Elftes Capitel.
Was sich in dem Etui befand.

[267] Die ganze, so wunderbare Erscheinung hatte eine rein physikalische Ursache, und zwar folgende:

Das Kanonenboot »Santa Ana«, das auf der Fahrt nach Manao den Amazonenstrom hinaufsegelte, hatte eben das Fahrwasser von Frias passirt. Kurz vor dem Einlaufen in die Mündung des Rio Negro hißte es seine Flagge und begrüßte das grün und gelbe Banner Brasiliens durch einen Kanonenschuß. Durch den Knall kam zunächst die Oberfläche des Wassers in eine zitternde Bewegung, welche sich weiter und weiter durch die Wasserschichten fortpflanzte und eben hinreichte, den durch beginnende Zersetzung schon specifisch etwas leichteren Körper Torres' aufzuheben, indem sie die Ausdehnung seines Zellgewebesystems begünstigte. Der Leichnam des Versunkenen stieg also aus sehr natürlichen Ursachen nach der Oberfläche des Wassers empor.

Diese sehr bekannte Erscheinung erklärte wohl das Wiederauftauchen des Leichnams, aber man wird zugeben, daß die »Santa Ana« gerade im rechten Augenblicke an der Stelle, wo die Nachsuchung vor sich ging, eingetroffen war.

Auf einen Ausruf Manoels hin, den dessen Begleiter wiederholten, steuerte die eine Pirogue sofort auf den Körper zu, während der Taucher wieder nach dem Floße emporgewunden wurde.

Wie schmerzlich erschrak aber Manoel da, als Benito bis zur Plattform herausgeholt, daselbst vollkommen bewußtlos niedergelegt wurde, ohne daß nur eine sichtbare Bewegung desselben verrathen hätte, daß er überhaupt noch lebte.

Sollten die Wellen des Amazonenstromes, statt des einen gesuchten Leichnams, jetzt deren zwei zurückgegeben haben?

Der Taucher wurde so schnell als thunlich von der beengenden schweren Rüstung befreit.

Benito hatte unter den wiederholten elektrischen Schlägen des riesigen Zitteraales alle Besinnung verloren. Voller Verzweiflung rief ihn Manoel beim Namen, suchte von Mund zu Mund seine Athmung zu unterstützen und sich zu überzeugen, ob das Herz des Freundes noch klopfe.[267]

»Es schlägt, es schlägt noch!« rief er erleichtert.

Benitos Herz stand wirklich noch nicht still, und Manoels geschickte Sorgfalt rief den jungen Mann nach wenigen Minuten wieder in's Leben zurück.

»Der Leichnam! der Leichnam!«

Das waren die ersten Worte, welche aus Benitos Munde kamen.

»Er ist gefunden! antwortete Fragoso, nach der Pirogue zeigend, die sich mit Torres' Körper dem Floße näherte.

– Aber Du, Benito, was ist Dir widerfahren? fragte Manoel. Fehlte es Dir an Luft?...

– Nein! erwiderte Benito. Ein Puraqué hat mich da unten überfallen.. Aber jener Lärmen, jener Knall...

– Rührte von einem Kanonenschuß her, belehrte ihn Manoel. Ein Kanonenschuß ist es gewesen, der den Cadaver wieder nach oben beförderte!«

Da legte die Pirogue an dem Floße an. Auf dem Boden desselben lag Torres' Körper, den die Indianer aus dem Wasser gezogen hatten. Noch zeigte er sich äußerlich nicht auffallend verändert, so daß ihn die Betheiligten leicht wieder erkannten. Nach dieser Seite konnte ein Zweifel also nicht aufkommen.

In der Pirogue knieend, hatte Fragoso sich schon darüber hergemacht, dem Ertrunkenen die Kleider vom Leibe zu reißen, welche sich in Fetzen loslösten.

Da erregte der entblößte rechte Arm Torres' seine besondere Aufmerksamkeit. Es zeigte sich darauf nämlich die Narbe von einer früheren, offenbar durch ein Messer hervorgebrachten Verwundung.

»Seht, diese Narbe! rief Fragoso. Aber... mein Gott... ja, richtig, jetzt erinnere ich mich...

– An was denn? fragte Manoel.

