Drittes Capitel.
Ein Rückblick.

[206] Das Ableben des Oberrichters Ribeiro, auf den Joam Dacosta mit Sicherheit zählen konnte, kam jetzt gewiß recht ungelegen.

Bevor er als Gerichtspräsident, das heißt als erster Beamter der Provinz, nach Manao versetzt wurde, hatte Ribeiro Joam Dacosta schon gekannt, zur Zeit, als der junge Beamte wegen jenes grausigen Raubmordes und Diamanten-Diebstahles verfolgt wurde.

Ribeiro lebte damals als Advocat in Villa Rica. Ihm wurde der Auftrag zutheil, den Angeklagten vor den Geschworenen zu vertheidigen. Er nahm sich dieser Sache mit Liebe an, er machte sie zu der seinigen. Durch Prüfung der Acten wie der Einzelergebnisse der Untersuchung gewann er nicht nur eine gewisse Ueberzeugung, welche ein Vertheidiger so zu sagen a priori haben muß, sondern wirklich die Gewißheit, daß sein Client fälschlicher Weise angeklagt sei, daß er keinen Antheil, weder an der Ermordung der Begleitmannschaften, noch an dem Diamantenraube gehabt habe, daß die ganze Untersuchung einer falschen Fährte folge – mit einem Worte, daß Joam Dacosta vollständig unschuldig sei.

Trotz seiner Redegabe, trotz seiner Hingebung gelang es dem Advocaten Ribeiro jedoch nicht, auch die Jury für seine Ueberzeugung zu gewinnen. Freilich[206] vermochte er auch niemand Anderen der Urheberschaft jenes Verbrechens zu beschuldigen.

Wenn es Joam Dacosta, der sich doch am ehesten dazu in der Lage befand, nicht gewesen war, der den Raubmördern die geheim gehaltene Zeit des Aufbruchs jener Mannschaft mit dem Diamantentransport verrathen hatte, wer sollte es dann gewesen sein? Der Beamte, welcher die Escorte begleitete, war mit dem größten Theile der Soldaten umgekommen; auf ihn konnte der Verdacht sich also nicht wohl lenken. Alles deutete vielmehr darauf hin, Joam Dacosta als den einzigen und thatsächlichen Urheber jenes Verbrechens zu bezeichnen.

Ribeiro vertheidigte ihn mit Wärme, er that was ihm zu thun möglich war – umsonst, er vermochte ihn nicht zu retten. Die Geschworenen bejahten alle Schuldfragen des Procurators. Joam Dacosta wurde wegen überlegten Mordes für überführt erachtet und, da ihm keinerlei mildernde Umstände zugute kamen, selbstverständlich zum Tode verurtheilt.

Jetzt war für den Aermsten jede Hoffnung geschwunden. Eine Umänderung der Strafe schien in diesem Falle, wo das Verbrechen das Diamantenregal des Staates betraf, unmöglich. Der Verurtheilte war verloren... Während der letzten, seiner Hinrichtung vorhergehenden Nacht, als der Galgen für ihn schon errichtet war, gelang es Joam Garral, aus dem Gefängnisse von Villa Rica zu entfliehen. Das Uebrige ist bekannt.

Zwanzig Jahre später wurde der Advocat Ribeiro zum Oberrichter in Manao ernannt. In dem Schlupfwinkel, wohin er sich geflüchtet, hörte der Fazender von Iquitos von dieser Veränderung und erkannte dieselbe als einen glücklichen Umstand, um eine Revision seines Processes mit einiger Aussicht auf Erfolg einleiten zu lassen. Er setzte dabei mit Recht voraus, daß der Advocat heute noch wie früher von seiner Unschuld überzeugt sein werde, und beschloß. Alles zu versuchen, um jetzt wenigstens seine Rehabilitation zu erlangen. Ohne jene Ernennung Ribeiro's zum Oberrichter in der Provinz Amazonas hätte er, bei dem Mangel jedes weiteren Beweises seiner Unschuld, einen solchen Schritt vielleicht kaum gewagt. Obwohl er als Ehrenmann gewiß furchtbar davon leiden mußte, sich in freiwilliger Verbannung in Iquitos zu verbergen, so hätte er doch vielleicht noch länger gewartet, um die Erinnerung an jene Blutthat weiter erbleichen zu lassen, wenn ihn nicht manche andere Gründe veranlaßt hätten, mit Erledigung der auch ihm am Herzen liegenden Angelegenheit nicht länger zu säumen.[207]

Schon lange, ehe Yaquita ihm davon sprach, hatte er einmal bemerkt, daß Manoel seine Tochter liebe.


