Fünfzehntes Capitel.
Ende.

[206] Nach welchem Theile des arktischen Meeres mochte der »Saint Enoch« nun seit dem Augenblicke verschlagen worden sein, wo er – ungefähr vor vierundzwanzig Stunden – von der Klippe weggerissen wurde?

Als der Nebel aufstieg, hatte Bourcart beobachtet, daß sein Schiff nach Nordnordwesten trieb. War es seit dem Passieren der Behringstraße aus dieser Richtung nicht abgedrängt worden, so konnten er und seine Gefährten wohl noch auf festes Land, entweder an die sibirische Küste oder nach einer Insel in deren Nähe gelangen. Eine Rückkehr mußte von dort aus weniger mühselig und gefahrvoll sein, als durch das Gebiet des amerikanischen Alaska.

Die Nacht war herangekommen... eine dunkle, eisige Nacht mit einer Temperatur von zehn Grad unter Null.[206]

Bei dem sehr heftigen Anprall waren auch noch die Untermasten gebrochen und der Rumpf des Schiffes aufgesprengt worden.

Es war ein wirkliches Wunder zu nennen, daß dabei – von einigen Quetschungen abgesehen – eigentlich niemand wesentlich verletzt wurde. Die gegen die Bordwand geschleuderten Mannschaften konnten bald auf dem Eisfelde festen Fuß fassen, wohin ihnen Bourcart und seine Officiere schleunigst nachfolgten.

Jetzt galt es nun, den Tag abzuwarten. Statt die langen Stunden aber unter freiem Himmel hinzubringen, erschien es doch rathsamer, einstweilen an Bord zurückzukehren. Der Kapitän gab auch einen bezüglichen Befehl. Wenn es nicht möglich war, die fast ganz zerstörte Cajüte oder das Volkslogis zu heizen, fanden die Mannschaften hier doch wenigstens Schutz gegen den rasenden Schneesturm.

Bei Tagesanbruch wollte Bourcart dann sehen, was weiter zu thun wäre.

Der »Saint Enoch« stand zwar, durch Eisblöcke gestützt, ziemlich gerade aufrecht, hatte aber Beschädigungen erlitten, die jede Ausbesserung ausschlossen. Der Rumpf war unter der Schwimmlinie an mehreren Stellen eingestoßen, die Deckplanken zersprengt oder verschoben und die inneren Wände ebenso von ihrem Platze weggerückt. Die Officiere konnten indeß noch nothdürftig in der Cajüte, die Mannschaften im Frachtraume oder im Volkslogis Unterkommen finden.

Das war also der Ausgang eines unerhörten Abenteuers, soweit dieses der gewaltigen Bewegung des Meeresbodens zwischen dem fünfzigsten und dem siebzigsten Breitengrade zuzuschreiben war.

Was sollte nun aus den Schiffbrüchigen des »Saint Enoch« und des »Repton« werden?

Bourcart und der Obersteuermann hatten unter den Trümmern der Cajüte ihre Seekarten noch wiedergefunden. Beim Scheine einer Laterne suchten sie die augenblickliche Ortslage des »Saint Enoch« zu bestimmen.

»Vom Abend des zweiundzwanzigsten October an bis zum Abend des dreiundzwanzigsten, begann Bourcart, hat uns die Woge dem Nordwesten des Polarmeeres zugetragen...

– Und mit einer Geschwindigkeit, die mindestens auf vierzig Lieues in der Stunde zu schätzen ist, fuhr Heurtaux fort.

– Es würde mich auch gar nicht wunder nehmen, erklärte der Kapitän, wenn wir dabei in die Gewässer des Wrangellandes getrieben worden wären.«[207]

Irrte sich Bourcart hierin nicht und reichte das Eis bis zum nächsten Theile der sibirischen Küste, so war nur die Longstraße zu überschreiten, um nach dem Lande der Tschuktschen zu kommen, dessen äußersten Ausläufer im Eismeere das (asiatische) Nordcap bildet. Vielleicht war es jedoch beklagenswerth, daß der »Saint Enoch« nicht etwas weiter westlich, nach dem Archipel von Neusibirien verschlagen worden war.

Von der Lenamündung aus wäre die Heimkehr unter günstigeren Verhältnissen möglich gewesen, denn in dem vom Polarkreise durchschnittenen Gebiete der Jakuten fehlt es nicht an Dörfern und Flecken.

