Elftes Capitel.
Zwischen Engländern und Franzosen.

[151] Wenn jemals die feindselige Stimmung, die die Mannschaften des »Repton« und des »Saint Enoch« erfüllte, Gelegenheit hatte, zu Tage zu treten, so war es, wie jedermann zugeben wird, unter den jetzigen Umständen der Fall.

Daß der Walfisch zuerst von den Wachen auf dem »Saint Enoch« bemerkt worden war, und daß sich die Franzosen zuerst zu seiner Verfolgung aufgemacht hatten – das unterlag ja keinem Zweifel. Unstreitig waren die Boote des Obersteuermanns und der beiden Lieutenants schon vor drei Stunden klar gemacht worden, um den Culammak einzufangen. Wäre er gleich auf der Stelle erlegt worden, so hätte man ihn an Bord des damals noch gar nicht aufgetauchten englischen Schiffes überhaupt nicht bemerken können. Er war aber nach Nordosten zu und dahin ausgewichen, wo zwei Stunden später der »Repton« erscheinen sollte. Dann erst hatte der Kapitän King, obwohl die französischen Boote das Thier schon verfolgten, auch seine Boote aufs Meer setzen lassen.

Doch wenn auch beide Harpunen gleichzeitig geschleudert worden waren, hatte die des Engländers den Culammak nur am hinteren Theile des Körpers, am Anfange des Schwanzes, getroffen, während die Ducrest's, die linke Vorderflosse durchbohrend, bis ins Herz des Thieres eingedrungen war, infolge dessen der Walfisch sofort Blut auswarf.

Auch angenommen, daß es gerechter gewesen wäre, jedem Schiffe die Hälfte des Thieres zu überlassen, hätten sich beide zu diesem Fange beglückwünschen[151] können. Weder der »Repton« noch der »Saint Enoch« hatte in der letzten Fangzeit eine Balänoptere erbeutet, die sich mit dieser hier hätte messen können.

Selbstverständlich kam es bei den Franzosen ebenso wie bei den Engländern niemand in den Sinn, eine Theilung vorzuschlagen. Zweifellos hatte ja die eine Harpune eine solche Wunde hervorgebracht, daß der Tod infolge davon eintrat – es war das ein sehr glücklicher und ungemein seltener Wurf gewesen – die andere hatte das Thier aber ebenfalls getroffen.

Als nun die Leute Heurtaux' gerade Anstalt trafen, ein Schleppseil um den Schwanz der Beute zu schlingen, gingen die Matrosen Strok's daran, dasselbe zu thun.

In einem Kauderwälsch, das die Franzosen hinreichend verstanden, schrien die Engländer dazu:

»Fort mit den Booten vom »Saint Enoch«!«.. Abstoßen!«

Sogleich erwiderte aber der Lieutenant Allotte:

»Nein, schert Ihr euch weg!

– Dieser Walfisch gehört rechtmäßigerweise uns, erklärte der Obersteuermann des »Repton«.

– Nein... uns... er ist für uns eine gute Prise! erklärte dagegen Heurtaux.

– Anseilen!... Anseilen!« rief Strok, ein Befehl, der augenblicklich vom Steuermann des »Saint Enoch« wiederholt wurde.

Gleichzeitig legte sich das Boot des Lieutenants Allotte dicht an das gewaltige Thier und warf ein Seil darüber, was auch von den Matrosen des »Repton« geschah.

Und wenn die drei Boote der Engländer und die drei der Matrosen nun davon ruderten, so konnte das Thier offenbar weder nach dem »Saint Enoch« noch nach dem »Repton« gebracht werden, dagegen mußten durch den doppelten Zug in entgegengesetzten Sinne die Seile leicht zerrissen werden.

Nach verschiedenen gleichzeitigen Versuchen trat das denn auch ein.

Von der Nutzlosigkeit weiterer Anstrengungen überzeugt, verzichteten die Boote auch auf diese Versuche; sie fuhren vielmehr auf einander zu und lagen bald Bord an Bord.