Einzelne Bewohner lustwandelten am Strande. (S 205.)
Einzelne Bewohner lustwandelten am Strande. (S 205.)

Die einstige Verbindung des jungen Militärarztes mit dem jungen Mädchen erschien ihm nach allen Seiten passend und wünschenswerth. Er sah es voraus, wie es nicht lange dauern könne, bis Jener um seiner Tochter Hand anhalten werde, und er wollte sich davon nicht überraschen lassen.

Gerade deshalb aber quälte ihn der Gedanke mehr als je, daß er hier unter falschem Namen lebte, und daß Manoel Valdez, wenn er in die Familie


Yaquita trat aus dem Wohnhause. (S. 205.)
Yaquita trat aus dem Wohnhause. (S. 205.)

Garral einzutreten glaubte, in Wahrheit in die Joam Dacosta's eintrat, deren Haupt ein Flüchtling war, über dem das Todesurtheil aus früherer Zeit noch[208] immer gleich einem Damoklesschwerte hing. Nein! Unter denselben Umständen, wie seine eigene Heirat, sollte diese Vermählung einmal nicht stattfinden – nein, nimmermehr!

Der Leser erinnert sich der Vorgänge aus jener Zeit. Vier Jahre nach dem Eintritte des jungen Mannes in die Fazenda von Iquitos, und als derselbe schon der Theilhaber Magelhaës' war, wurde der alte Portugiese durch[209] einen Unfall tödlich verletzt. Nur wenige Tage Leben waren ihm noch übrig. Mehr als Alles bekümmerte ihn der Gedanke, daß seine Tochter allein, ohne Schutz und Stütze bleiben sollte; da er jedoch wußte, daß Joam und Yaquita einander liebten, so lag es ihm am Herzen, dieselben ohne Zögern für immer vereinigt zu sehen.

Joam wollte Anfangs auf seinen Wunsch nicht eingehen. Er erbot sich, der Beschützer, der Diener Yaquitas bleiben zu wollen, nicht aber deren Gatte zu werden... Magelhaës' dringenden Bitten konnte er jedoch nicht widerstehen. Yaquita legte ihre Hand in die Joams, und dieser zog die seinige nicht zurück.

Es mochten für ihn schwere Stunden sein. Entweder mußte Joam Dacosta Alles gestehen, oder für immer dieses Haus fliehen, in dem er so gastfreundlich Aufnahme gefunden und zu dessen Aufblühen er so wesentlich beigetragen hatte. Gewiß wollte er lieber Alles zugestehen, als der Tochter seines Wohlthäters einen Namen geben, der nicht der seinige war, den Namen eines wegen Mordes, wenn auch unschuldig, zum Tode Verurtheilten!

Doch die Umstände drängten; der alte Fazender war dem Tode nahe, er streckte zitternd die Hände gegen die jungen Leute aus. Joam Dacosta schwieg, die Ehe wurde geschlossen und der junge Farmer widmete sein ganzes Leben dem Glücke und Wohlergehen Yaquitas, die sein Weib geworden war.

»Wenn ich ihr einst ein Geständniß ablege, sagte sich Joam, wird Yaquita mir verzeihen. Sie wird keinen Augenblick an meiner Unschuld zweifeln. Wenn ich sie aber hintergehen mußte, so werde ich doch den jungen Mann, der sich durch seine Verbindung mit Minha unserer Familie anschließt, nicht täuschen. Nein! Eher laufe ich selbst der Gerechtigkeit in die Arme und endige ein Leben, das mir stets zur Last war!«

Gewiß dachte Joam Dacosta hundertmal daran, seiner Gattin von der Vergangenheit zu sprechen. Das Geständniß schwebte schon auf seinen Lippen, als sie mit der Bitte an ihn herantrat, sie nach Brasilien zu führen, ihr und seiner Tochter die Freude zu bereiten, den schönen Amazonenstrom kennen zu lernen. Er kannte Yaquita genügend, um zu wissen, daß jene Aufklärung die Liebe, die sie zu ihm hegte, nicht vermindern werde... und doch, doch fehlte ihm der Muth.

