Elftes Kapitel.
Worin Mr. Dean Forsyth und der Doktor Hudelson eine arge Erregung erfahren.

[119] Von der Feuerkugel war jetzt alles vollkommen bekannt. Man glaubte alles, was sie betraf, ergründet zu haben. Ihr Umfang, ihre Geschwindigkeit, ihr Inhalt, ihre Masse sowie ihre Natur und ihr Wert waren ja berechnet und bestimmt worden. Beunruhigung erregte sie auch nicht mehr, denn da sie einer[119] Kreisbahn in gleichmäßiger Bewegung folgte sollte sie voraussichtlich niemals auf die Erde fallen. Da war es also ganz natürlich, daß sich die öffentliche Aufmerksamkeit von dem unnahbaren Meteore abwandte, dessen Geheimnisse vollständig entschleiert waren.

Nur auf den Sternwarten warfen einige Astronomen dann und wann noch einen flüchtigen Blick auf die Goldkugel, die über ihrem Haupte kreiste, sie wandten sich davon aber schnell wieder ab, um sich andern Rätseln des Weltraumes zu widmen.

Die Erde hatte jetzt noch einen zweiten Satelliten... das war alles. Ob dieser Satellit aus Eisen oder aus Gold bestand, was konnte das Gelehrte anfechten, für die die Welt doch nur ein mathematischer Begriff ist?

Es war beklagenswert, daß Mr. Dean Forsyth und der Doktor Hudelson die Sache nicht ebenso betrachteten. Die Gleichgültigkeit, die rings um sie immer zunahm, beruhigte nicht ihre fieberhafte Erregung, lähmte nicht ihren fast an Wut grenzenden Eifer, die Feuerkugel – ihre Feuerkugel! – fortgesetzt zu beobachten. Bei jedem ihrer Vorübergänge waren sie auf dem Posten, das Auge ans Okular des Fernrohres oder des Teleskops geheftet, selbst in den Stunden, wo sich das Meteor erst wenige Grade über den Horizont erhoben hatte.

Leider begünstigte auch noch das immer freundlich bleibende Wetter ihre Manie dadurch, daß es den kreisenden Himmelskörper in vierundzwanzig Stunden zwölfmal zu beobachten gestattete. Ob er nun noch auf die Erde fiel oder nicht, die außerordentlichen Eigentümlichkeiten dieses Meteors, die es zu einem einzig dastehenden machten und es für alle Zeit berühmt machen mußten, steigerten nur ihr krankhaftes Verlangen, allein als dessen Entdecker angesehen zu werden.

Unter diesen Verhältnissen wäre es eine Torheit gewesen, eine Aussöhnung der beiden Rivalen zu erhoffen, zwischen denen sich jeden Tag vielmehr ein immer höherer Wall tödlichen Hasses auftürmte. Mrs. Hudelson und Francis Gordon erkannten das nur zu deutlich. Dieser bezweifelte gar nicht mehr, daß sein Onkel sich mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln der projektierten Heirat widersetzen würde, und jene empfand immer weniger Zutrauen zu der Nachgiebigkeit ihres Gatten, wenn der große Tag nun herankam. Darüber konnte man sich keiner Täuschung mehr hingeben.


Es sind Milliarden, die uns da über den Kopf fliegen... (S. 127.)
Es sind Milliarden, die uns da über den Kopf fliegen... (S. 127.)

Zur Verzweiflung der beiden Verlobten und zum schlimmsten Ärger Miß Loos und der alten Mitz schien jetzt die Hochzeit, wenn nicht ganz in Frage gestellt, doch bis zu einem unbestimmten und wahrscheinlich sehr entfernten Zeitpunkte verschoben zu sein.[120]

Diese schon sehr ernste Sachlage sollte aber sogar noch weiter verschlimmert werden.

Am Abend des 11. Mai hatte Mr. Dean Forsyth das Auge, wie gewöhnlich, an das Okular des Teleskops geheftet, als er plötzlich mit halbersticktem Aufschrei von dem Instrumente aufsprang, nachdem er einige Worte auf ein Blatt Papier gekritzelt hatte, auf seinen Platz zurückkehrte, dann sich[121] wieder davon entfernte und nochmals dahin zurückging und das in gleicher Weise fortsetzte, bis das Meteor unter dem Horizonte verschwunden war.