– An einen Streithandel... ja, an einen Kampf, in der Provinz Madeira, dessen Zeuge ich wurde... es mag so gegen drei Jahre her sein. Wie konnte mir das nur entfallen! Dieser Torres gehörte damals zur Miliz der Waldkapitäne. Ich wußte es doch, daß ich den elenden Schurken schon früher einmal gesehen hatte!

– Was kümmert das uns heute? sagte Benito. Das Etui, das Etui!... Trägt er es noch bei sich?«.

Benito wollte schon die letzten Hüllen von dem Leichnam wegreißen, um diese zu durchsuchen.

Da that ihm Manoel Einhalt.[268]

»Verzeihe, Benito, einen Augenblick!« rief er.

Dann wandte er sich an die, nicht zum Personal der Jangada gehörigen Leute auf dem Floße, deren Zeugniß später nicht wohl angefochten werden konnte.

»Ich bitte, beachtet Alle genau, was wir vornehmen, um nöthigenfalls an Gerichtsstätte aussagen zu können, was hier vorgegangen ist.«

Die Leute kamen näher an die Pirogue heran.

Fragoso löste nun den Gürtel, der unter dem zerrissenen Poncho um Torres Körper geschnallt war, und suchte nach den Taschen seiner Jacke.

»Das Etui!« rief er.

Benito entrang sich ein Freudenschrei. Er beeilte sich schon, die sehnlichst gesuchte Metallkapsel hervorzuholen, um sie zu öffnen und ihren Inhalt kennen zu lernen...

»Nein, gemach, ließ sich Manoel, bei dem die kühle Ueberlegung stets die Oberhand behielt, vernehmen. Wir müssen vor Allem danach trachten, jedem uns etwa von Seiten der Behörden zu machenden Einwurf im Voraus zu begegnen. So erscheint es mir rathsam, zunächst uninteressirte Zeugen dafür zu gewinnen, daß dieses Etui sich wirklich an Torres' Körper vorfand.

– Du hast Recht, stimmte ihm Benito bei.

– Lieber Freund, richtete Manoel das Wort an den Vormann der Floßmannschaft, greifen Sie einmal selbst in die Tasche dieser Jacke.«

Der Vormann willfahrte ihm. Er brachte eine Metallkapsel zum Vorschein, deren Deckel sich hermetisch verschloß und die durch das Liegen im Wasser nicht beschädigt zu sein schien.

»Das Papier... ist das Papier noch darin? rief Benito, der seine Ungeduld kaum zu zügeln vermochte.

– Es wird Sache des Gerichtes sein, dieses Etui zu öffnen, erwiderte Manoel. Dem Richter allein kommt es zu, zu constatiren, ob sich ein Document darin befindet oder nicht.

– Ja... freilich... da hast Du wiederum Recht, antwortete Benito. Auf nach Manao also, liebe Freunde, nach Manao!«

Benito, Manoel, Fragoso und der Vormann vom Floße, der das Etui bei sich behielt, bestiegen also die eine Pirogue und wollten schon abfahren, als Fragoso sagte:

»Und was wird aus Torres' Leichnam?«

Die Pirogue hielt an.[269]

Die Indianer hatten den Körper des Abenteurers nämlich schon wieder in's Wasser geworfen, und dieser trieb mit der Strömung hinab.

»Torres war nur ein erbärmlicher Bösewicht, begann Benito. Ich habe mein Leben offen und ehrlich gegen das seine gewagt – Gott hat ihn durch meine Hand mit seinem Richterspruche ereilt, aber die entseelte Hülle soll wenigstens nicht unbeerdigt bleiben.«

Die zweite Pirogue wurde demnach beordert, Torres' Cadaver wieder aufzufischen, nach dem Ufer zu schaffen und dort zu begraben.

In demselben Augenblicke stürzte sich aber ein Schwarm von Raubvögeln, der über dem Strome schwebte, auf den schwimmenden Leichnam herab. Es waren Urubus, eine Art kleiner, nackthalsiger Geier mit langen Krallen und schwarz wie Raben, welche in Südamerika gewöhnlich »Gallinazos« genannt werden und die sich durch beispiellose Gefräßigkeit auszeichnen. Aus dem, durch ihre Schnabelhiebe zerhackten Körper entwichen die Gase, welche ihn bisher anschwellten; das specifische Gewicht der Leiche nahm in Folge dessen wieder zu, sie versank allmählich, und zum letzten Male verschwand, was von Torres noch übrig war, unter den Wellen des Amazonenstromes.