Alles in allem schien die Lage der Dinge keine verzweifelte zu sein, offenbar winkte den Schiffbrüchigen noch einige Aussicht auf Rettung, wenn diese auch mit den größten Anstrengungen und Entbehrungen, mit Mangel und Elend verbunden war. Zu Fuß hunderte von Meilen über das Eisfeld, ohne jeden Schutz, der Unbill der Winterwitterung des hohen Nordens ausgesetzt... das war nicht gerade verlockend. Ueberdies mußte die Longstraße in ihrer ganzen Breite fest zugefroren sein, um die Küste Sibiriens erreichen zu können.

»Das schlimmste Unglück, äußerte Heurtaux, ist doch, daß die Havarien des »Saint Enoch« nicht auszubessern sind! Es wäre vielleicht möglich gewesen, einen Canal durch das Eisfeld zu brechen, und dann hätten wir auf dem Wasser weiter gelangen können...

– Und dazu, bemerkte Bourcart wie abwehrend, hätten wir nicht einmal ein einziges Boot zur Verfügung gehabt. Wollten wir solche und so viele, daß sie über fünfzig Mann aufnehmen könnten, erst aus den Trümmern des »Saint Enoch« erbauen, so würden unsere Lebensmittel wohl noch vor deren Vollendung verbraucht sein.«

Endlich wurde es wieder hell, die bleiche, fast licht- und wärmelose Scheibe der Sonne stieg aber nur wenig über den Horizont hinaus.

Das Eisfeld erstreckte sich über Sehweite hinaus nach Osten wie nach Westen. Im Süden lag die von Schollen wimmelnde Longstraße; noch hatte der Frost keine ununterbrochene Eisdecke bis zur sibirischen Küste zusammengelöthet. Ehe diese Gegenden aber nicht in ihrer ganzen Ausdehnung fest gefroren waren, konnten Bourcart und seine Gefährten sie nicht durchmessen, um nach dem Festlande zu gelangen.

Alle verließen wieder das Schiff und der Kapitän ordnete eine eingehende Untersuchung des »Saint Enoch« an.[208]

Dabei durfte man sich keiner Illusion hingeben. Nach ihrer Untersuchung berichteten der Zimmermann Ferut und der Schmied Thomas, daß die Bordwand eingedrückt, die Rippen zum Theil zerbrochen, viele Planken abgerissen, der Kiel zum Theil abgesprengt, das Steuer zerstört und der Hintersteven geborsten war... lauter Beschädigungen, an deren Ausbesserung man gar nicht denken konnte. Da blieben nun bloß zwei Auswege übrig:

Entweder brach man noch an demselben Tage auf und führte die noch übrigen Lebensmittel mit sich, um westwärts nach einer Gegend zu wandern,[209] wo das Meer unter der Einwirkung der Polarströmung schon eine feste Eisdecke hatte; oder: man schlug am Rande des Packeises ein Lager auf und wartete, bis die Longstraße so weit zugefroren war, daß sie auch von Fußgängern überschritten werden konnte.


Eine Fahrt auf dem Packeis. (S. 212.)
Eine Fahrt auf dem Packeis. (S. 212.)

Die beiden Projecte hatten manches für und manches wider sich. Jedenfalls blieb es ausgeschlossen, hier zu überwintern und die wärmere Jahreszeit abzuwarten. Selbst wenn es gelang, im unteren Theile des Packeises eine Höhlung herzustellen, wie das einige Walfänger wirklich schon gethan haben, wovon hätte man sich sieben bis acht Monate lang ernähren sollen? Hierbei ist nicht zu vergessen, daß es sich um mehr als fünfzig Menschen handelte, die etwa noch für vierzehn Tage Lebensmittel besaßen und damit bei äußerster Beschränkung höchstens drei Wochen ausreichen konnten. Auf die Jagd oder den Fischfang zu rechnen, das wäre zu unsicher gewesen. Einigermaßen wärmen konnten sich die Unglücklichen auch nur durch die Verbrennung der Trümmer vom »Saint Enoch«; wenn diese aber zu Ende gingen, was dann?...

Davon, daß ein Schiff so nahe an das Eis herankäme, konnte auch keine Rede sein, denn sicherlich dauerte es acht volle Monate, bis diese Gegenden wieder befahrbar wurden.