Mr. Dean Forsyth war dabei so wachsbleich geworden und atmete so mühsam, daß Omikron, in der Meinung, sein Herr sei erkrankt, ihm zu Hilfe eilte. Dieser wies ihn jedoch mit einer Handbewegung ab und flüchtete sich, taumelnd wie ein Betrunkener, in sein Arbeitszimmer, das er fest verschloß.

Seit dieser Minute hatte niemand Mr. Dean Forsyth wiedergesehen. Dreißig Stunden lang war er ohne Speise und Trank geblieben. Ein einziges Mal war es Francis gelungen, die Tür mit Gewalt zu öffnen, freilich nur so weit, daß dabei ein Spalt entstand, durch den er seinen Onkel so zusammengebrochen und mit so wahnsinnig stieren Augen sitzen sah, daß er, ohne ein Wort zu sagen, auf der Schwelle stehen blieb.

»Was willst du hier? fragte Mr. Forsyth unwirsch.

– Aber, lieber Onkel, rief Francis bittend hinein, du hast dich nun schon seit vierundzwanzig Stunden hier eingeschlossen! Erlaube mir wenigstens, dir etwas zu essen zu bringen.

– Ich brauche nichts, hatte Mr. Dean Forsyth darauf geantwortet, nichts als Ruhe und Frieden, und du wirst mir einen besondren Gefallen erweisen, mich in meiner Einsamkeit nicht weiter zu stören.«

Einer solchen und so bestimmt ausgesprochenen Antwort gegenüber, die doch so freundlich erteilt wurde, wie das Francis sonst gar nicht zu hören gewöhnt war, hatte dieser nicht den Mut, sein Anerbieten zu wiederholen. Das wäre auch kaum möglich gewesen, da die Tür bei den letzten Worten des Astronomen schon wieder zugeschlagen worden war. Sein Neffe hatte also umkehren müssen, ohne etwas erfahren zu haben.

Am Vormittage des 13. Mai, zwei Tage vor der geplanten Hochzeit, sprach sich Francis zum zwanzigsten Male über diese neue Ursache von Besorgnis gegen Mrs. Hudelson aus, die ihm seufzend zuhörte.

»Ich begreife nicht, was hier vorliegt, sagte sie endlich. Man möchte fast glauben, daß Mister Forsyth und mein Mann völlig den Verstand verloren hätten.

– Was sagen Sie, rief Francis erstaunt, auch Ihr Mann? Wäre auch dem lieben Doktor etwas zugestoßen?

– Ohne Zweifel, erwiderte Mrs. Hudelson. Die beiden Herren scheinen sich das Wort darauf gegeben zu haben, es immer einander gleich zu tun. Bei[122] meinem Manne ist die Krisis nur etwas später eingetreten, das ist alles. Erst gestern Morgen hat er sich in sein Arbeitskabinett eingeriegelt. Später hat ihn niemand wiedergesehen, und da können Sie sich unsre Beunruhigung wohl vorstellen.

– Darüber könnte man den Verstand verlieren! rief Francis.

– Was Sie mir von Mister Forsyth mitteilen, fuhr Mrs. Hudelson fort, läßt mich vermuten, daß beide gleichzeitig an ihrer unseligen Feuerkugel irgend etwas Neues bemerkt haben. Bei ihrer geistigen Verfassung kann ich mir davon leider nichts Gutes versprechen.

– Ach, wenn ich hier etwas zu befehlen hätte! mischte sich jetzt Loo ein.

– Nun, was würdest du denn da tun, lieber Wildfang? fragte Francis Gordon.

– Was ich tun würde?... O, sehr einfach: die abscheuliche goldne Kugel ließe ich so weit... so weit verschwinden, daß sie auch mit dein allerbesten Fernrohre nicht mehr zu sehen wäre!«

Wenn die Feuerkugel verschwand, hätte das ja vielleicht dem Mr. Forsyth und dem Doktor Hudelson ihre Ruhe wiedergegeben. Wer weiß auch, ob nicht ihre törichte Eifersucht, wenn das Meteor nicht mehr wiederkehrte, mit einem Schlage geheilt gewesen wäre.

