Drittes Capitel.
Ein redseliger Cicerone.

[32] Am frühen Morgen, gegen sieben Uhr, erschallen nach täuschender Nachahmung des Tones einer Trompete – gleich dem ersten Signal bei der Reveille eines Regiments – im gemeinschaftlichen Zimmer folgende Worte oder richtiger Rufe:

»Allons!... Hopp!... Auf die Füße... und in zwei Tempos!«... womit Pinchinat den jungen Tag einleitet.

Yvernes, das bequemste Mitglied des Quartetts, hätte gewiß drei, oder noch lieber vier, Tempos vorgezogen, um sich aus den molligen Hüllen des Bettes zu schälen. Doch auch er muß dem Beispiele seiner Kameraden folgen und die horizontale Lage gegen die verticale Haltung vertauschen.

»Wir haben keine einzige Minute zu verlieren! bemerkt Seine Hoheit.

– Freilich, schließt Sebastian Zorn sich ihm an, denn morgen müssen wir unbedingt in San Diego sein.[32]

– Schon recht, erwidert Yvernes, ein halber Tag wird ja ausreichen, die Stadt unsers liebenswürdigen Amerikaners zu besuchen.

– Was mich verwundert, läßt sich Frascolin vernehmen, ist, daß überhaupt eine so bedeutende Stadt in der Nähe von Freschal liegt!... Wie mocht' es nur kommen, daß unser Coachman davon kein Sterbenswörtchen gesagt hat?


 »Ganz zu Ihren Diensten und Befehlen, meine Herren!« (S. 35.)
»Ganz zu Ihren Diensten und Befehlen, meine Herren!« (S. 35.)

– Die Hauptsache bleibt doch, daß wir hier sind, alter G-Schlüssel,« bemerkt Pinchinat.[33]

Durch zwei große Fenster dringt reichliches Licht ins Zimmer, das auf etwa eine Meile Länge Aussicht nach einer schönen, mit doppelter Baumreihe geschmückten Straße bietet.

Die vier Freunde beginnen nun in einem behaglichen Nebenraume ihre Toilette, übrigens eine kurze und leichte Arbeit, denn alles ist hier nach den neuesten Verbesserungen eingerichtet: Drehhähne für warmes und kaltes Wasser zur beliebigen Mischung, Waschgeschirre, die sich durch Achsendrehung selbstthätig entleeren, Fuß- und Handwärmer, Zerstäuber mit wohlriechenden Flüssigkeiten, die nach Belieben in Function treten, durch den elektrischen Strom bewegte Ventilatoren, mechanisch bewegte Bürsten, so daß man an die einen nur den Kopf, an die andern die Kleidung oder die Stiefeln zu halten braucht, um erstere gereinigt, letztere blank gewichst zu bekommen.

Des weiteren, ohne die elektrische Uhr und die elektrischen Oelfläschchen, die sich durch einen Fingerdruck nach Bedarf ergießen, zu rechnen, setzen Klingeltasten oder Telephone die verschiednen Theile der ganzen Anlage mit dem Zimmer in sofortige Verbindung.

Und Sebastian Zorn nebst seinen Kameraden kann von hier aus nicht allein mit dem Hôtel sprechen, sondern auch mit den verschiednen Theilen der Stadt, ja vielleicht gar – das ist wenigstens Pinchinat's Ansicht – mit jeder beliebigen Stadt der Vereinigten Staaten.

»Wenn nicht der beiden Welten,« setzt Yvernes hinzu.

In der Erwartung, sich hiervon noch später zu überzeugen, läßt sich zwei Minuten nach drei Viertel acht Uhr in englischer Sprache folgende telephonische Mittheilung vernehmen:

»Calistus Munbar entbietet seinen Guten Morgen allen verehrlichen Mitgliedern des Concert-Quartetts und ersucht sie, sobald sie dazu fertig sind, herunter zu kommen, um im Dining-room des Excelsior-Hôtels das erste Frühstück einzunehmen.

