Siebentes Capitel.
Entschlüsse.

[239] Wenige Stunden später war die ganze Familie wieder in dem großen Saale der Jangada versammelt. Alle befanden sich daselbst – bis auf den Gerechten, den eben der letzte schwere Schicksalsschlag getroffen. Benito stand zerknirscht da und klagte sich an, seinem Vater die letzte Aussicht auf Rettung geraubt zu haben. Ohne das Flehen Yaquitas, seiner Schwester, und ohne die ernsten Ermahnungen Padre Passanha's und Manoels wäre der junge Mann in den ersten Stunden seiner Verzweiflung wohl jeder unüberlegten That fähig gewesen. Man hatte ihn aber stets im Auge behalten und keine Minute allein gelassen. Und doch hatte nur der Edelmuth seine Schritte geleitet, für seinen armen Vater Rache zu nehmen an dem elenden Denuncianten.

Ach, warum hatte Joam Dacosta nicht Alles gesagt, bevor er von der Jangada geführt wurde! Warum hatte er sich vorbehalten, erst vor dem Richter jenes materiellen Beweises seiner Schuldlosigkeit zu erwähnen! Weshalb hatte er selbst nach der Aussetzung Torres' bei seiner Unterredung mit Manoel nicht von jenem Documente gesprochen, das der Abenteurer im Besitz zu haben behauptete! Freilich konnte oder mochte er den Versuchungen des erbärmlichen


Mit den letzten Kräften versuchte er sich anzuklammern. (S. 238.)
Mit den letzten Kräften versuchte er sich anzuklammern. (S. 238.)

Wichtes nicht allzuviel Glauben beimessen, und ganz sicher konnte er ja unmöglich sein, daß Torres jenes wichtige Schriftstück wirklich auch in Händen habe.

Doch, wie dem auch sei, jetzt wußte die trauernde Familie Alles aus Joam Dacosta's eigenem Munde.[239] Alle hatten erfahren, daß nach Torres' Aussagen ein Beweis für die Unschuld des Verurtheilten von Tijuco wirklich vorhanden, daß dieses Document von der Hand des wirklichen Urhebers des Ueberfalles niedergeschrieben sei, und daß der von Gewissensbissen gefolterte Verbrecher dasselbe im Angesichte des Todes seinem Gefährten Torres übergeben habe, der


Die Fahrzeuge stießen von der Jangada ab. (S. 245.)
Die Fahrzeuge stießen von der Jangada ab. (S. 245.)

[240] niedrig genug gesinnt war, mit demselben, statt dem Wunsche des nun Verstorbenen nachzukommen, ein vortheilhaftes Geschäft verbinden zu wollen. Sie wußten freilich auch, daß Torres nun im Zweikampfe gefallen, daß sein Körper von den Wogen des Amazonenstromes verschlungen und er dahin gegangen sei, ohne nur den Namen des wirklich Schuldigen zu nennen!

Ohne ein Wunder schien Joam Dacosta jetzt unwiderruflich verloren. Der Tod des Oberrichters Ribeiro einerseits und der gewaltsame Tod Torres' andererseits – von diesen zwei unerwarteten Schlägen schien er sich nicht mehr erheben[241] zu können. Wir müssen hier einfügen, daß die, wie gewöhnlich leicht erregte öffentliche Meinung sich in Manao ganz gegen den Gefangenen kehrte. Die so unerwartete Verhaftung Joam Dacosta's frischte die Erinnerung an das seit dreiundzwanzig Jahren fast vergessene Verbrechen von Tijuco von neuem auf. Die Gerichtsverhandlungen über den jungen Bergbeamten aus dem Diamantenbezirke, seine Verurtheilung zum Tode und seine Flucht kurz vor der Hinrichtung, Alles wurde wieder besprochen, beurtheilt und womöglich noch ausgeschmückt. Auch ein in dem Diario do Grand Para, der verbreitetsten Zeitung dieser Gegend, erschienener Artikel schilderte ausführlich alle Einzelheiten des grausigen Ereignisses, aber immer voller Gehässigkeit gegen den Gefangenen. Wie sollte auch Jemand ohne Kenntniß der näheren, nur den Angehörigen Joam Dacosta's klar vor Augen liegenden Umstände an die Unschuld des Angeklagten glauben können?