Leider deutete nichts darauf hin, daß dieser Fall eintreten könnte. Die Feuerkugel würde auch am Hochzeitstage an ihrer Stelle sein... ebenso nachher wie für immer, da sie mit ungestörter Regelmäßigkeit ihrer unveränderlichen Kreisbahn folgte.

»Nun, wir werden ja sehen, schloß Francis das Gespräch. Binnen achtundvierzig Stunden müssen sie sich entschieden haben, dann wissen wir ja, woran wir sind.«

In das Haus der Elisabethstraße zurückgekehrt, konnte er übrigens glauben daß der jetzige Zwischenfall gar nicht so ernste Folgen haben würde. Mrs. Dean Forsyth hatte seine Abschließung aufgegeben und schweigend eine tüchtige Mahlzeit verzehrt. Jetzt lag er, zwar lendenlahm, aber gesättigt, gemästet, in tiefem Schlafe, während Omikron für seinen Herrn einen Weg in der Stadt besorgte.

»Hast du denn meinen Onkel gesehen, ehe er eingeschlafen war? fragte Francis die alte Dienerin.

– So gut wie ich jetzt dich sehe, mein Söhnchen, antwortete diese, ich habe ihm ja das Frühstück auf getragen.[123]

– Er hatte wohl Hunger?

– Den reinen Wolfshunger. Da verschwand das ganze Frühstück im Nu: Spiegeleier, kaltes Roastbeef, Kartoffeln, Fruchtpudding... er hat keine Spur davon übrig gelassen.

– Wie befand er sich denn sonst?

– O, gar nicht so schlecht, außer daß er bleich war wie ein Gespenst und stark gerötete Augen hatte. Ich empfahl ihm, sich mit verschlagenem Wasser zu waschen; er schien mich aber nicht zu verstehen.

– Und von mir sagte er nichts?

– Weder von dir noch von sonst jemand. Er aß nur, ohne den Mund dabei aufzutun und streckte sich zum Schlafen aus, nachdem er Freund Krone nach dem ›Whaston Standard‹ geschickt hatte.

– Nach dem ›Whaston Standard‹! rief Francis. Ich möchte darauf wetten, da hat er dem Blatte das Ergebnis seiner Arbeit mitgeteilt. Nun wird's schon wieder hübsche Zeitungskämpfe geben. Das hat wahrlich gerade noch gefehlt!«

Die Mitteilung des Mr. Dean Forsyth an den »Whaston Standard« las Francis am nächsten Morgen zu seinem bittersten Kummer, da er erkannte, daß der seinem Glücke so feindseligen Rivalität hier vom Schicksal noch neue Nahrung zugeführt worden war. Dieser Kummer vermehrte sich aber noch, als er gewahr wurde, daß die beiden Rivalen wieder einmal ein totes Rennen gelaufen hatten. Während der »Whaston Standard« die Einsendung des Mr. Dean Forsyth veröffentlichte, hatte der »Whaston Morning« eine ganz ähnliche von Doktor Sydney Hudelson abgedruckt. Er sollte also fortdauern, der hitzige Zweikampf, bei dem bisher noch keiner der beiden Gegner einen Vorteil errungen hatte.

Während die beiden Artikel aber im ersten Teile völlig übereinstimmten, wichen sie bezüglich der endlichen Schlußfolgerungen beträchtlich voneinander ab. Diese Verschiedenheit, die jedenfalls viele Kontroversen hervorrufen würde, konnte anderseits doch gegebenen Falles von Nutzen sein, indem sie später die beiden Rivalen sozusagen voneinander trennte.

Zur gleichen Zeit wie Francis und ganz Whaston und gleichzeitig mit Whaston erfuhr die ganze Welt die überraschende, durch die Netze des Telegraphen und Telephons augenblicklich überallhin verbreitete Mitteilung der beiden Astronomen aus der Elisabeth- und der Morrißstraße, eine Mitteilung, die von Stund' an zum Thema der leidenschaftlichsten Besprechungen auf beiden Hemisphären wurde.[124]

Ob es noch etwas Merkwürdigeres geben konnte und ob die allgemeine Aufregung gerechtfertigt war, das mag der freundliche Leser selbst beurteilen.

