden Landsleuten bekannt war, dagegen nichts mehr einwenden. Jacques Helloch und Germain Paterne bewahrten in ihrem Auftreten dem jungen Mädchen gegenüber auch die äußerste Zurückhaltung. Sie hätten sich, vorzüglich Jacques Helloch, ernste Selbstvorwürfe gemacht, wenn sie sich zu sehr aufgedrängt hätten. Bei dem Genannten war das nicht etwa die Folge von Verlegenheit, sondern die einer eigenthümlichen Empfindung, die sich in Gegenwart des Fräuleins von Kermor seiner stets bemächtigte. Letzterer konnte das gar nicht entgehen, sie wollte aber darauf nicht besonders achten und benahm sich ebenso ungezwungen und offenherzig wie bisher. Wenn der Abend kam, lud sie die beiden jungen Männer ein, nach ihrer Pirogue herüberzukommen. Dann plauderte die kleine Gesellschaft von den Erlebnissen während der Fahrt, von den Möglichkeiten, die ihnen die nächste Zeit noch bieten könnte, von den Aussichten auf endlichen Erfolg und von den Aufklärungen, die in der Mission von Santa-Juana jedenfalls zu erhalten sein würden.[239]

»Der Name ist schon von guter Vorbedeutung, bemerkte Jacques Helloch. Ja gewiß, von guter Vorbedeutung, weil er auch der Ihrige ist... Fräulein.

– Herr Jean, wenn ich bitten darf, Herr Jean! unterbrach ihn das junge Mädchen, während der Sergeant Martial die Brauen drohend zusammenzog.

– Jawohl, Herr Jean!« antwortete Jacques Helloch, nachdem er noch durch eine Handbewegung angedeutet hatte, daß ihn keiner von der Mannschaft der Falca habe hören können.

Am laufenden Abend drehte sich das Gespräch um den Nebenfluß, an dessen Mündung die Piroguen sich für die Nacht festgelegt hatten.

Es ist das einer der bedeutendsten Zuflüsse des Orinoco. An einer der stärksten Biegungen seines ganzen hydrographischen Systems, einem fast spitzen, weit vorspringenden Winkel, führt er diesem durch sieben, ein Delta bildende Arme eine ungeheure Wassermasse zu. Der Ventuari kommt aus den von Nordost bis Südwest sich ausdehnenden Gebieten her, wird von den unerschöpflichen Quellen der guyanesischen Anden gespeist und bewässert die Landstrecken, die in der Hauptsache von den Macos- und den Mariquitare-Indianern bevölkert sind. Sein Wasserzufluß ist also weit mächtiger als der der linksufrigen Nebenflüsse, die sich nur langsam durch ebene Savannen winden.

Das veranlaßte Germain Paterne, der dabei leicht mit den Schultern zuckte, zu der Bemerkung:

»Nun wahrlich, hier hätten die Herren Miguel, Felipe und Varinas ein würdiges Streitobject! Der Ventuari machte ihrem Atabapo und ihrem Guaviare gewiß mit Erfolg den Rang streitig, und wären die Herren hier, so hätten wir zweifellos die Beweisgründe, die sie mit dem Brustton der Ueberzeugung anzuführen lieben, die ganze Nacht über mit anzuhören.

– Höchst wahrscheinlich, stimmte Jean ein, denn dieser Wasserlauf ist der bedeutendste der ganzen Gegend.

– Wahrhaftig, rief Germain Paterne, ich fühle schon, daß der Dämon der Hydrographie in mein armes Gehirn einzieht. Warum sollte denn der Ventuari nicht der eigentliche Orinoco sein?

– Wenn Du glaubst, daß ich mich auf eine Erörterung dieser Frage einlassen sollte... erwiderte Jacques Helloch.

– Und warum nicht? – Sie verdient das ebenso gut, wie die der Herren Felipe und Varinas...

– Sage lieber, sie verdient das ebenso wenig...