In der ganzen Bevölkerung von Manao herrschte eine Gährung schlimmster Art. Ein Hause von verblendeten Indianern und Schwarzen umschwärmte das Gefängniß und stieß drohende Rufe aus.

In diesem Lande Amerikas, in dem das schreckliche Lynchgesetz so oft zur Anwendung kommt, verfällt auch das Volk selbstverständlich leicht grausamen Gewohnheiten, und bei der gegebenen Gelegenheit konnte man wohl fürchten, daß die tolle Menge auch hier am liebsten mit eigener Hand Justiz geübt hätte.

Welch' traurige Nacht für die Passagiere der Jangada! Herrschaft und Diener fühlen sich gleichmäßig von dem Unglücke des Hauptes ihrer Gemeinschaft getroffen, denn auch das Personal der Fazenda gehörte ja gewissermaßen zur Familie. Alle waren bereit, für die Sicherheit Yaquitas und der Ihrigen zu wachen. Am Ufer des Rio Negro strömten unaufhörlich Eingeborne hin und her, erhitzt von der Neuigkeit der Verhaftung Joam Dacosta's, und wer weiß, zu welcher Ausschreitung sich diese Halbwilden hinreißen lassen konnten.

Indeß verging die Nacht, ohne daß es zu einer Demonstration gegen die Jangada kam.

Am nächsten Tage, als kaum die Sonne ihre Strahlen spendete, versuchten Manoel und Fragoso, welche Benito während dieser Nacht der Angst und des Schreckens nicht einen Augenblick verlassen hatten, diesen seiner verzweifelten Stimmung zu entreißen. Sie führten ihn in's Freie und bemühten sich, ihn zu überzeugen, daß jetzt keine Minute zu verlieren sei, daß sie sich entschließen müßten, zu handeln.[242]

»Benito, begann Manoel, bemeistere Dich, werde wieder ein Mann, werde wieder der Sohn Deiner Eltern!

– Ach, mein armer Vater, rief Benito, und ich, ich habe ihn dem Tode überliefert...

– Nein, nein, fiel Manoel ein, mit Gottes Hilfe ist noch nicht Alles verloren!

– Hören Sie uns an, Herr Benito!« sagte Fragoso.

Der junge Mann strich sich mit der Hand über die Stirn und bemühte sich, seine Fassung wieder zu gewinnen.

»Benito, fuhr Manoel fort, Torres hat niemals ein Wort fallen lassen, das uns über seine Vergangenheit nur die geringste Aufklärung gab. Wir konnten also nicht wissen, wer der Urheber des Verbrechens in Tijuco ist, noch unter welchen Umständen es begangen wurde. Mit Nachforschungen nach dieser Seite würden wir also nur die Zeit vergeuden.

– Und die Stunden sind uns kostbar, meinte Fragoso.

– Und selbst wenn es uns gelänge, zu erfahren, wer jener Gefährte gewesen ist, so weilt dieser doch nicht mehr unter den Lebenden und könnte für die Unschuld Joam Dacosta's kein Zeugniß ablegen. Nicht minder gewiß ist aber, daß ein Beweis dieser Unschuld existirt, und auch an dem Vorhandensein des betreffenden Schriftstückes dürfte nicht zu zweifeln sein, weil Torres sich dadurch Vortheile zu sichern versuchte. Das hat er selbst eingestanden. Dieses Document enthielt ein umfassendes, von der eigenen Hand des Schuldigen niedergeschriebenes Geständniß, und rehabilitirt, neben der ausführlichen Schilderung aller Einzelheiten jenes Verbrechens, unseren Vater vollständig. Ja, tausendmal ja, jenes Document ist vorhanden!

– Aber Torres nicht mehr, rief Benito, und das Document ist mit dem Schurken zu Grunde gegangen!...