– Excelsior-Hôtel! rief Yvernes. Der Name dieser Caravanserei klingt vielversprechend!

– Calistus Munbar, das ist unser so ungemein zuvorkommender Amerikaner, bemerkt Pinchinat, und der Name ist großartig!

– Liebe Freunde, ruft der Violoncellist, dessen Magen ebenso selbstwillig ist wie sein Eigenthümer, da der Morgenimbiß aufgetragen ist, wollen wir frühstücken, und nachher...[34]

– Nachher... spazieren wir durch die Stadt, fällt Frascolin ein. Doch welche Stadt in aller Welt kann das sein?«

Da unsre Pariser ihre Morgentoilette schon so ziemlich vollendet haben, antwortet Pinchinat telephonisch, daß sie sich binnen fünf Minuten die Ehre geben werden, Herrn Calistus Munbar's Einladung nachzukommen.

Bald darauf begeben sie sich nach dem Personenaufzug, der sich sofort in Bewegung setzt und sie in die monumentale Vorhalle des Hôtels hinunter befördert. An der Rückseite der Flur liegt die Thür nach dem Dining-room, einem großen, in reichem Goldschmuck erglänzenden Saale.

»Ganz zu Ihren Diensten, meine Herren, ganz zu Ihrem Befehl!«

Der Herr vom vorigen Abend ist es, der diesen Satz von zehn Wörtern ausspricht. Er gehört dem Typus von Persönlichkeiten an, von denen man sagen kann, daß sie sich gleich selbst vorstellen. Erscheint es nicht, als ob man mit ihnen schon lange oder richtiger, schon »von jeher« bekannt wäre?

Calistus Munbar kann zwischen fünfzig und sechzig Jahre zählen, sieht aber höchstens wie ein mittlerer Vierziger aus. Er ist über mittelgroß, ziemlich beleibt und hat starke Gliedmaßen. Gesund und kräftig, zeigt er sichre Bewegungen – kurz, er »platzt« vor Gesundheit, wenn dieser Ausdruck erlaubt ist.

Dem Sebastian Zorn und seinen Collegen sind solche Leute – deren giebt es ja in den Vereinigten Staaten nicht so wenige – schon oft in den Weg gelaufen. Der gewaltige, kugelrunde Kopf Calistus Munbar's strotzt von noch blondem, üppigem Haar, das auf- und abschwankt, wie Baumlaub unter dem Winde; sein Teint ist recht frisch; der ziemlich lange, rothgelbe Bart läuft in zwei Spitzen aus; den Schnurrbart hat er wegrasiert; der an den Lippenwinkeln etwas hinausgezogene Mund erscheint lächelnd, sogar scherzhaft; die Zähne gleichen blendendweißem Elfenbein; die an der Spitze etwas verdickte Nase, mit leicht beweglichen Flügeln und mit zwei lothrechten Falten unter der Stirn solid befestigt, trägt einen Klemmer, der von einer seinen, gleich einem Seidenfaden schmiegsamen silbernen Schnur gehalten wird. Hinter den Gläsern des Klemmers blitzt ein bewegliches Auge mit grünlicher Iris auf, deren Pupille wie von Kohlengluth erleuchtet aussieht. Dieser Kopf ist mit den Schultern durch einen wirklichen Stiernacken verbunden und der Rumpf auf fleischigen Ober-, nebst tüchtigen Unterschenkeln über etwas großen Füßen aufgebaut.

Calistus Munbar trägt ein weites, katechufarbenes Jacket von Diagonalstoff. Aus der Tasche an der Seite lugt der Zipfel des Taschentuchs hervor. Die stark[35] ausgeschnittne Weste wird von drei goldnen Knöpfen geschlossen gehalten. Von einer Tasche derselben zur andern hängt bogenförmig eine schwere Kette, die an dem einen Ende einen Chronometer, am andern einen Pedometer trägt, ohne die Breloques, die in ihrer Mitte klimpern und klirren. Dieser Goldschmuck wird noch vervollständigt durch einen wahren Rosenkranz von Ringen, womit die vollen, rosenrothen Finger verziert sind. Das tadellos weiße, steife und glanzgeplättete Hemd läßt drei schöne Diamanten sehen und läuft in einen breit zurückgeschlagenen Kragen aus, unter dem eine nicht recht zu bezeichnende Cravatte, mehr nur ein braunrother Galon, herabhängt. Das Beinkleid aus streifigem Stoffe mit weiten Falten verengert sich nur über den mit Aluminiumagraffen geschlossenen Schuhen.