Wer könnte sich nicht in seine Lage versetzen, wenn er bedenkt, wie glücklich seine ganze Familie lebte durch seine Mühe, durch die Arbeit seines Lebens, wenn vielleicht ein Wort von ihm das Alles für immer vernichten konnte?[210]

Mit solchen Zweifeln quälte er sich lange Jahre hindurch, hier war die Quelle seiner Leiden, die er vor jedem Auge zu verhüllen suchte, das war das Leben dieses Mannes, der keine Handlung seines Lebens zu verbergen Ursache hatte und sich jetzt doch eines ungerechten Richterspruches wegen selbst verborgen halten mußte.

Als er aber an Manoels herzlicher Zuneigung für Minha nicht mehr zweifeln konnte, als er sich sagte, daß wahrscheinlich kaum ein Jahr vergehen werde, bis er in die Lage kommen mußte, seine väterliche Zustimmung zu der Verbindung der beiden jungen Leute zu geben, da litt es ihn nicht mehr, da mußte er Alles versuchen, diesem qualvollen Zustande ein Ende zu machen.

In einem Briefe an den Richter Ribeiro machte er diesen nicht nur mit dem Geheimnisse des Lebens Joam Dacosta's bekannt, nannte diesem den Namen, unter dem er verborgen war, den Ort, wo er mit seiner Familie lebte, sondern gab auch seinen festen Entschluß zu erkennen, sich den Gerichten seines Vaterlandes selbst zu stellen und eine Revision seines Processes zu veranlassen, aus dem er entweder schuldlos und frei hervorgehen mußte, oder der im anderen Falle mit der Vollziehung des in Villa Rica gefällten Urtheils endigen sollte. Es ist leicht zu errathen, welche Gefühle diese Eröffnung in dem Herzen des hochachtbaren Beamten erregen mochten. Jetzt wendete sich nicht ein Angeklagter an den geschickten Advocaten, sondern ein Verurtheilter an den höchsten Beamten der Provinz. Joam Dacosta vertraute sich ihm nicht allein gänzlich an, sondern bestand auch nicht einmal auf der Bewahrung seines Geheimnisses.

Der Richter Ribeiro war über das unerwartete Auftauchen eines längst Verschollenen zuerst erstaunt, dachte über die ganze Sache aber doch reiflich nach und suchte sich klar zu machen, welche Pflichten seine jetzige Stellung ihm auferlegte. Ihm kam es ja vor Allem zu, Verbrecher zu verfolgen, und hier überlieferte sich ein solcher freiwillig seinen Händen. Freilich hatte er gerade diesen ehemals selbst vertheidigt und nicht im mindesten daran gezweifelt, daß Jener damals ungerechter Weise verurtheilt wurde; ebenso gewährte ihm die glückliche Flucht desselben vor Vollstreckung des Urtheils eine wirkliche Freude; ja er wäre im Stande gewesen, seine Entweichung selbst zu begünstigen... aber was der Rechtsanwalt von früher gethan, durfte das auch der Beamte von heute?

»Ja, ohne Zweifel, sprach der Richter für sich, mein Gewissen befiehlt mir, diesen Gerechten nicht zu verlassen! Gerade der Schritt, den er heute thut, ist ein neuer Beweis für seine Schuldlosigkeit, freilich nur ein moralischer Beweis,[211] da er einen anderen nicht vorzubringen vermag, aber vielleicht gerade der überzeugendste. Nein, nein, ich werde ihn nicht im Stiche lassen!«

Von jenem Tage ab bestand ein geheimer Schriftwechsel zwischen dem Gerichtsbeamten und Joam Dacosta. Ribeiro warnte seinen Clienten zunächst, sich nicht durch einen vorschnellen Schritt zu compromittiren. Er versprach, die Sache wieder aufzunehmen, die früheren Acten zu prüfen und deren Unterlagen einzusehen. Gleichzeitig kam es ihm darauf an, zu erfahren, ob im Diamantengebiete bezüglich jenes schrecklichen Vorfalles gar nichts an's Licht gekommen sei. Vielleicht war von den Theilnehmern an dem Verbrechen doch Einer oder der Andere später der Justiz in die Hände gefallen und hatte ein vollkommenes oder doch ein halbes Geständniß abgelegt. Joam Dacosta galt freilich noch immer als der Hauptschuldige und mußte sich darauf beschränken, seine Unschuld zu betheuern. Dem Gesetze genügte das freilich nicht, und deshalb bemühte sich der Richter Ribeiro aus allem ihm zugänglichen Material herauszufinden, wem die Schuld für das Verbrechen wohl beizumessen sein mochte.