– Gemach, gemach, und verzweifle nicht vorzeitig! antwortete Manoel. Du entsinnst Dich gewiß, unter welchen Umständen wir Torres kennen lernten. Das war in den Wäldern von Iquitos. Er verfolgte einen Affen, der ihm eine Metallkapsel geraubt hatte, auf welche er besonders Werth zu legen schien, denn er bemühte sich deshalb schon mehrere Stunden, als jener Affe unter unseren Kugeln fiel. Glaubst Du nun etwa, daß Torres wegen einiger darin enthaltener Goldstücke so darauf versessen gewesen wäre, jenes Etui wieder zu erlangen, und steht Dir nicht noch immer die hohe Befriedigung vor Augen, welche er[243] offenbar nicht heuchelte, als Du ihm die aus den Klauen des Affen gerissene Kapsel zurückgabst?

– Ja... Ja! antwortete Benito. Jenes Etui, das ich in der Hand hielt und wieder auslieferte... vielleicht enthielt es wirklich...

– O, nicht nur vielleicht, nein, gewiß! versicherte Manoel.

– Da fällt auch mir etwas ein, bemerkte Fragoso. Während Sie Ega besuchten und ich auf Linas Rath zur Ueberwachung Torres' an Bord zurückgeblieben war, sah ich ihn... ja, ja, ich sah ihn ein altes, vergilbtes Papier lesen und wieder lesen, wozu er Worte murmelte, welche ich nicht verstehen konnte.

– Das war das Document! rief Benito, der sich an diesen Hoffnungsanker, den einzigen, der ihm blieb, anklammerte. Sollte er es aber nicht aus Vorsicht an einem sicheren Orte verborgen haben?

– Nein, entgegnete Manoel, nein!... Es war Torres viel zu werthvoll, als daß er sich je davon hätte trennen können. Er trug es Tag und Nacht bei sich, und offenbar in jenem Etui!

– Warte, warte, Manoel, rief Benito, jetzt erinnere ich mich... ja, richtig... jetzt wird's mir klar... Bei dem Duell, als ich den ersten Stoß nach Torres' Brust führte, traf meine Manchetta auf einen harten Gegenstand unter seinem Poncho, wie auf eine Metallplatte...

– Das war das Etui! rief Fragoso.

– Gewiß, bestätigte Manoel, da ist kein Zweifel mehr! Das Etui befindet sich in einer Tasche seines Kittels!

– Aber wo finden wir Torres' Leichnam?

– O, den müssen wir wieder entdecken!

– Ja, aber das Papier, erwiderte Benito, das Wasser wird es zerweicht zerstört, unleserlich gemacht haben!

– Warum das, antwortete Manoel, wenn das Etui, welches dasselbe enthält, hermetisch verschlossen war?

– Manoel, rief Benito, dem ein freundlicher Hoffnungsstern aufging, ja, Du hast recht. Wir müssen Torres' Leichnam wiederfinden. Wir durchsuchen den ganzen Theil des Flusses, wenn es sein muß, aber wir finden ihn wieder!«

Der Pilot Araujo wurde herbeigerufen und von dem Vorhaben unterrichtet.

»Schön! sagte Araujo. Ich kenne die Wirbel und Strömungen am Zusammenflusse des Rio Negro mit dem Amazonenstrome ganz genau, und wir könnten wohl Erfolg haben und Torres' Körper wieder auffischen. Nehmen[244] wir zwei Piroguen, die beiden Ubas, ein Dutzend unserer Indianer und fahren schleunigst ab.«

Da trat der Padre Passanha aus dem Zimmer Yaquitas. Benito theilte auch ihm mit kurzen Worten mit, was sie unternehmen wollten, um in den Besitz des so wichtigen Documents zu gelangen.

»Erwähnen Sie meiner Mutter und Schwester davon noch nichts, fügte er hinzu. Wenn diese letzte Hoffnung fehlschlüge, wäre es ihr Tod!

– Geh', mein Sohn, gehe, antwortete Padre Passanha, und Gott stehe Dir bei Deinem Unternehmen bei!«

Fünf Minuten später stießen die vier Fahrzeuge von der Jangada ab, glitten den Rio Negro hinunter und gelangten nach dem Uferabhange des Amazonenstromes an jene Stelle, an der Torres, zu Tode getroffen, in den Wogen des Flusses verschwunden war.

Quelle:
Jules Verne: Die Jangada. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band XXXIX–XL, Wien, Pest, Leipzig 1883, S. 239-245.
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