Bei der Geistesverfassung, in der sie sich befanden, konnte man gewiß befürchten, daß die Mannschaften nun handgemein werden könnten. Es fehlte ja beiden Theilen nicht an Waffen, an Reserveharpunen, Lanzen, Beilen, ohne von[152] dem Taschenmesser zu reden, von dem sich ein Matrose doch kaum jemals trennt. Die Streitigkeit drohte also in einen Kampf auszuarten... dann ging es aber ohne Blutvergießen nicht ab, vorzüglich wenn die Schiffe jedes für seine Boote Partei nahmen.

Mit drohender Handbewegung und erregter Stimme wendete sich jetzt Strok, der Heurtaux' Muttersprache vollkommen beherrschte, an seinen Gegner mit den Worten:

»Wollen Sie zu bestreiten wagen, daß dieser Walfisch uns gehört? Lassen Sie sich gesagt sein, daß wir nie zugeben werden...

– Worauf gründen Sie denn Ihren Anspruch? unterbrach ihn Heurtaux, nachdem er den beiden Lieutenants ein Zeichen gegeben hatte, ihn allein sprechen zu lassen.

– Sie fragen, worauf der gegründet sei? antwortete der Obersteuermann vom »Repton«.

– Ja, das will ich wissen!

– Nun, darauf, daß der Walfisch nach unserer Seite kam und daß Sie ihn nicht hätten erreichen können, wenn ihm von uns nicht der Weg versperrt worden wäre.

– Und ich erkläre Ihnen, daß unsere Boote ihm schon länger als zwei Stunden nachgejagt waren.

– O, unsere Boote waren auch schon lange ausgesetzt...

– Doch erst nach den unserigen, Herr... entgegnete Heurtaux.

– Nein! rief Strok trotzig.

– Auf jeden Fall ist er zuerst an Bord des »Saint Enoch« gemeldet worden, denn Ihr Schiff war zu der Zeit noch gar nicht einmal in Sicht.

– Was verschlägt das, da Sie ihm nicht haben nahe genug kommen können, ihn zu harpunieren?

– Das sind leere Worte! erwiderte Heurtaux, der allmählich warm wurde. Kurz: ein Walfisch gehört noch nicht dem, der ihn sieht, sondern dem, der ihn erlegt.

– Vergessen Sie nicht, daß unsere Harpune vor der Ihrigen geworfen worden ist.

– Jawohl... jawohl! brüllten die Engländer ihre Waffen schwingend.

– Nein... nein!« widersprachen die Franzosen, die Leute vom »Repton« bedrohend.[153]

Jetzt hätte Heurtaux ihnen nicht mehr Schweigen gebieten können, vielleicht sollte er nicht einmal imstande sein, sie von einem Angriff abzuhalten.

Thatsächlich waren beide Parteien schon nahe daran, übereinander herzufallen.

In der Absicht, alles mögliche zu versuchen, sagte Heurtaux zum Obersteuermann des »Repton«:

»Angenommen, daß Ihre Harpune – was aber nicht zutrifft – zuerst geworfen worden wäre, so hat sie doch keine tödtliche Wunde erzeugen können, dagegen hat die unsere den Tod des Thieres herbeigeführt.

– Das ist leichter gesagt als bewiesen!

– Sie wollen also nicht weichen?

– Nein!« heulten die Engländer.

Jetzt flammte bei den Mannschaften der Zorn so heftig auf, daß nur noch eine Entscheidung durch die Gewalt übrig blieb.

Ein Umstand setzte die Matrosen vom »Repton« aber so sehr in Nachtheil, daß sie, wenn sie auch den Kampf begannen, doch nicht daran denken konnten, ihn fortzusetzen. Kam es zum Handgemenge, so hätten die Franzosen doch schließlich die Engländer in die Flucht gejagt.

Der in widrigem Winde liegende »Repton« hätte bei der ohnehin schwachen Brise kaum herankommen können. Er lag noch anderthalb Meilen entfernt, während der »Saint Enoch« kaum einige Kabellängen von den Booten schon beidrehte. Das war auch Strok nicht entgangen, und deshalb hütete er sich weislich, es auf einen Kampf ankommen zu lassen.