Der Kapitän Bourcart beschloß also aufzubrechen, sobald einige Schlitten hergestellt wären, die freilich wegen Mangels an Hunden von den Leuten selbst gezogen werden mußten.

Hier sei auch eingefügt, daß dieser Plan ebenso von der Mannschaft des »Saint Enoch«, wie ohne jeden Widerspruch von der des »Repton« gebilligt wurde.

Vielleicht wären die Engländer lieber unter sich allein fortgezogen. Aus Mangel an Nahrungsmitteln war das jedoch unmöglich, und unter den gegebenen Umständen hätte sich der Kapitän Bourcart niemals herbeigelassen, ihnen einen Theil seiner Vorräthe abzutreten.

Uebrigens stand es noch gar nicht fest, daß die Schiffbrüchigen über den Ort, wo sie sich auf dem Eisfelde befanden, genau unterrichtet waren. Sie wußten doch nicht bestimmt, ob sie hier in der Nachbarschaft des Wrangellandes waren. Der Doctor Filhiol richtete an den Kapitän auch eine bezügliche Frage.

»Ja, antwortete dieser, ganz zuverlässig kann ich das nicht sagen. Mit meinen Instrumenten hätte ich, wenn diese nicht zerstört wären, wohl darüber Klarheit gewinnen können. Immerhin glaub' ich, daß das Eisfeld hier nicht allzuweit[210] vom Wrangellande liegt, wenn es sich nicht infolge einer Strömung nach Osten oder Westen hin verschiebt.«

Das war jedenfalls möglich. Wie konnte man aber ohne einen Merkpunkt erkennen, ob das Eisfeld unbeweglich still liege oder ob es sich mit dem Packeise zugleich fortbewegte?

Durch diese Gegenden laufen nämlich zwei mächtige Strömungen. Die eine kommt von Nordwesten und fließt um das Cap Orient der tschuktschischen Halbinsel, die andere von Norden her, und diese vereinigt sich mit der ersten, wonach beide längs der Küste von Alaska nach der Barrowspitze zu verlaufen.

Doch wie es sich auch verhalten mochte, der Aufbruch war eine beschlossene Sache. Auf die Anordnung des Kapitäns hin, machten sich der Meister Cabidoulin, der Zimmermann und der Schmied sofort an die Arbeit. Aus den vom »Saint Enoch« entnommenen Planken und Spieren sollten drei Schlitten hergestellt, der Schiffsrumpf aber vorläufig noch als Unterkommen benutzt werden. Brennmaterial, das man so viel wie möglich herbeischaffte, lieferten die Untermasten und Raaen mehr als genug.

Wenn keine Zeit vergeudet würde, sollte die Arbeit binnen drei Tagen vollendet sein. Die Engländer boten sich zur Hilfe an, und Bourcart rechnete darauf, diese unterwegs auch in Anspruch zu nehmen, wo alle Arme doch kaum ausreichten, die schweren Schlitten während einer so langen Wanderung fortzuschleppen.

Wiederholt bestiegen die beiden Kapitäne, die Lieutenants und der Doctor Filhiol die Packeiswand, deren Abhänge ziemlich gut gangbar waren. Von hier, von dreihundert Fuß Höhe aus, dehnte sich der Sehkreis bis auf fünfzig Kilometer hin aus, doch selbst mit den Fernrohren war auch da kein Land zu entdecken.

Im Süden lag das Meer mit treibenden Eisschollen, dort war das Eisfeld also unterbrochen. Man konnte auch voraussetzen, daß noch einige Wochen vergehen würden, ehe die Longstraße ihrer ganzen Ausdehnung nach zugefroren wäre... wenn... ja, wenn es überhaupt die Longstraße war, die man in der betreffenden Richtung vor sich zu haben glaubte.

In den drei folgenden Tagen wurde das Lager von Eisbären nicht belästigt. Zwei oder drei dieser bekanntlich oft recht gefährlichen Thiere hatten sich zwar auf Eisschollen gezeigt, zogen sich aber zurück, ehe sie verfolgt werden konnten.[211]

Am Abend des 26. October war man mit der Herstellung der Schlitten endlich fertig, und sofort wurden sie mit Conservenkisten, mit Fleisch, Gemüsen, Schiffszwieback, einem großen Vorrath von Holz, sowie mit mehreren Packen zusammengerollter Segel beladen, die zur Herrichtung von Zelten dienen sollten, wenn Schneestürme das weitere Vorwärtskommen verhinderten.