Valdez ging auf das Anerbieten ein. (S. 236.)
Valdez ging auf das Anerbieten ein. (S. 236.)

– Ja warum denn?

– Weil der Orinoco eben der Orinoco ist und bleibt!

– Eine hübsche Beweisführung, Jacques!

– Ihre Anschauung, Herr Helloch, fragte Jean,[240] deckt sich also mit der des Herrn Miguel?

– Vollständig, lieber Jean.

– Armer Ventuari! stieß Germain Paterne lachend hervor. Ich sehe, daß Dir keine Aussichten blühen und gebe Dich also auf!«[241]

Die drei Tage des 4., 5. und 6. October erforderten von Seiten der Mannschaften eine ganz außerordentliche Anstrengung, entweder beim Schleppen und Aufholen der Fahrzeuge oder bei der Handhabung der Pagaien und der Palancas. Nach der Piedra Pintada mußten die Piroguen sieben bis acht Kilometer weit durch ein Labyrinth von Inseln und Felsblöcken bugsiert werden, was das Fortkommen sehr verlangsamte und erschwerte. Obgleich noch immer eine westliche Brise wehte, konnten die Segel durch diese Irrgänge doch unmöglich benutzt werden. Außerdem stürzte wiederholt ein gewaltiger Regen herab, und die Passagiere mußten daher lange Stunden unter den Deckhäusern aushalten.

Oberhalb jener Felsen folgten sogleich die Stromschnellen von San-Barbara, die die Piroguen aber ohne vorherige Entlastung überwinden konnten. An dieser Stelle sah man nichts von den Ruinen eines alten, von Chaffanjon erwähnten Dorfes, ja es sah aus, als ob dieser Theil des linken Stromufers niemals von seßhaften Indianern besiedelt gewesen wäre.

Erst jenseits der Flußenge von Cangreo konnte die Schifffahrt unter normalen Verhältnissen wieder aufgenommen werden, was den Falcas gestattete, am Nachmittage des 6. October das Dorf Guachapana zu erreichen, wo sie ans Ufer gingen.

Wenn die Schiffer Valdez und Parchal schon hier Halt machten, so geschah es nur, um den Mannschaften einen halben Tag und eine Nacht zum gründlichen Ausruhen zu gönnen.

Guachapana besteht nämlich einzig aus einem halben Dutzend längst verlassener Strohhütten. Das kommt daher, daß die den Platz umgebende Savanne geradezu verpestet ist von Termiten, deren Bauten bis zu zwei Meter hoch sind. Gegen einen solchen Ueberfall durch jene »Holzläuse« giebt es keine andre Rettung, als ihnen den Platz zu überlassen, und das hatten die Indianer auch gethan.

»Das offenbart, bemerkte Germain Paterne, die Macht des unendlich Kleinen. Nichts widersteht den winzigen Bestien, wenn sie zu Myriaden auftreten. Eine Bande Tiger oder Jaguare kann man schließlich zurücktreiben, man kann das Land von ihnen säubern, wandert wegen des Raubgesindels aber nicht aus...

– Wenigstens, wenn man kein Piaroa-Indianer ist, flocht Jean ein, denn nach dem, was ich gelesen habe...[242]

– Ja, ja; doch ergreifen die Piaroas unter solchen Umständen die Flucht mehr aus Aberglauben, als aus Furcht, setzte Germain Paterne hinzu, während jene Ameisen, jene Termiten ein Land ganz unbewohnbar machen.«

Gegen fünf Uhr glückte es den Leuten von der »Moriche«, eine Schildkröte von der Terecaïe genannten Art zu fangen. Dieser Chelonier diente zur Bereitung einer vortrefflichen Suppe und eines ebenso schmackhaften Fleischgerichts, das die Indianer als »Sancoco« zu bezeichnen pflegen. Außerdem – und das erlaubte, an den mitgeführten Vorräthen der Falcas zu sparen – warteten am Saume der nahegelegenen Wälder Affen, Wasser- und Bisamschweine nur auf einen Flintenschuß, um auf der Tafel der Passagiere zu erscheinen. Ananas und Bananen konnte man überall pflücken. Ueber das Uferland flatterten geräuschvoll Schwärme von Wildenten, Hoccos (Baumhühner) mit weißlichem Bauche und schwarze wilde Hühner dahin. Das Wasser wimmelte von Fischen, die hier so zahlreich sind, daß die Indianer sie mit Pfeilen tödten. Binnen einer Stunde hätten die Boote der Piroguen damit gefüllt werden können.