Die Physiognomie dieses Yankee ist im höchsten Maße ausdrucksvoll – die Physiognomie der Leute, die an nichts zweifeln und »die noch ganz andre Dinge gesehen haben«, wie man zu sagen pflegt. Der brave Mann weiß offenbar, was er will, und ist obendrein energisch, was man an der Spannkraft seiner Muskeln und an der sichtbaren Zusammenziehung seines Masseters erkennt. Endlich lacht er gern, und das recht laut, doch mehr durch die Nase als durch den Mund, also in einer Art Kichern, einem hennitus, wie es die Physiologen nennen.

Das ist dieser Calistus Munbar. Beim Eintritt des Quartetts lüftet er den breitkrämpigen Hut, dem eine Feder à la Ludwig XIII. nicht übel angestanden hätte. Er drückt den vier Künstlern die Hände und führt sie dann nach einer Tafel, worauf der Theekessel siedet und der landesübliche Braten dampft. Er spricht unausgesetzt und läßt überhaupt keine Frage aufkommen – vielleicht um einer Antwort auszuweichen – indem er die Vorzüge seiner Stadt hervorhebt, die wunderbare Gründung derselben rühmt, ohne Unterlaß in seinem Monologe fortfährt und diesen nach Beendigung des Frühstücks mit den Worten schließt:

»Wollen Sie mir nun gefälligst folgen, meine Herren! Doch eine Warnung...

– Und die wäre? fragt Frascolin.

– Es ist hier strengstens verboten, auf den Straßen auszuspucken.

– Das ist unsre Gewohnheit nie gewesen, protestiert Yvernes.

– Desto besser, so werden Sie vor Geldstrafen gesichert sein.

– In Amerika... und nicht ausspucken!« murmelt Pinchinat mit einem Tone, in dem sich Ueberraschung und Unglauben vermischen.[36]

Es wäre schwierig gewesen, sich einen Führer zu verschaffen, der gleichzeitig ein Erklärer wie Calistus Munbar gewesen wäre. Er kennt diese Stadt gründlichst. Hier giebt es kein Hôtel, das er nicht zu nennen, kein Haus, von dem er nicht zu sagen wüßte, wer es bewohnte, giebt es keinen Vorüberkommenden, der ihn nicht freundlich begrüßt hätte.

Die ganze Stadt ist sehr regelmäßig angelegt. Alleen und Straßen, letztere auch mit Schutzdach über den Trottoirs, schneiden sich, wie die Linien eines Schachbretts, in rechten Winkeln. Gleichmäßigkeit beherrscht den ganzen geometrischen Plan; doch auch an Abwechslung fehlt es nicht, denn die Häuser folgen, was Styl und äußeres Aussehen wie innere Einrichtung betrifft, keiner andern Regel, als der Phantasie der Architekten. Mit Ausnahme einiger, mehr dem Handel dienenden Straßen, bilden die Häuser der übrigen mehr eine Art Paläste mit ihren, von eleganten Nebengebäuden begrenzten Vorhöfen, dem architektonischen Reichthum ihrer Façaden, mit der luxuriösen Ausstattung der Wohnräume und den Gärten oder richtiger den Parken, die zu jedem Grundstück gehören. Immerhin fällt es auf, daß die Bäume darin nirgends ihre volle Entwicklung erreicht haben. Dasselbe gilt für die, an den Durchschnittsstellen der Hauptverkehrsadern ausgesparten Squares, auf denen man zwar Rasenflächen von entzückender Frische findet, während die Baumgruppen mit ihrem Gemisch von Arten aus der gemäßigten und der heißen Zone dem Erdboden noch nicht genug Nährstoffe abgesaugt zu haben scheinen. Gerade diese Eigenthümlichkeit bildet einen scharfen Gegensatz zu dem Theile des westlichen Amerika, wo in der Nachbarschaft der großen californischen Städte geradezu Riesenwälder die Regel sind.