Als »praktische Leute« begriffen die Engländer, daß sie unter so ungünstigen Verhältnissen doch nicht Sieger bleiben könnten. Die ganze Mannschaft des »Saint Enoch« würde sie überwältigen, ehe der »Repton« ihnen zu Hilfe kommen könnte. Uebrigens hatte der Kapitän Bourcart schon sein viertes Boot aussetzen lassen, und damit war eine Verstärkung um zehn Mann im Anzuge.

Da gab Strok seinen Matrosen, die sich in einer Falle sahen, den Befehl:

»Zurück an Bord!«

Ehe er aber den Walfisch preisgab, setzte er noch mit einer Stimme, worin Wuth und Aerger sich mischten, hinzu:

»Wir werden uns wiedertreffen!

– Wann es Ihnen beliebt«, antwortete Heurtaux.

Seine Leute enthielten sich aber nicht zu rufen:[154]

»Senkt sie in den Grund, die English, versenkt die Kerle!«

Mit Hilfe ihrer Riemen fuhren die Boote Strok's auf den noch eine gute Meile entfernten »Repton« zu.

Nun blieb nur zu wissen, ob Strok leere Drohungen ausgestoßen habe oder ob sich die Angelegenheit nicht in sachlicher Weise zwischen den beiden Schiffen regeln werde.

Der Kapitän Bourcart, der im vierten Boote selbst mit Platz genommen hatte, kam eben heran.

Er wurde sofort von dem Vorgefallenen in Kenntniß gesetzt, und nachdem er von dem Verhalten Heurtaux' gehört hatte, begnügte er sich zu sagen:

»Wenn der »Repton« von dem »Saint Enoch« etwas wissen will, wird der ihm die Antwort nicht schuldig bleiben!... Inzwischen nehmt den Wal in's Schlepptau«.

Das entsprach so vollkommen der allgemeinen Stimmung, daß die Mannschaften laute Hurrahs riefen, die die Engländer noch hören mußten... Der »Repton« hatte ihr Schiff ja nicht salutiert... gut, nun salutierten sie jenen mit Scherzreden, die ebenso salzig waren wie das Wasser des Stillen Oceans.

Die Balänoptere wurde also fortgeschleppt; ihr Gewicht war aber so groß, daß sich die Matrosen aller vier Boote tüchtig ins Zeug legen mußten, sie nach dem »Saint Enoch« zu befördern.

Meister Ollive, der Zimmermann Ferut und der Schmied Thomas standen hier auf dem Vorderkastell. Nach Jean-Marie Cabidoulin's Schätzung sollte der Culammak zweihundert Faß Thran geben. Mit dem, was der »Sait Enoch« schon im Raume verstaut hatte, machte das eine halbe Ladung aus.

»Nun, Alterchen, was sagst Du dazu? fragte Meister Ollive, sich an den Böttcher wendend.

– Ich... ich sage, daß dieser Thran uns beim nächsten Sturme willkommen sein wird, die Wellen damit einigermaßen zu glätten, erwiderte Meister Cabidoulin.

– Ach, ich bitte Dich... uns wird kein Faß davon fehlen, wenn wir in Vancouver eintreffen... Die Flasche gilt doch noch immer?

– Selbstverständlich!«

Einer der Leichtmatrosen schlug eben halb acht Uhr Abend an. Es war also schon zu spät, den Wal erst zu wenden, und man begnügte sich deshalb, ihn an der Seite des Fahrzeuges festzulegen. Nächsten Morgen sollte die Mannschaft[155] frühzeitig mit der Abweidung und mit dem Schmelzen des Speckes beginnen, eine Arbeit, die bis zu ihrer Beendigung immerhin zwei volle Tage beanspruchen würde.

Im ganzen konnte man sich ja beglückwünschen. Die Ueberfahrt von Petropawlowsk nach Victoria ging doch damit aus, daß Bourcart wenigstens eine halbe Ladung mitbrachte. Das war mehr, als man unter den gegebenen Verhältnissen zu hoffen gewagt hatte. Da außerdem anzunehmen war, daß der Marktpreis in Victoria nicht heruntergegangen wäre, lieferte diese zweite Campagne noch einen recht befriedigenden Ertrag.