Noch eine letzte Nacht des Schlafes im Volkslogis und in den Cabinen, noch eine letzte Mahlzeit an Bord, dann zogen Bourcart mit seinen Begleitern und der Kapitän King mit seinen Leuten von der Unfallstelle fort.

Natürlich fühlten sich bei dem Aufbruche alle tief erregt und schmerzlich beklommen. Auf das Wrack, das der »Saint Enoch« gewesen war, blieben alle Augen gerichtet, bis es unter der Packeismauer verschwand.

Da sagte der immer vertrauensselige Meister Ollive guten Muthes zu dem Tonnenbinder:

»Na, siehst du, Alterchen, wir ziehen uns doch noch aus der Schlinge! Wir werden den Molo von Havre schon wiedersehen!«

– Wir?... Vielleicht... der »Saint Enoch« aber nicht!« begnügte sich Jean-Marie Cabidoulin zu antworten.

Ueber die Einzelheiten der Fahrt über das weite, todtenstille Eisfeld ist nichts besonderes zu berichten. Die größte Gefahr dabei war nur die, daß Lebensmittel und Brennmaterial zu Ende gehen könnten, wenn die beschwerliche Reise sich über Erwarten verlängerte.

In geregelter Ordnung zog die kleine Karawane dahin. Die beiden Lieutenants marschierten an der Spitze. Manchmal entfernten sie sich um ein bis zwei Meilen, um den Weg zu erspähen, wenn Eisblöcke die Fernsicht verhinderten. Dann mußte man zuweilen recht große Eisblöcke umwandern, was die zurückzulegende Wegstrecke natürlich nicht wenig vergrößerte.

Die Lufttemperatur schwankte immer zwischen zwanzig und dreißig Grad unter Null, das ist auch zu Anfang des Winters die gewöhnliche Mitteltemparatur in dieser Breite. So folgte der eine Tag dem anderen; immer unverändert glänzte im Süden des Eisfeldes die noch offene Meeresfläche, auf der nur Eisschollen dahintrieben. Bourcart bemerkte übrigens, daß diese durch eine scharfe Strömung in der Richtung nach Westen, nach der Longstraße zu getragen wurden, deren westlichen Eingang die Schlitten schon hätten passieren können. Im Süden dagegen lag wahrscheinlich der breite Meeresarm, der bis an die Liakhovinseln und an den Archipel von Neusibirien reichte.[212]

Wenn von den möglichen Fährnissen der nächsten Zukunft die Rede war, äußerte der Kapitän Bourcart seinen Officieren gegenüber auch die Besorgniß, daß sie sich gezwungen sehen könnten, bis zu den genannten Inseln hin zu ziehen, die doch vom Festlande Asiens noch mehrere hundert Seemeilen trennten. Die Karawane vermochte aber an einem Tage kaum zwölf Meilen zurückzulegen, und zwölf Stunden mußten täglich unbedingt der Ruhe gewidmet werden. Da ferner die Octobertage in dieser hohen Breite schon sehr kurz waren und die Sonne nur noch einen stark beschränkten Bogen am Himmel beschrieb, verlief die an sich äußerst beschwerliche Wanderung obendrein wenigstens theilweise im Halbdunkel.

Die muthigen Leute ließen trotzdem keine Klage hören. Auch den Engländern, die sich am Ziehen der Schlitten betheiligten, war kein Vorwurf zu machen. Sobald Bourcart das Haltesignal gab, wurden mittels der über Spieren gespannten Segel Zelte aufgeschlagen, die nöthige Nahrung vertheilt und der Ofen angefeuert, auf dem man sich ein warmes Getränk, Grog oder Kaffee, bereitete, und dann legten sich alle nieder und schliefen ruhig bis zum Wiederausbruch des kleinen Zuges.