Das Quartett schlenderte so für sich hin, wobei sie das betreffende Stadtviertel jeder nach seiner Neigung in Augenschein nahmen, Yvernes angezogen von dem, was Frascolin weniger interessierte, Sebastian Zorn von dem, was Pinchinat mehr gleichgiltig ließ... alle jedoch höchst begierig, das Geheimniß zu durchdringen, das die ihnen unbekannte Stadt umhüllte. Die Verschiedenheit der Anschauungen mußte gerade eine Menge recht bezeichnender Beobachtungen ergeben. Uebrigens ist ja auch Calistus Munbar bei der Hand, der auf jede Frage eine Antwort weiß. Doch was sagen wir... eine Antwort?... Er wartet gar nicht ab, bis man ihn fragt, er spricht, plaudert, erklärt in einemfort. Seine Wörtermühle dreht sich schon beim leisesten Lufthauch.

Eine Viertelstunde nach dem Weggange aus dem Excelsior-Hôtel sagt Calistus Munbar:[37]

»Wir befinden uns jetzt in der dritten Alleestraße, und deren hat die Stadt dreißig. Diese hier, die an Verkaufsläden reichste, bildet unsern Broad-way, unsre Regent-stret, unsre Große Friedrichsstraße oder unsern Boulevard des Italiens. In ihren Magazinen und Bazaren findet man das Ueberflüssige neben dem Nothwendigen, alles, was für verfeinertes Wohlleben und modernen Comfort nur irgend verlangt werden kann.

– Die Magazine sehe ich wohl, bemerkt Pinchinat, doch keine Einkäufer...

– Vielleicht ist es noch zu früh am Morgen?... setzt Yvernes hinzu.

– Nein, das kommt daher, antwortet Calistus Munbar, daß die meisten Bestellungen telephonisch oder auch telautographisch erfolgen...

– Telautographisch?... Was bedeutet das? fragt Frascolin.

– Das bedeutet, daß wir vielfach den Telautographen benützen, einen sinnreichen Apparat, der die Handschrift ebenso überträgt, wie das Telephon die Sprache, ohne den Kinetographen zu vergessen, der alle Bewegungen nachbildet und für das Auge dasselbe ist, was der Phonograph für das Ohr ist – und endlich das Telephot, das jedes Bild wiedergiebt. Der Telautograph bietet eine weit größere Sicherheit als die einfache Depesche, mit der jeder Beliebige Mißbrauch treiben kann, deshalb können wir auf elektrischem Wege Bestellungen aufgeben und Rechnungen senden oder Verträge schließen...

– Auch Eheverträge vielleicht... unterbricht ihn Pinchinat ironischen Tones.

– Gewiß, Herr Bratschist. Warum sollte man sich nicht mittelst elektrischen Drahtes verheiraten können...

– Und auch wieder scheiden?...

– Auch wieder scheiden! Das kommt sogar noch häufiger vor!«

Der Cicerone lacht dazu so unbändig, daß alle Schmuckgegenstände an seiner Weste zittern und klirren.

»Sie sind recht lustiger Natur, Herr Munbar, sagt Pinchinat, der von der Heiterkeit des Amerikaners angesteckt wird.

– Warum nicht? Wie ein Schwarm Buchfinken an einem sonnigen Tage!«

Jetzt zeigt sich eine größere Querstraße. Es ist die Neunzehnte Alleestraße, aus der jeder Handelsverkehr verbannt ist. Durch dieselbe verlaufen, wie durch die andern, zwei Trambahngleise. Schnell rollen die Wagen darüber hin, ohne ein Körnchen Staub aufzuwirbeln, denn die mit einem unveränderlichen Belag von Karry oder australischem Jarraholz – warum nicht von brasilianischem Mahagoni? – versehene Straßenfläche ist so sauber, als hätte man sie mit[38] Smirgelpapier abgerieben. Frascolin, der alle physikalischen Erscheinungen scharf beobachtet, meint, daß sie unter den Füßen fast einen metallischen Klang hören lasse.