Uebrigens war dem »Saint Enoch« auch jede schlimme Begegnung erspart geblieben. Statt des Seeungeheuers, von dem die kamtschadalischen Fischer gefabelt hatten, hatte sich dieser prächtige Culammak fangen lassen!

Die Nacht sank herab, die Segel waren eingebunden und der Dreimaster hatte nun nur noch den Aufgang der Sonne abzuwarten.

Schon gegen Abend war der Wind kaum noch fühlbar gewesen und das Meer lag glatt und fast ruhig da. Die leichte Dünung war so gering, daß man wegen der Seile, die den Walfisch hielten, außer Besorgniß sein konnte, während es ein arger Verdruß und ein großer Verlust gewesen wäre, wenn die gute Beute in der Nacht vielleicht verloren ging.

Daneben waren übrigens einige Vorsichtsmaßregeln nicht zu versäumen, wenigstens in Bezug auf strenge Wachsamkeit. Niemand konnte ja wissen, ob der Kapitän King die Drohungen seines Obersteuermannes nicht wahrmachen und den Versuch wagen sollte, unter einem Angriff auf den »Saint Enoch« den Culammak zu rauben.

»Sollte ein so ungerechtfertigter Angriff wirklich zu befürchten sein? fragte der Doctor Filhiol.

– Meiner Treu, antwortete der Lieutenant Coquebert, bei Engländern weiß man niemals, woran man ist...

– Und gewiß ist, setzte Heurtaux hinzu, daß sie sich sehr wüthend zurückgezogen haben.

– Das begreif' ich, rief der Lieutenant Allotte, ein so fetter Bissen, der ihnen vom Munde weg entrissen wurde!

– Ja, meinte Heurtaux, mich sollte es gar nicht wundern, wenn sie kämen.

– Sie mögen nur kommen! erklärte der Kapitän Bourcart. Wir werden zu einem warmen Empfange schon bereit sein!«[156]

Der Kapitän konnte wohl eine so zuversichtliche Sprache führen, da er seiner Mannschaft sicher war. Es wäre ja auch nicht das erste Mal gewesen, daß zwischen Walfängern Streitigkeiten wegen eines von zwei Parteien beanspruchten Walfisches entstanden wären... Streitigkeiten, die oft genug zu den bedauerlichsten Gewaltacten geführt hatten.

Auf dem »Saint Enoch« wurde also ein besonders verschärfter Wachdienst angeordnet, und die betreffenden Mannschaften hielten die Augen gut genug offen. Konnte der »Repton« wegen Mangels an Wind auch kaum an den »Saint Enoch« herankommen, so war doch nicht ausgeschlossen, daß er alle seine Boote aussendete, und darum kam es darauf an, sich in der Nacht nicht überraschen zu lassen.

Die Sicherheit des französischen Schiffes wurde übrigens noch dadurch erhöht, daß sich gegen zehn Uhr ein dichter Nebel auf die See lagerte, so daß es sehr schwierig gewesen wäre, die Stelle zu finden, wo sich der »Saint Enoch« befand.

Die Stunden vergingen ohne jede Beunruhigung. Als die Sonne aufstieg, hätte der Nebel, der sich noch nicht zerstreute, den »Repton« selbst in der geringen Entfernung einer halben Meile nicht entdecken lassen. Vielleicht hatten die Engländer auf die Ausführung ihrer Drohungen doch nicht verzichtet und versuchten einen Angriff, wenn der Nebel mehr aufgestiegen war. Der Wind wäre ihnen jedoch auch dann nicht zu Hilfe gekommen. Noch immer rührte sich kein Lüftchen und im Zustand der Atmosphäre trat überhaupt keine Aenderung ein. Die Mannschaft des »Saint Enoch« konnte ihre Arbeit ungestört aufnehmen.

Bei Tagesanbruch – am 21. October – hatte Bourcart mit der Abweidung des Wales beginnen lassen, die Arbeit aber möglichst zu beschleunigen anbefohlen. Deshalb wurden gleich zwei Winden aufgestellt und die Mannschaften daran lösten einander immer nach kurzer Zeit ab.