Nahrungssorgen brauchen sich Reisende auf dem obern Orinoco also niemals zu machen.

Oberhalb Guachapanas beträgt die Breite des Stromes überall nicht mehr als fünfhundert Meter. Trotzdem ist sein Bett häufig von Inseln unterbrochen, die dann »Chorros« erzeugen, heftige Stromschnellen, deren Wellen sich mit belästigendem Ungestüm hinabwälzen. Die »Moriche« und die »Gallinetta« kamen an diesem Tage nicht weiter, als bis zur Insel Perro de Agua, wo sie aber auch erst mit einbrechender Nacht eintrafen.

Vierundzwanzig Stunden später, nach einem sehr regnerischen Tage und häufigen Störungen durch Umspringen des Windes – wodurch es oberhalb der Insel Camucapi sich mittelst der Palancas fortzuarbeiten galt – erreichten die Reisenden die Lagune von Carida.

Früher lag an dieser Stelle ein Dorf, das aber verlassen worden war, als ein Piaroa unter dem Zahne eines Tigers umgekommen war, wie das auch von Chaffanjon bestätigt wird. Der französische Reisende fand in diesem Dorfe übrigens nur wenige Hütten, die damals ein Baré-Indianer bezogen hatte, der minder abergläubisch und auch kein so lächerlicher Prahlhans war, wie seine Stammesverwandten. Dieser Baré legte einen Rancho an, den Jacques Helloch und seine Begleiter jetzt in gedeihlichstem Zustande fanden. Der Rancho umfaßte Felder mit Mais, Manioc, nebst Anpflanzungen von Bananen, Tabak[243] und Ananas. Im Dienste des Indianers und seiner Frau standen wohl ein Dutzend Bauern, die in Carida mit jenen im besten Einvernehmen lebten.

Die Einladung des wackern Mannes, sein Anwesen zu besichtigen, konnte man nicht wohl abschlagen. Er kam an Bord der Piroguen, als diese kaum erst angelegt hatten. Als ihm ein Gläschen Aguardiente angeboten wurde, nahm er es nur unter der Bedingung an, daß die Fremden in seiner Hütte ein Glas Tafia trinken und Cigaretten von seinem »Tabori« rauchen würden. Es hätte doch einen schlechten Eindruck gemacht, diese Einladung nicht anzunehmen, und die Passagiere versprachen deshalb, nach dem Mittagsmahle den Rancho aufzusuchen.

Da ereignete sich noch ein kleiner Zwischenfall, dem indeß niemand weder besondere Bedeutung beilegte, noch solche beilegen konnte.

Eben als er die »Gallinetta« wieder verlassen wollte, blieb der Blick des Baré auf einem von der Mannschaft haften, auf jenem Jorres, den der Schiffer in San-Fernando angeworben hatte.

Der Leser erinnert sich, daß der Spanier dort seine Dienste nur anbot, weil er sich nach der Mission von Santa-Juana begeben wollte.

Nachdem der Baré ihn mit einer gewissen Neugierde betrachtet hatte, sprach er den Mann direct an.

»Sagen Sie, guter Freund, hab ich Sie nicht schon irgendwo gesehen?«

Jorres runzelte ein wenig die Stirn.

»Hier wenigstens nicht, Indianer, antwortete er hastig, denn ich bin noch nie nach Euerm Rancho ge kommen.