Mr. Dean Forsyth und der Doktor Hudelson begannen beide mit der Bemerkung, daß ihre fortgesetzten Beobachtungen ihnen eine unbestrittene Störung im Gange der Feuerkugel gezeigt hätten. Deren frühere, genau von Norden nach Süden verlaufende Bahn hatte sich jetzt leicht im Sinne Nord-Ost–Süd-West verschoben. Daneben hatte sich aber eine noch weit wichtigere Veränderung in ihrer Entfernung von der Erdoberfläche vollzogen, einer Entfernung, die sich nur wenig, doch unzweifelhaft verringert hatte, ohne daß die Geschwindigkeit des Meteors gewachsen wäre. Aas diesen Beobachtungen und den darauf begründeten Berechnungen hatten die beiden Astronomen geschlossen, daß das Meteor, statt in Ewigkeit derselben Kreislinie zu folgen, notwendigerweise auf die Erde fallen müßte, und zwar auf einen Punkt und zu einer Zeit, die sich jetzt genau bestimmen ließen.

Während Mr. Forsyth und der Doktor Hudelson bis hierher völlig übereinstimmten, war das im weiter Folgenden nicht mehr der Fall.

Die tiefsinnigen Gleichungen des einen führten zu der Voraussage, daß die Feuerkugel am 28. Juni an der Südspitze Japans niederfallen werde, die ebenso gelehrten Gleichungen des andern nötigten diesen zu der Behauptung, daß der Fall des Himmelskörpers erst am 7. Juli in Patagonien erfolgen werde.

Ja, die beiden Astronomen verstanden ihre Sache: nun konnte das Publikum wählen!

Vorläufig dachte jedoch an dergleichen noch niemand. Jeden interessierte nur die Tatsache, daß das Asteroid und mit ihm die tausende Milliarden herunterfallen würden, die es mit sich durch den Weltraum schleppte. Das war das Wesentliche. Ob es nun in Japan oder in Patagonien die Erde erreichte, die Milliarden würde man auf jeden Fall irgendwo finden.

Die Folgen eines solchen Ereignisses, die ökonomische Umwälzung, die hervorzurufen ein so ungeheurer Goldzufluß nicht verfehlen konnte, bildeten jetzt überall das Tagesgespräch. Im allgemeinen waren die reichen Leute untröstlich wegen der drohenden Entwertung ihres Vermögens, und die armen hocherfreut über die wahrscheinlich trügerische Hoffnung, auch ihr Teil von den in der Luft schwebenden Schätzen einzuheimsen.

Francis freilich war jetzt der Verzweiflung nahe. Was kümmerten ihn jene Milliarden oder Billiarden? Der einzige Schatz, den er sich wünschte, war[125] seine geliebte Jenny, ein unendlich kostbarerer Schatz als jene Feuerkugel mit all ihren abscheulichen Reichtümern.

Aufgeregt eilte er nach dem Hause in der Morrißstraße. Hier war die traurige Neuigkeit ebenfalls bekannt und man ahnte deren beklagenswerte Folgen. Jetzt, wo sich zu der Fach-Eigenliebe noch ein materielles Interesse gesellte, war ein heftiger Streit zwischen den beiden Rivalen ganz unabwendbar, da jeder alle Rechte auf ein Gestirn des Himmels für sich beanspruchen würde.

Wie schmerzlich seufzte da Francis, als er Mrs. Hudelson und deren liebenswürdigen Töchtern die Hand drückte! Wie zornig stampfte Loo mit den kleinen Füßen! Wie bittere Tränen, die ihre Schwester, ihre Mutter und ihr Verlobter nicht stillen konnten, vergoß die reizende Jenny, selbst als der letztere sie seiner unverbrüchlichen Treue versicherte und ihr zuschwor, nötigenfalls bis zu dem Tage auszuharren, wo von dem schließlichen Besitzer des fabelhaften Meteors der letzte Sou von den fünftausendsiebenhundertachtundachtzig Milliarden ausgegeben sein würde... freilich ein etwas unüberlegter Schwur, der ihn allem Anschein nach zu ewigem Junggesellentum verurteilen mußte.

Quelle:
Jules Verne: Die Jagd nach dem Meteore. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band XCIII, Wien, Pest, Leipzig 1909, S. 119-126.
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