Schon vorher hatten der Meister Ollive und einige Matrosen eine Kette so um den Wal gelegt, daß dieser leicht um sich selbst gedreht werden konnte. Zuerst wurde jedoch der Kopf des Thieres abgetrennt, doch machte es große Mühe, diesen auf das Deck zu hissen. Dann ging man daran, die Lippen davon abzuschneiden und die Zunge, sowie die Barten herauszuholen, was dadurch erleichtert war, daß man den Kopf in vier Theile zerlegt hatte.

Dank dem in Petropawlowsk eingenommenen Vorrathe an Holz, konnte der Schmelzofen geheizt werden und der Koch unterhielt das Feuer unter den Schmelztöpfen.[157] Zuerst wurde nun hier das Fett aus dem Kopfe, den Lippen und der Zunge ausgelassen, das die vorzüglichste Sorte Thran liefert. Dann begann man die Abschälung des Rumpfes in sieben bis acht Faden langen Streifen, die zu solchen von zwei Fuß Länge zerschnitten wurden, um in den Ofen eingelegt werden zu können.

Der ganze Morgen und ein Theil des Nachmittags wurde dieser Arbeit gewidmet.

Erst gegen drei Uhr hatte sich der Nebel ein wenig gelichtet. Der mehr in Bläschenform übergegangene Dunst gestattete vom »Saint Enoch« aus jedoch immer nur einen Rundblick auf eine halbe Meile.

Vom »Repton« war nichts zu bemerken. Bei dem Mangel an Wind hätte er sich zwar nicht unter Segel, doch – wenn das auch große Anstrengung kosten mußte – von seinen Booten bugsiert nähern können.

Bourcart ließ in seiner Wachsamkeit indessen nicht nach und schickte sogar das Boot des Lieutenants Allotte ab, um im Nordosten Umschau zu halten. Das kam aber zurück, ohne etwas melden zu können, obwohl es in der bezeichneten Richtung eine halbe Meile weit hinausgefahren war.

Die Mannschaft hätte es vielleicht gar nicht ungern gesehen, sich mit den Engländern zu messen. Das liegt einmal den Franzosen – und eigentlich den Seeleuten aller Nationen – so im Blute. Die Franzosen denken noch immer an eine Revanche für Waterloo. Diesmal würde die Kanone vom Mont Saint-Jean den Mund freilich nicht aufthun und Wellington würde zum Rückzug aufs hohe Meer blasen lassen müssen.

Die Arbeit auf dem Schiffe schritt unter den günstigsten Umständen fort. Bourcart rechnete darauf, daß die Hälfte des Speckes noch an diesem Tage zum Ausschmelzen käme. Er hegte also die Hoffnung, wenn etwas Wind aufspränge, am übernächsten Tage mit zweihundert Faß Thran mehr im Frachtraum absegeln zu können.

Gegen vier Uhr kam es jedoch noch zu einer Art Alarm.

Der im kleinen Canot sitzende Schmied Thomas war gerade beschäftigt, eine leichte Beschädigung am Beschlag des Steuerruders auszubessern, als er ein schwaches Klatschen von Wellen westlich vom Schiffe zu hören glaubte.

Das schien ihm von dem Einschlagen von Riemen ins Wasser herzurühren und deutete auf eine Annäherung der Boote des »Repton«, wonach die Engländer also die Lage des »Saint Enoch« ausgespürt haben müßten.[158]

Der Schmied begab sich eiligst wieder aufs Deck, um Bourcart seine Beobachtung zu melden. Jetzt konnte ja die Stunde gekommen sein, wo die Gewehre von dem Rechen in der Cajüte geholt werden und die Mannschaften sich zu einer Abwehr rüsten mußten.

Die Arbeit wurde unterbrochen und den mit dem Abhäuten beschäftigten Matrosen der Befehl ertheilt, aufs Deck zurückzukehren.