Doch was hatten dessen Theilnehmer alles auszustehen, wenn der Sturm mit unerhörter Gewalt wüthete, wenn ein Schneetreiben über das Eisfeld hinjagte, und wenn der Marsch unter einem dichten, die Augen blendenden, weißen Staub gar gegen den schneidend kalten Wind ging! Dann konnte einer den anderen kaum noch auf einige Meter weit erkennen. Die einzuhaltende Richtung mußte in solchen Fällen mittels des Compasses festgestellt werden, dessen abgelenkte Nadel auch nur sehr unzuverlässige Auskunft gab. Bourcart nahm schon an – er vertraute das aber nur Heurtaux an – daß sie sich in der grenzenlosen Einöde verirrt hätten. Er sah sich daher, statt geraden Weges nach Süden vorzudringen, genöthigt, am Rande des Eisfeldes hinzuziehen, woran sich oft die Meereswellen donnernd brachen... Wenn sich das Meer hier nun aber ohne Ende ausdehnte...? Blieb dann vielleicht nichts anderes übrig, als Eisschollen zu besteigen, um womöglich auf diesen die sibirische Küste zu erreichen?... Doch nein; mit der weiter sinkenden Temperatur mußten die aneinander gedrängten Schollen ja schließlich zu einem festen Felde im Becken des Polarmeeres zusammenfrieren. Dauerte es freilich noch wochenlang, ehe das Meer genügend fest wurde, so drohten die Nahrungsmittel trotz des sparsamsten Verbrauches zu Ende zu gehen, und das Holz, das doch nur zur Bereitung der Speisen Verwendung fand, schließlich zu fehlen.[213]

Mehrere Leichtmatrosen waren schon jetzt am Ende ihrer Kräfte, und der Doctor Filhiol widmete ihrer Pflege die größte Aufmerksamkeit. Wie viele Mühe und Beschwerde wäre erspart worden, wenn die Schlitten jetzt ein Gespann jener ausdauernden Hunde gehabt hätten, die an die Wege durch die sibirischen und kamtschadalischen Ebenen gewöhnt sind! Mit wahrhaft wunderbarem Instinct begabt, vermögen diese Thiere sich noch beim schlimmsten Schneetreiben zurecht zu finden, wenn ihre Herren längst Weg und Steg verloren haben.

Unter den geschilderten Verhältnissen kam der 19. November heran.

Vierundzwanzig Tage waren seit dem Aufbruche verstrichen. Es war unmöglich gewesen, immer nach Südwesten zu marschieren, dahin, wo Bourcart in der Nähe der Liakhovinseln auf die am weitesten hervorspringenden Spitzen des Festlandes zu treffen gehofft hatte.

Die Nahrungsmittel waren fast erschöpft... vor Ablauf von achtundvierzig Stunden konnte den Schiff brüchigen nichts weiter übrig bleiben, als ein letztes Mal Halt zu machen und da den entsetzlichsten Tod abzuwarten...

»Ein Schiff!... Ein Schiff!«.

Endlich stieß Romain Allotte, es war am Morgen des 20. November, diesen lang erwarteten Ruf aus, und bald sahen auch alle das Fahrzeug, das des Lieutenants scharfe Augen entdeckt hatten.

Es war ein dreimastiges Barkschiff, ein Walfänger, der bei frischer Nordwestbrise mit allen Segeln der Behringstraße zusteuerte.

Bourcart und alle übrigen, die jetzt plötzlich ihre Kräfte wiederfanden, ließen die Schlitten stehen und stürmten nach dem Rande des Eisfeldes.

Hier wurden sofort Signale gegeben und Flintenschüsse abgefeuert.

Auf dem Schiffe hatte man diese bemerkt und die Schüsse gehört. Die Bark legte bei und bald stießen zwei Boote von ihr ab.

Eine halbe Stunde später befanden sich die Schiffbrüchigen an Bord, voll des Dankes für die ihnen durch die Vorsehung gesandte Rettung.

Das betreffende Schiff, die »World« aus Belfast, hatte seinen Fang etwas verspätet beendigt und war auf der Fahrt nach Neuseeland begriffen.

Wir brauchen wohl kaum hervorzuheben, daß der Besatzung des »Saint Enoch«, ebenso wie der des »Repton« der gastlichste Empfang zutheil wurde. Und als die beiden Kapitäne berichtet hatten, unter welch außergewöhnlichen Umständen ihre Schiffe zu Grunde gegangen waren, da mußte man ihnen, trotz mancher Unklarheiten bei dem wunderbaren Vorgange, wohl oder übel glauben.[214]

Nach Verlauf eines Monats setzte die »World« die Ueberlebenden von dem schauerlichen Seeunfalle in Dunedin ans Land.