– Das ist merkwürdig! Bei Carida kommen doch nur wenige Fremde vorbei, und man vergißt ihr Gesicht nicht so leicht, wenn man's auch nur ein einzigesmal gesehen hatte.

– Vielleicht haben Sie mich in San-Fernando getroffen, erwiderte der Spanier.

– Seit wie lange waren Sie da?

– Seit... seit drei Wochen.

– Dann ist das unmöglich, denn ich bin seit reichlich zwei Jahren nicht in San-Fernando gewesen.

– Dann täuscht Ihr Euch, Indianer; Ihr habt mich noch nie gesehen, erklärte der Spanier in schroffem Tone, und ich befahre jetzt zum erstenmale den obern Orinoco.[244]

– Ich will Ihnen ja glauben, antwortete der Baré, und doch...«

Hiermit endete das Gespräch, und wenn Jacques Helloch auch dessen Schlußworte hörte, machte er sich doch keinerlei Gedanken darüber. Warum sollte Jorres denn zu verleugnen haben, daß er schon einmal nach Carida gekommen sei, wenn das wirklich der Fall gewesen war?

Valdez konnte den Mann obendrein nur loben, der vor keiner Arbeit, so anstrengend sie auch sein mochte, zurückschreckte und überall ebensoviel Kraft wie Behendigkeit entwickelte. Höchstens konnte man beobachten – ohne ihm daraus einen Vorwurf zu machen – daß er sich von den Andern etwas abgesondert hielt, wenig sprach und dafür mehr auf Alles lauschte, was zwischen den Passagieren oder den Mannschaften gesprochen wurde.

In Folge jenes Austausches von Worten zwischen dem Baré und Jorres kam Jacques Helloch indeß auf den Gedanken, letzteren zu fragen, aus welchem Grunde er gerade nach Santa-Juana zu gehen beabsichtigte.

Jean, der sich ja lebhaft für Alles interessierte, was diese Mission anging, erwartete gespannt die Antwort des Spaniers.

Dieser sagte da sehr einfach und ohne eine Spur von Verlegenheit zu verrathen:

»Ich war von Kindheit an für die Kirche bestimmt und bin auch Novize im Kloster der Mercedes in Cadix gewesen. Da packte mich jedoch das Reisefieber; ich habe mehrere Jahre auf Schiffen des Staates gedient. Mit der Zeit wurde ich dessen aber überdrüssig, mein erster Beruf erschien mir wieder verlockender und deshalb gedachte ich, in eine Mission einzutreten. Vor sechs Monaten befand ich mich in Caracas noch auf einem Handelsschiffe, als ich von der vor mehreren Jahren vom Pater Esperante gegründeten Mission Santa-Juana reden hörte. Da kam mir der Gedanke, in diese einzutreten, denn ich zweifelte keinen Augenblick, in dieser blühenden Anstalt Aufnahme zu finden. So verließ ich denn Caracas und vermiethete mich als Ruderer, bald auf der einen, bald auf der andern Falca, bis ich in dieser Weise nach San-Fernando gelangte. Hier wartete ich auf eine Gelegenheit, den obern Orinoco hinauf zu fahren, und meine Hilfsmittel, das heißt, was ich während der Reise gespart hatte, waren nahezu erschöpft, als Ihre Piroguen dort am Orte vor Anker gingen. Schnell hatte sich in San-Fernando die Nachricht verbreitet, daß der Sohn des Oberst von Kermor, in der Hoffnung, seinen Vater wiederzufinden, im Begriff stehe, nach Santa-Juana aufzubrechen. Da ich nun auch gehört hatte, daß der[245] Schiffer Valdez einige Leute zur Vervollständigung seiner Mannschaft sachte, bot ich mich ihm an, und so bin ich nun auf der »Gallinetta«. Mit Sicherheit kann ich aber behaupten, daß jener Indianer mich noch niemals gesehen hat, denn ich bin zum erstenmale nach Carida gekommen.«

Jacques Helloch und Jean waren verwundert über den wahrhaftigen Ton, mit dem der Spanier sprach; das konnte sie aber nicht überraschen, da sie aus seiner Antwort erfuhren, daß dieser Mann in seiner Jugend eine bessere Erziehung genossen hatte. Sie erklärten sich deshalb bereit, einen Indianer an seiner Stelle zur Hilfeleistung auf der »Gallinetta« anzustellen, ihn aber auf einer der Piroguen als Passagier an Bord zu behalten.