Sehen konnte man inmitten der hin und her wallenden Dunstmassen freilich nichts und mußte sich also gänzlich aufs Gehör verlassen. An Bord herrschte tiefe Stille. Selbst das im Schmelzofen knisternde Feuer war gelöscht worden. Das geringste Geräusch von der See her wäre unbedingt vernehmbar gewesen. Einige Minuten vergingen. Kein Boot erschien, und vom Kapitän King wäre es überhaupt eine Tollkühnheit gewesen, den »Saint Enoch« unter den vorliegenden Umständen anzugreifen. Obgleich der Nebel, wenn er den Engländern hinderlich war, es ihnen vielleicht ermöglichte, sich unbemerkt ziemlich nahe heranzuschleichen, mußten diese sich doch sagen, daß Bourcart auf seiner Hut sein werde. Meister Ollive wiederholte freilich immer:

»O, von Seite der Engländer würde ich mich über gar nichts wundern!«

Bald ergab sich aber doch, daß es sich nur um einen falschen Alarm gehandelt hatte. Das Wellenplätschern konnte nur von einem vereinzelten Lufthauch hergerührt haben, wie sich ein solcher bei Nebel manchmal erhebt, ohne diesen doch zerstreuen zu können. Man bemerkte auch wirklich, daß sich ein Brise erheben zu wollen schien, denn es wehte schon mit Unterbrechungen und bisher noch aus wechselnder Richtung. Frischte der Wind jedoch nicht weiter auf, so blieb der Himmel jedenfalls noch bis zum nächsten Sonnenaufgang verhüllt. Auf derartige Windstillen, die zu jetziger Jahreszeit im Norden des Stillen Oceans übrigens nur selten vorkommen, folgte mit Wahrscheinlichkeit recht grobes Wetter. Es lag also die Befürchtung nahe, daß die Fahrt fernerhin nicht so günstig verlaufen werde, wie seit der Abreise aus Petropawlowsk. Da der Dreimaster aber schon so manche Stürme vortrefflich und ohne jede ernstere Havarie überstanden hatte, wäre Jean-Marie Cabidoulin besser berathen gewesen, wenn er den »Saint Enoch« aus Havre, Kapitän Evariste Simon Bourcart, mit seinen gruseligen Schwarzsehereien verschont hätte.

Das Schiff konnte ja ebensogut noch einmal dasselbe Glück haben, wie bei der ersten Campagne, und noch auf weitere Walfische treffen, so daß es seine Ladung vervollständigen konnte, ehe es in Vancouver vor Anker ging.[159]

Die Stunden des Nachmittags verrannen. Wahrscheinlich herrschte in der kommenden Nacht dieselbe Finsterniß wie in der vorhergegangenen. Immerhin wurden alle Vorsichtsmaßregeln noch beibehalten und die Boote nach der Rückkehr des Lieutenants Allotte aufs Deck gehißt.

Für die noch zu bewältigende Arbeit war es für den »Saint Enoch« erwünschter, noch vierundzwanzig Stunden völlig ruhig zu liegen, wenn ihn dann nur ein günstiger Wind der Küste Amerikas zutrieb.

Plötzlich, es war kurz vor fünf Uhr, zerriß die Luft ein schrilles, heftiges Pfeifen. Gleichzeitig wurde das Meer bis in große Tiefen furchtbar aufgewühlt. Seine Oberfläche kochte und bedeckte sich mit weißem Schaum. Der auf den Rücken einer ungeheueren Woge hinaufgeworfene »Saint Enoch« stampfte und schlingerte auf einmal ganz entsetzlich. Die an den Geitauen hängenden Segel klatschten geräuschvoll gegen das Takelwerk an und die Mannschaft fürchtete schon, daß die Maste über Bord gehen könnten.

Zum Glück wurde der fest an die Schiffswand gekettete Wal dabei doch nicht weggerissen, obwohl das Schiff sich sehr tief zur Seite neigte.

»Was ist denn los?« rief Bourcart, der aus seiner Cabine gesprungen kam.

Sofort begab er sich nach dem erhöhten Hinterdeck, wo sich auch der Obersteuermann und die beiden Lieutenants zu ihm gesellten.