»Das sind offenbar großartige Eisenindustrielle! sagte er für sich. Nun stellen sie gar die Fahrwege aus Eisenguß her!«

Eben wollte er sich bei Calistus Munbar darüber näher unterrichten, als dieser ausrief:

»Sehen Sie sich dieses Hôtel an, meine Herren!«

Er zeigt dabei nach einem umfänglichen und großartigen Bauwerk, dessen Seitenflügel, die einen Schmuckhof begrenzen, durch ein Gitter aus Aluminium verbunden sind.

»Dieses Hôtel, man könnte sagen, dieser Palast wird von einer der ersten Familien der Stadt bewohnt. Ich erwähnte Ihnen bereits Jem Tankerdon. Der Mann ist Eigenthümer unerschöpflicher Petroleumquellen in Illinois und der reichste und deshalb der ehrbarste und verehrteste unsrer Mitbürger...

– Mit einem Vermögen von Millionen? fragt Sebastian Zorn.

– Pah! stieß Calistus Munbar hervor. Eine Million ist für uns so viel wie ein Dollar, und deren giebt's hier Hunderte! In unsrer Stadt wohnen manche überreiche Nabobs. Damit erklärt es sich, daß die Kaufleute in den Handelsvierteln bald ein Vermögen machen... ich meine die Detailhändler, denn von Großhändlern findet sich auf diesem, in der Welt einzig dastehenden Mikrokosmos kein einziger...

– Aber Industrielle? fragte Pinchinat weiter.

– Industrietreibende giebt es hier nicht!

– So doch wohl Rheder? ließ sich Frascolin vernehmen.

– Ebensowenig!

– Also lauter Rentiers? sagte darauf Sebastian Zorn.

– Nichts als Rentiers, neben Kaufleuten, die im besten Zuge sind, sich eine schöne Rente anzusammeln.

– Nun, aber Handwerker doch auch? bemerkte Yvernes.

– Wenn man Handwerker braucht, läßt man sie von auswärts kommen, und wenn die Leute fertig sind, kehren sie wieder zurück... natürlich mit einem hübschen Batzen Geld in der Tasche.

– Doch selbstverständlich, Herr Munbar, sagt Frascolin, haben Sie auch einige Arme in Ihrer Stadt, und wäre es nur, um die Rasse nicht ganz aussterben zu lassen.[39]

– Arme, mein Herr zweiter Geiger?... Von solchen würden Sie keinen einzigen entdecken!

– So ist das Betteln wohl strengstens verboten?...

– Zu einem solchen Verbote fehlte jede Veranlassung, da die Stadt Bettlern gar nicht zugänglich ist. So etwas paßt für die Städte der Union mit ihren Stiften, Asylen und Arbeitshäusern... und mit den Besserungsanstalten, die jene vervollständigen...

– Wollen Sie damit sagen, daß Sie keine Gefängnisse hätten?

– So wenig, wie wir Gefangene haben.

– Doch mindestens Verbrecher oder Uebelthäter?

– Diese ersuchen wir, in der Alten oder der Neuen Welt zu bleiben, wo sie ihrem Berufe unter günstigeren Umständen obliegen können.

– Wahrhaftig, Herr Munbar, ruft Sebastian Zorn, Ihren Worten nach würde man kaum glauben, sich in Amerika zu befinden.

– Da waren Sie noch gestern, Herr Violoncellist, antwortet dieser merkwürdige Cicerone.

– Gestern? versetzt Frascolin, bemüht, sich den Sinn dieser dunkeln Rede zu deuten.