Jorres sprach den beiden Franzosen dafür seinen Dank aus. Einmal jedoch an der Arbeit als Ruderer, die er nun bis zum Rancho von Carida versehen hatte, wollte er diese Stellung auch bis zu den Quellen des Stromes beibehalten.

»Und, fügte er hinzu, sollte ich dann nicht in das Personal der Mission eintreten können, so würde ich Sie, meine Herren, bitten, mich in Ihre Dienste und bis San-Fernando wieder mit zurückzunehmen – ja am liebsten bis nach Europa, wenn Sie einst dahin zurückkehren.«

Der Spanier sprach mit ruhiger, doch ziemlich scharfer Stimme, obgleich er diese zu mildern bemüht schien. Der Ton paßte aber zu seinen etwas groben Zügen, zu dem entschlossenen Gesichtsausdruck, dem großen Kopfe mit schwarzen Haaren, dem dunkeln Teint und zu seinem Munde, dessen schmale Lippen kaum die sehr weißen Zähne bedeckten.

Er zeigte jedoch auch noch eine andre Eigenthümlichkeit, die bisher Allen entgangen war und die von diesem Tage an von Jacques Helloch vielfach beobachtet wurde: einen ganz seltsamen Blick nämlich, den er zeitweilig auf den jungen Mann richtete. Das legte die Frage nahe, ob er vielleicht das Geheimniß Jeanne von Kermor's, von dem doch weder Valdez und Parchal, noch einer von den Leuten der Besatzung das Geringste ahnten, entdeckt haben könnte.

Dieser Gedanke machte Jacques Helloch recht unruhig und veranlaßte ihn, den Spanier scharf im Auge zu behalten, obgleich weder das junge Mädchen, noch der Sergeant Martial irgend welchen Verdacht geschöpft hatte. Wenn der Verdacht Jacques Helloch's zur Gewißheit werden sollte, würde es ja Zeit sein, entschieden einzugreifen und sich von Jorres zu befreien, der in einem beliebigen Dorfe, etwa bei la Esmeralda, wenn die Piroguen daselbst landeten, ausgesetzt[246] werden konnte. Dafür brauchte ihm auch gar kein Grund angegeben zu werden; Valdez hatte einfach seine Rechnung mit ihm zu begleichen, und jener konnte sich dann nach der Mission Santa-Juana durchschlagen, wie es ihm beliebte.

Bezüglich dieser Mission drängte es Jean jedoch, den Spanier über das auszuforschen, was er etwa davon wissen könnte, und so fragte er ihn, ob er wohl den Pater Esperante, bei dem er sich niederlassen wollte, schon kenne.

»Jawohl, Herr von Kermor, antwortete Jorres nach leichtem Zögern.

– Haben Sie ihn gesehen?

– Gewiß, in Caracas.

– Zu welcher Zeit?

– Im Jahre 1879, wo ich mich an Bord eines Kauffahrers befand.

– War das das erste Mal, daß der Pater Esperante nach Caracas kam?

– Ja... das erste Mal... und von da zog er weiter, um die Mission Santa-Juana zu errichten.

– Was für ein Mann ist er wohl, mischte sich hier Jacques Helloch ein, oder vielmehr, was für ein Mann war er damals?

– Ein Mann in den fünfziger Jahren, von hohem Wuchs, großer Körperkraft und mit schon ergrauendem Vollbart, der jetzt ganz weiß sein dürfte. Man sah es ihm an, daß er ein entschlossener, energischer Charakter war, wie es im allgemeinen die Missionäre sind, die ihr Leben daran wagen, die Indianer zu bekehren...