»Das muß eine Hochfluthwelle sein, meinte Heurtaux, ich hab' es noch gesehen, wie der »Saint Enoch« davon gepackt wurde.

– Ja, ja, eine Hochfluthwelle, sagte auch Meister Ollive, denn schon jetzt ist nicht mehr genug Wind, meinen Hut zu füllen.

– Da hier aber doch eine stürmische Bö nachfolgen könnte, fuhr der Kapitän Bourcart fort, lassen Sie alle Segel fest einbinden, Heurtaux. Man darf sich in keinem Falle überraschen lassen!«

Das war nicht nur eine kluge und zweckmäßige, sondern auch eine dringende Maßregel. Schon nach wenigen Minuten nahm die Windstärke so bedeutend zu, daß der Nebel theilweise nach Süden hin vertrieben wurde.

»Schiff hinter Backbord!«

Der Ruf, den ein auf den Wanten des Fockmastes stehender Matrose ausgestoßen hatte, wendete alle Blicke der bezeichneten Richtung zu.

War das dort auftauchende Schiff etwa der »Repton«?

Ja, man erkannte bald das englische Fahrzeug etwa in einer Entfernung von drei Meilen.[160]

»Immer noch an seiner alten Stelle, bemerkte der Lieutenant Coquebert.

– Wie wir an der unseren, antwortete Bourcart.

– Es sieht aus, als wolle es Segel beisetzen, äußerte der Lieutenant Allotte.

– Ohne Zweifel... es rüstet sich zur Abfahrt, meinte Heurtaux.

– Sollte es uns etwa angreifen wollen? fragte der Doctor Filhiol.

– Dem wäre jede Tollheit zuzutrauen! rief Meister Ollive.


Das Meer fing an zu sieden und bedeckte sich mit weißem Schaum. (S. 164.)
Das Meer fing an zu sieden und bedeckte sich mit weißem Schaum. (S. 164.)

– Nun, das wird sich ja zeigen,« begnügte sich der Kapitän zu antworten. Dabei nahm er das Fernrohr auf und richtete es nach dem englischen Walfänger.

Alles ließ erkennen, daß sich der Kapitän King die Brise zu nutze machen wollte, die jetzt aus Osten wehte und ihm ermöglichen mußte, sich dem »Saint Enoch« zu nähern. Man sah die Mannschaft schon an den Raaen beschäftigt. Bald waren Mars- und Focksegel und die Brigantine mit Steuerbordhalsen gehißt, und dann wurde das große und das kleine Klüversegel entfaltet, was das Abkommen des »Repton« erleichterte.

Jetzt entstand die Frage, ob er, dicht am Wind segelnd, seine Fahrt nach Osten fortsetzen werde, um vielleicht einen Hafen des britischen Columbia anzulaufen.

Doch nein, das schien der Kapitän King nicht zu beabsichtigen. Es unterlag bald keinem Zweifel mehr, daß er, statt nach Osten zu steuern, dem »Saint Enoch« den Weg abzuschneiden vorhatte.

»Aha, er will uns zu Leibe gehen! rief Romain Allotte. Er wird seinen Antheil vom Walfisch fordern wollen!.. Wartet nur, kein Schwanzendchen soll er davon bekommen!«

Was der Lieutenant aussprach, das wiederholte die Mannschaft. Griff der »Repton« wirklich den »Saint Enoch« an, so würde er finden, mit wem er es zu thun hätte. Die passende Antwort sollte ihm – doch nur mit Gewehren, Pistolen und Aexten – nicht vorenthalten werden.

Es war jetzt einige Minuten nach sechs Uhr. Die Sonne sank, ein wenig im Südwesten, rasch zum Horizonte hinab. Das Meer war nach der Seite, von der aus der Wind kam, von Dünsten frei. Man verfolgte gespannt jede Bewegung des »Repton«, der mit mittlerer Geschwindigkeit näher kam. Nach kaum einer halben Stunde mußte er bei Einhaltung des bisherigen Curses mit dem »Saint Enoch« Bord an Bord liegen.[163]

Da ein Angriff immerhin nicht ausgeschlossen schien, erging der Befehl, die Waffen zurecht zu machen. Die beiden Drehbassen, die die Walfänger allgemein mitführen, wurden geladen. Wenn der Kapitän King einige fünf- oder sechspfündige Kugeln herüberschickte, so wollte ihm der Kapitän mit ebenso vielen und ebenso schweren darauf Antwort geben.