– Gewiß! Heute befinden Sie sich in einer ganz unabhängigen, freien Stadt, auf die die Union gar kein Recht hat, die nur sich selbst regiert...

– Und deren Name lautet...? fragt Sebastian Zorn, bei dem schon die angeborne Reizbarkeit durchzubrechen anfängt.

– Deren Name? antwortet Calistus Munbar. Gestatten Sie mir, ihn vorläufig noch zu verschweigen.

– Und wann werden wir ihn erfahren?

– Wenn Sie den Besuch der Stadt vollendet haben, worüber sie sich übrigens sehr geschmeichelt fühlen wird.«

Dieser so zurückhaltende Amerikaner ist mindestens ein eigenartiger Mann. Alles in allem kommt nicht so viel darauf an. Vor der Mittagsstunde wird das Quartett seinen merkwürdigen Spaziergang vollendet haben, und wenn es den Namen der Stadt auch erst im Augenblick der Abreise davon erfährt, kann es sich ja wohl damit begnügen. Auffällig an der Sache ist nur eines: Wie kommt es, daß eine so bedeutende Stadt an der Küste Californiens liegt, ohne der Föderation der Vereinigten Staaten anzugehören, und ferner, wie sollte man es erklären, daß der Führer der Coach nicht darauf gekommen war, ihrer Erwähnung[40] zu thun? Das wichtigste bleibt es immerhin, daß die vier Künstler vor Ablauf von vierundzwanzig Stunden in San Diego eintreffen, wo ihnen dieses Räthsel schon gelöst werden wird, im Falle, daß Calistus Munbar sich nicht dazu herbeiließe.

Diese wunderliche Persönlichkeit hat sich aufs neue ihrer wortreichen Beschreibungslust hingegeben, nicht ohne durchblicken zu lassen, daß sie sich auf weitere Erklärungen nicht einzulassen wünscht.

»Meine Herren, sagt der Amerikaner, hier stehen wir nun am Eingange zur Siebenunddreißigsten Avenue. Betrachten Sie die bezaubernde Perspective! Auch hier[41] giebt es keine Magazine oder Bazare, so wenig wie den Straßentrubel, der sonst die Handelsthätigkeit kennzeichnet. Nur große Privatwohnungen; die Insassen derselben sind aber nicht so vermögend, wie die der Neunzehnten Avenue, es sind mehr kleine Rentiers mit zehn bis zwölf Millionen...

– Arme Schlucker, nicht wahr? spöttelt Pinchinat, dessen Lippen sich zu einem mitleidigen Lächeln verziehen.


Man sah wohl die Magazine, aber keine Käufer. (S. 38.)
Man sah wohl die Magazine, aber keine Käufer. (S. 38.)

– Oho, Herr Bratschist, erwidert Calistus Munbar, einem andern gegenüber kann man immer ein halber Bettler sein. Ein Millionär ist ja schon reich gegen den, der nur hunderttausend Francs besitzt; er ist es aber nicht gegen den, der hundert Millionen sein eigen nennt!«

Wiederholt konnten unsre Künstler bemerken, daß von allen Wörtern, die ihr Cicerone gebrauchte, das Wort »Million« – ein Wort von wahrhaft zauberischer Wirkung – am häufigsten wiederkehrte. Beim Aussprechen desselben blies er die Backen so stark auf, daß es einen richtig metallischen Klang bekam. Es schien fast, als prägte er beim Sprechen schon Goldstücke aus. Sind es auch keine Diamanten, die seinen Lippen, wie dem Munde des Pathenkindes der Feen Perlen und Smaragde, entquellen, so sind es mindestens vollwerthige Goldstücke.

Noch immer spazieren Sebastian Zorn, Pinchinat, Frascolin und Yvernes durch die merkwürdige Stadt, deren geographische Bezeichnung ihnen noch unbekannt ist. Hier belebte Straßen mit einer Menge Menschen in höchst anständiger Kleidung, ohne daß das Auge jemals durch die Lumpen eines Verarmten verletzt wird. Ueberall Tramwagen, Karren und andre Gefährte, die alle mittelst Elektricität bewegt werden. Einzelne große Verkehrsadern sind mit beweglichen Trottoirs versehen, die mittelst einer endlosen Kette im Kreise laufen und worauf die Leute so lustwandeln, als ob sie in einem fahrenden Bahnzuge hin und her gingen, an dessen Eigenbewegung sie natürlich theilnehmen.