Da trat der Kapitän King an den Kapitän Bourcart heran, um sich zu verabschieden.

»Sie haben uns, sagte er, an Bord des »Saint Enoch« aufgenommen, und ich habe Ihnen dafür gedankt...

– Wie wir Ihrem Landsmanne, dem Kapitän Morris, Dank schulden, uns an Bord der »World« aufgenommen zu haben, antwortete Bourcart.

– Demnach sind wir also quitt, erklärte der Engländer.

– Ja, wenn es Ihnen beliebt...

– Guten Abend!

– Guten Abend!«

Das war der ganze Abschied.

Trotz der unheimlichen Prophezeiungen, womit Meister Cabidoulin nicht im geringsten geizte, war die »World« doch glücklich genug, während ihrer Fahrt vom Eismeer bis Neuseeland weder einem Kraken, einem Calmar oder Kopffüßler, noch auch einer Seeschlange, oder wie man die eingebildeten Ungeheuer sonst nennen möge, zu begegnen. Ebenso kam von diesen Bourcart und seinen Gefährten auf ihrer Ueberfahrt von Neuseeland nach Europa auch keine Spur zu Gesicht. Die Lieutenants Coquebert und Allotte einigten sich schließlich in der Ueberzeugung, daß es eine ungeheuere, mit rasender Schnelligkeit dahinstürmende Meereswoge gewesen war, die den »Saint Enoch« nach dem Packeis verschlagen hatte.

Jean-Marie Cabidoulin und die Mehrzahl der Mannschaft konnten sich freilich von ihrem Glauben an ein fabelhaftes Seeungethüm noch nicht losreißen.

Auf jeden Fall weiß niemand etwas zuverlässiges darüber, daß die Meere irgendwo derartige Thiere bergen. Und so lange die sachverständigen Ichthyologen ihr Vorhandensein noch nicht bestätigt und noch nicht bestimmt haben, welcher Familie, welchem Geschlechte und welcher Art sie zuzutheilen seien, ist es wohl besser alles, was über sie berichtet wird, ins Gebiet der Fabel zu verweisen.

Der Kapitän Bourcart und seine Gefährten kehrten also nach Havre zurück... Diesmal freilich nicht an Bord ihres eigenen Schiffes!

Dank dem günstigen Verkaufe der ersten Thranlast in Victoria auf Vancouver, lieferte die Fahrt doch noch für alle einigen Verdienst, und der Verlust[215] des »Saint Enoch« wurde durch die Versicherungsgesellschaft gedeckt. Dem Kapitän traten jedoch die Thränen in die Augen, wenn er seines armen Schiffes gedachte, das nun verlassen und halb zertrümmert im arktischen Eisfelde gefangen lag.

Was den Meister Ollive und den Meister Cabidoulin betrifft, so boten diese sich die im Laufe der Fahrt verwetteten – gewonnenen und verlorenen – Flaschen Tafia und Rum gegenseitig an. Dabei sagte unter anderem der erste zu dem zweiten:

»Na, Alterchen, glaubst Du denn immer noch an...

– Das will ich meinen... nach dem, was wir selbst erlebt haben, erst recht!

– Du behauptest auch, das Ungeheuer gesehen zu haben?

– So gut, wie ich Dich sehe!

– Willst Du damit sagen, daß ich auch ein solches unvernünftiges Geschöpf wäre?

– Nun ja... weil... weil Du nicht daran glauben willst.

– Danke verbindlichst!«

Man erkennt hieraus, daß der Tonnenbinder seine Anschauungen nicht geändert hatte. Er verharrt bei der Behauptung, daß es derlei Ungethüme gebe, und in seinen ewig aufgewärmten Historien kehrt der Bericht über die Abenteuer des »Saint Enoch« unablässig wieder..

Eines aber steht unerschütterlich fest: Die letzte Reise des »Saint Enoch« wird auch die letzte Jean-Marie Cabidoulin's bleiben.

Quelle:
Jules Verne: Reisestipendien. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXXXIII–LXXXIV, Wien, Pest, Leipzig 1904.
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