Nur noch dreiviertel Meile war der »Repton« entfernt, als sich der Zustand des Meeres plötzlich änderte, ohne daß in der Bewegung der Luft ein Wechsel eingetreten wäre. Der Wind war nicht stärker geworden, der Himmel hatte sich nicht bedeckt. Keine drohende Wolke erhob sich am Horizont; in den höheren und niedrigeren Schichten der Luft herrschte fast völlige Ruhe.

Die eben aufgetretene außerordentliche Erscheinung blieb offenbar auf diesen Theil des Oceans beschränkt.

Plötzlich und unter furchtbarem Getöse, dessen Natur und Ursache an Bord des »Saint Enoch« niemand zu durchschauen vermochte, fing das Meer an zu sieden, bedeckte sich mit weißem Schaum und wallte auf, als ob ein unterseeischer Vulcanausbruch seine tiefsten Abgründe aufgewühlt hätte. Die schlimmste Bewegung erfolgte da, wo der englische Walfänger lag, während das französische Schiff nur sozusagen die Ausläufer der unerklärlichen Empörung des Wassers verspürte.

Der Kapitän Bourcart und die Seinen beobachteten überrascht den auf und ab geschleuderten »Repton«, doch was sie erst nur verwundert hatte, wuchs bald zu vollem Entsetzen an.

Der »Repton« wurde erst auf den Kamm einer ungeheueren Woge getragen und verschwand dann völlig hinter dieser. Aus der Woge schossen noch riesige Wasserstrahlen empor, als kämen sie aus den Spritzlöchern eines übermäßig großen Ungeheuers, dessen Kopf zum Theil unter dem Schiffe gewesen wäre und dessen Schwanz das Meer eine halbe Kabellänge, fast hundert Meter, im Umkreise aufwirbelte.

Als das Schiff wieder sichtbar wurde, war es in großem Umfange zerstört, seine Masten waren niedergebrochen, sein Takelwerk zerrissen und über die nach Backbord tief geneigte Schanzkleidung wälzte sich ein gurgelnder Wasserschwall hinweg.

Eine Minute später und nachdem es noch einmal emporgeschleudert und niedergestürzt war, versank es in die Tiefe des Stillen Oceans.

Der Kapitän Bourcart, seine Officiere und seine Mannschaften stießen einen Schreckensruf aus und waren halb gelähmt angesichts dieses unerklärlichen und entsetzlichen Unfalls.[164]

Vielleicht waren aber nicht alle Insassen des »Repton« mit untergegangen, vielleicht hatten einige in den Booten rechtzeitig entfliehen können, um nicht von dem wirbelnden Schlunde beim Versinken des Schiffes verschlungen zu werden. Vielleicht konnte man noch mehrere dieser Unglücklichen retten, ehe die Nacht sich über das Meer ausgebreitet hatte.

Einer solchen Katastrophe gegenüber mußte jede Feindseligkeit verstummen; hier galt es eine Menschenpflicht zu erfüllen, und das sollte im vollen Umfange geschehen.

»Die Boote schnell aufs Wasser!« rief der Kapitän Bourcart.

Erst vor zwei Minuten war der »Repton« gesunken, und jetzt durfte man wohl noch hoffen, die Ueberlebenden von dem Schiffbruche zu retten.

Plötzlich, und noch bevor die Boote niedergelassen waren, erfolgte ein, wenn auch nicht sehr starker Stoß. Am Hintertheile um sieben bis acht Zoll gehoben, neigte sich der »Saint Enoch« nach Steuerbord auf die Seite und blieb dann, als ob er auf eine Klippe aufgefahren wäre, unbeweglich liegen.

Quelle:
Jules Verne: Die Historien von Jean-Marie Cabidoulin. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXXX, Wien, Pest, Leipzig 1902, S. 151-161,163-165.
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