Außerdem verkehren besondre elektrische Wagen, die auf der Straße so sanft wie die Bälle auf der Billardtafel dahinrollen. Equipagen im eigentlichen Sinne des Wortes, also Wagen für ausschließliche Personenbeförderung, die von Pferden gezogen werden, trifft man nur in den allerreichsten Stadttheilen.

»Ah, da ist auch eine Kirche!« ruft Frascolin.

Er zeigt dabei nach einem sehr massigen Bauwerke ohne hervortretendem architektonischen Styl, eine Art »Savoyischer Pastete«, die man in die Mitte eines Platzes mit üppigen Rasenflächen gesetzt hat.[42]

»Das ist der protestantische Tempel, erklärt Calistus Munbar, während er vor dem Gebäude Halt macht.

– Giebt es in Ihrer Stadt auch katholische Kirchen? fragt Yvernes.

– O ja. Uebrigens muß ich Ihnen bemerken, daß wir in unsrer Stadt, obwohl es auf der Erde gegen tausend verschiedne Religionen giebt, nur dem Katholicismus oder dem Protestantismus huldigen. Es ist hier nicht so wie in den Vereinigten Staaten, die durch die Religion – wenn nicht schon durch die leidige Politik – veruneinigt werden und wo es ebensoviele Secten wie Familien giebt, wie z. B. Methodisten, Anglikaner, Presbyterianer, Anabaptisten, Wesleyaner u. s. w. – Hier leben nur Protestanten vom calvinistischen Bekenntniß oder römische Katholiken.

– Und welcher Sprache bedient man sich meist?

– Englisch und französisch werden gleich geläufig gesprochen.

– Unsern Glückwunsch dazu! sagt Pinchinat.

– Die Stadt ist deshalb, fährt Calistus Munbar fort, in zwei annähernd gleiche Hälften getheilt. Hier befinden wir uns...

– In der westlichen Hälfte, glaub' ich? fällt Frascolin ein, der sich nach dem Stande der Sonne orientiert.

– In der westlichen?... Nun ja, wenn Sie wollen...

– Wie?... Wenn ich will? erwidert die zweite Geige, sehr erstaunt über eine solche Antwort. Verändern sich denn die Himmelsrichtungen der Stadt nach dem Wunsche jedes Beliebigen?

– Ja und nein... antwortet Calistus Munbar. Doch davon später. Ich komme also auf diese Stadthälfte zurück... auf die westliche, wenn es Ihnen so beliebt, ausschließlich bewohnt von Protestanten, die auch hier immer praktische Leute geblieben sind, während die raffinierteren, mehr der Phantasie nachgebenden Katholiken die andre Hälfte einnehmen. Ich sagte Ihnen schon, daß das Gebäude vor uns der protestantische Tempel ist.

– So sieht er auch aus. Bei seinem schwerfälligen Baustyle kann das Gebet darin keine Erhebung empor zum Himmel, sondern muß eine Herniederbeugung zur Erde sein...

– Gut gebrüllt, Löwe! ruft Pinchinat. Doch in einer so modern ausgestatteten Stadt, Herr Munbar, kann man wohl auch die Predigt oder die Messe durch das Telephon anhören?

– Ganz richtig.[43]

– Und kann auch telephonisch beichten?...

– So wie man sich mittelst Telautographen verheiraten kann, und Sie werden zugeben, daß das eine sehr praktische Einrichtung ist.

– Das will ich meinen, Herr Munbar, bestätigt Pinchinat, praktisch aus dem ff!«

Quelle:
Jules Verne: Die Propeller-Insel. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXVII–LXVIII, Wien, Pest, Leipzig 1897, S. 32-44.
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