Joam Dacosta sollte also vorsichtig sein. Er versprach es. Immerhin fühlte er es im Innern als einen großen Trost, bei seinem früheren Vertheidiger und dem jetzigen Oberrichter die Ueberzeugung von seiner Unschuld wiederzufinden. Trotz seiner Vertheidigung war und blieb Joam Dacosta doch ein Opfer, ein Märtyrer, ein Ehrenmann, dem das Gesetz eine glänzende Genugthuung schuldig war. Und als der Beamte den Lebenslauf des Fazenders von Iquitos seit der Zeit seiner Verurtheilung zum Tode kennen gelernt hatte, als er sich über dessen Familienverhältnisse unterrichtet, von seinem Leben voller Arbeit und Mühe und dem Streben gehört, nur das Glück der Seinigen zu begründen, so überzeugte ihn das zwar nicht mehr, aber es rührte ihn, und er schwur sich heimlich, Alles daran zu setzen, um dem ehemaligen Verurtheilten von Tijuco wieder zu seinem ehrlichen Namen und zu der ihm gebührenden Stellung im menschlichen Leben zu verhelfen.

So währte der Briefwechsel zwischen beiden Männern schon gegen sechs Monate.

Als die Bitte der Seinigen ihn dann besiegt und er zu der Fahrt auf dem Amazonenstrome zugestimmt hatte, meldete er das dem Richter Ribeiro.

»Binnen zwei Monaten, so lauteten seine Worte, werde ich mich bei Ihnen einfinden und dem ersten Beamten der Provinz bedingungslos zur Verfügung stellen.[212]

– So kommen Sie!« antwortete Ribeiro.

Die Jangada lag jener Zeit schon bereit, die Reise anzutreten. Joam Garral schiffte sich darauf mit seinen Angehörigen, mit Dienern, Bootsleuten und deren Frauen ein. Im Verlaufe der Fahrt ging er zur Verwunderung seiner Gattin und seines Sohnes nur sehr selten an's Land. Meist verschloß er sich in sein Zimmer, schrieb und arbeitete, nicht in Handlungsbüchern oder Rechnungen, sondern an dem von ihm bisher vor jedem Auge verborgen gehaltenen Memoire, das er die »Geschichte meines Lebens« nannte, und welche er bei Aufnahme seines Processes eingeben wollte.

Acht Tage vor seiner zweiten, auf Torres' Denunciation hin erfolgten Verhaftung hatte er, aus Besorgniß, Jener könnte ihm zuvorkommen und seine Absichten vereiteln, einem Indianer ein Schreiben an Ribeiro anvertraut, in welchem er dem Oberrichter der Provinz seine binnen acht Tagen bevorstehende Ankunft anmeldete.

Der Brief ging ab, erreichte auch glücklich seine Adresse, und der Beamte wartete nur noch auf Joam Dacosta selbst, um die Untersuchung des schwierigen, Falles, die er jetzt doch zu glücklichem Ausgange zu führen hoffte, wieder aufzunehmen.

Die letzte Nacht vor der Landung der Jangada bei Manao traf den Richter Ribeiro ein Schlaganfall. Die Denunciation Torres' aber, dessen Tauschgeschäft an der ehrenhaften Weigerung seines Opfers scheiterte, hatte zunächst den erwünschten Erfolg. Joam Dacosta wurde mitten aus dem Schoße seiner Familie weg verhaftet und hatte nun nicht einmal mehr seinen alten Advocaten, um von diesem vertheidigt zu werden.

O, das war freilich ein entsetzlicher Schlag! Doch, der Würfel war einmal gefallen, an Rückzug war nicht mehr zu denken.

Joam Dacosta beugte sich also unter dem Schlage, der ihn so unerwartet traf. Jetzt stand nicht allein mehr seine Ehre, sondern auch die aller seiner Angehörigen auf dem Spiele.[213]

Quelle:
Jules Verne: Die Jangada. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band XXXIX–XL, Wien, Pest, Leipzig 1883, S. 206-214.
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