– Ein edler Beruf, sagte Jean.

– Der schönste, den ich kenne!« erwiderte der Spanier.

Das Gespräch fand mit dieser Antwort sein Ende, auch war die Zeit zum Besuche des Rancho herangekommen. Der Sergeant Martial und Jean, sowie Jacques Helloch und Germain Paterne begaben sich ans Ufer und wanderten dann durch die Mais- und Maniocselder hin nach der Wohnstätte, die der Indianer mit seiner Frau einnahm.

Diese Hütte war sorgfältiger gebaut, als man es sonst bei den Strohhütten der Indianer der Umgegend beobachtet. Sie enthielt einige Möbel, Hängematten, Geräthe für den Ackerbau und die Küche, einen Tisch, mehrere als Schrank dienende Körbe und ein halbes Dutzend Schemel.

Der Baré begrüßte seine Gäste, denn seine Frau war des Spanischen nicht mächtig, das er ganz geläufig sprach.


 »Hab ich Sie nicht schon einmal gesehen?« (S. 244.)
»Hab ich Sie nicht schon einmal gesehen?« (S. 244.)

Die Frau war eine eigentlich noch halbwilde Indianerin, die offenbar tief unter ihrem Mann stand.[247]

Letzterer, der auf sein Besitzthum etwas stolz zu sein schien, plauderte ausführlich über seinen Betrieb und seine Zukunft und drückte dabei auch sein lebhaftes Bedauern aus, daß seine Gäste den Rancho nicht in dessen ganzer Ausdehnung besichtigen könnten.

Das sollte indeß nur aufgeschoben sein, denn er erwartete, daß die Piroguen bei der Rückfahrt hier etwas länger liegen bleiben würden.

Maniockuchen, vorzügliche Ananasfrüchte, Tafia, den der Baré aus seinem Zuckerrohr selbst bereitete, Cigaretten aus Tabak eigner Ernte, bestehend aus[248] zusammengerollten Tabakblättern mit einer Tabariumhüllung, alles das wurde freundlichst angeboten und ebenso angenommen.

Nur Jean allein lehnte trotz des Drängens des Indianers die Cigaretten ab und kostete von dem Tafia nicht mehr, als daß er sich mit einigen Tropfen die Lippen benetzte. Das war recht klug und weise von ihm, denn der Liqueur brannte wie höllisches Feuer. Wenn Jacques Helloch und der Sergeant Martial dabei auch keine Miene verzogen, so konnte Germain Paterne dagegen gleich beim ersten Schluck eine Grimasse nicht unterdrücken, um die ihn die Affenwelt des[249] Orinoco beneidet hätte – was dem Indianer eine angenehme Genugthuung zu bereiten schien.


Am östlichen Horizonte zeigten sich die Umrisse eines Berges. (S. 250.)
Am östlichen Horizonte zeigten sich die Umrisse eines Berges. (S. 250.)

Die Gäste zogen sich gegen zehn Uhr zurück, und der Baré, dem einige seiner Feldarbeiter folgten, begleitete sie nach den Falcas, deren Mannschaften schon in tiefem Schlafe lagen.

Als sich die Gesellschaft eben trennen wollte, konnte der Indianer es nicht unterlassen, im Hinblick auf Jorres zu sagen:

»Und ich bleibe doch dabei, den Spanier in der Umgebung des Rancho schon früher einmal gesehen zu haben!

– Warum sollte er das aber nicht zugestehen? fragte Jean.

– Es wird sich nur um eine auffallende Aehnlichkeit handel, mein braver Indianer!« begnügte sich Jacques Helloch zu erwidern.

Quelle:
Jules Verne: Der stolze Orinoko. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXXIII–LXXIV, Wien, Pest, Leipzig 1899, S. 235-250.
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