Zehn Minuten später traf die schnell dahingleitende Pirogue im Hafen von Manao ein. Benito und seine Begleiter gingen an's Land und eilten durch die Straßen der Stadt.

Bald trafen sie an der Wohnung des Richters Jarriquez ein und ließen diesem durch einen seiner Diener melden, daß sie ihn unverzüglich zu sprechen wünschten.

Der Beamte ließ sie in sein Privatzimmer führen.

Hier erstattete Manoel Bericht über Alles, was vorgegangen war seit der Stunde, wo Torres in regelrechtem Zweikampfe von Benito den Todesstoß erhalten hatte, bis zu dem Augenblicke, wo das Etui am Cadaver des Erschlagenen wiedergefunden und durch den Obmann des Floßes aus der Jackentasche hervorgezogen worden war.

Obgleich diese Darstellung Joam Dacosta's Aussagen über Torres und den ihm von diesem angebotenen Handel allseitig bekräftigte, konnte der Richter Jarriquez ein ungläubiges Lächeln doch nicht ganz unterdrücken.

»Hier ist das Etui, Herr Richter, fuhr Manoel fort. In unseren Händen befand es sich noch keinen Augenblick, und der Mann, welcher es Ihnen ausliefert, hat es an Torres' Körper selbst gefunden!«[270]

Der Beamte ergriff die messingene Kapsel, prüfte sie sorgfältig und wendete sie nach allen Seiten, wie einen Gegenstand von höchstem Werthe. Dann schüttelte er dieselbe und einige darin befindliche Stücke gaben dabei einen hellen metallischen Klang.

Sollte das Etui wirklich das mit solchem Opfermuthe gesuchte Document, das von der eigenen Hand des Urhebers jenes halbverjährten Verbrechens beschriebene Papier nicht enthalten, welches Torres gegen den Preis eines unwürdigen Tausches an Joam Dacosta verschachern wollte? Sollte der materielle Beweis für die Unschuld des Verurtheilten unwiederbringlich verloren sein?

Die unbeschreibliche Erregtheit der Zuschauer dieser Scene wird sich der Leser leicht vorstellen können. Benito war keines Wortes mächtig; er fühlte, daß sein Herz zu springen drohte.

»Oeffnen Sie, Herr Richter, öffnen Sie nur das Etui!« bat er mit halb gebrochener Stimme.

Jarriquez bemühte sich, den Deckel abzuziehen; als ihm das gelungen, wendete er die offene Seite des Etuis nach unten, aus dem einige Goldstücke auf den Tisch rollten.

»Aber das Papier... das Papier!« rief Benito noch einmal, während er sich an den Tisch anklammerte, um nicht zu Boden zu sinken.

Der Beamte fuhr mit den Fingern in die Kapsel und zog daraus mit einiger Schwierigkeit ein schon vergilbtes, aber sorgsam zusammengefaltetes Papier hervor, welches vom Wasser verschont zu sein schien.


Benito hatte alle Besinnung verloren. (S. 267.)
Benito hatte alle Besinnung verloren. (S. 267.)

»Das Document! Das ist das Document! rief Fragoso erfreut, ja, ja, das ist das nämliche Papier, welches ich in Torres' Händen gesehen habe!«

Der Richter Jarriquez schlug das Papier auseinander, betrachtete es prüfend und sah die Vorder- und die Rückseite an, welche mit ziemlich großen Schriftzügen bedeckt waren.

»Ein Document, sagte er, freilich, daran ist kaum zu zweifeln. Ein Document ist das sicherlich!


Es waren Urubus. (S. 270.)
Es waren Urubus. (S. 270.)

– Gewiß, setzte Benito hinzu, und zwar ein Document, welches die Unschuld meines Vaters nachweist.

– Das weiß ich noch nicht, meinte der Richter Jarriquez, und ich fürchte sogar, es wird seine Schwierigkeiten haben, das zu erfahren.

– Warum?... rief Benito, bleich wie der Tod.[271]

– Weil dieses Document in einer Geheimschrift abgefaßt ist, antwortete der Richter Jarriquez, und weil...

– Nun was?

... uns der Schlüssel dazu fehlt!«[272]

Quelle:
Jules Verne: Die Jangada. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band XXXIX–XL, Wien, Pest, Leipzig 1883, S. 267-273.
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