Vierzehntes Kapitel.
Schlag auf Schlag.

[202] Es lag jetzt klar auf der Hand, daß bei der ganzen Angelegenheit nur noch der Schenkwirt Kroff und der Privatlehrer Dimitri Nicolef in Frage kamen. Das Restchen des in einer Ecke der Feuerstatt gefundenen Papiers schloß jeden Gedanken daran aus, daß das Verbrechen von einem jener Landstreicher begangen sein könnte, die nach den polizeilichen Meldungen diesen Teil der Provinz Livland unsicher machten. Wie wäre es nach der Mordtat einem jener umherlungernden Gesellen möglich gewesen, unbemerkt in das Zimmer des Reisenden einzubrechen und das Schüreisen darin niederzulegen, da man doch annehmen mußte, daß dieses zum Aufsprengen des Ladens gedient hatte, wie hätte ein solcher auf den Herd das Blatt Papier werfen können, das bis auf den in der Asche gefundenen Rest verbrannt war? Und wenn Dimitri Nicolef und Kroff noch so fest geschlafen hätten, wie wäre es denkbar, daß sie von all dem Vorgegangenen gar nichts gehört hätten? Und wie sollte endlich ein unbekannter Verbrecher auf den Gedanken gekommen sein, die Verantwortung für seine Schandtat auf den (zweiten) Reisenden zu wälzen?... Nach dem Morde und dem Gelingen des Raubes wäre ein solcher doch sicherlich schnellstens entflohen und hätte sich bei Tagesanbruch schon weit vom Kabak »Zum umgebrochenen Kreuze« befunden.

Das lehrte ja der gesunde Menschenverstand. Die Untersuchung mußte sich also auf die beiden, in ihrer gesellschaftlichen Stellung so verschiedenen Männer beschränken und zwischen ihnen die Entscheidung treffen.

Auch die ruhigsten Gemüter versetzte es jedoch in eine gewisse Aufregung, daß nach der zweiten Hausdurchsuchung in der Schenke gegen keinen von beiden ein Verhaftsbefehl ergangen war.

Natürlich fand nach den neuerlichen Ergebnissen der Durchsuchung des Kabaks die verschiedene Stimmung der Parteien desto leidenschaftlicheren Ausdruck. Die ganze Sache spitzte sich bei der in zwei Lager gespaltenen Allgemeinheit jetzt nur noch mehr zu, und zwar nicht allein in der Stadt Riga, sondern auch in allen drei Gouvernements der baltischen Provinzen.[202]

Dimitri Nicolef war Slawe, und die Slawen traten ebenso im Interesse ihrer Partei, wie auch deshalb für ihn ein, weil sie ihn des Verbrechens wirklich nicht für fähig halten konnten.

Kroff war germanischer Abstammung und die Deutschgesinnten traten als seine Verteidiger auf... mehr um Dimitri Nicolef zu bekämpfen, als daß sie Interesse für den Inhaber einer ärmlichen Landstraßeschenke gehabt hätten.

Je nach der Anschauung, die sie verteidigten, brachten die Tagesblätter unausgesetzt aufregende Artikel. Man ereiferte sich über die Angelegenheit in den vornehmen Häusern der oberen Gesellschaftsklasse, in den bescheidenen Wohnungen der niederen Bürgerschaft, in den Schreibstuben der Kaufleute und in den Hütten der Arbeiter und Tagelöhner.

Die Lage des Generalgouverneurs wurde unter diesen Umständen immer mißlicher. Die städtischen Wahlen standen nahe bevor. Lärmend und mit zunehmender Begeisterung entschieden sich die Slawen für Dimitri Nicolef als ihren Kandidaten, den sie Frank Johausen jetzt nur um so entschiedener gegenüber stellten.

Die Familie des reichen Bankiers, seine Freunde und seine Kunden waren weit davon entfernt, den Kampf aufzugeben, sie führten ihn vielmehr mit allen ihnen zu Gebote stehenden Mitteln weiter. Ihnen stand – das darf nicht verschwiegen werden – die Macht des Geldes zur Seite und sie machten davon bezüglich der Blätter ihrer Partei den ausgedehntesten Gebrauch. Staats- und Stadtbehörden wurden da unverzeihlicher Schwäche, sogar der Parteilichkeit geziehen. Man forderte die Verhaftung Dimitri Nicolefs, und die, die eine ganz gemäßigte Sprache führten, verlangten wenigstens, daß der Schenkwirt und auch der Lehrer hinter Schloß und Riegel gesetzt würden. So war es von größter Wichtigkeit, daß die Angelegenheit in dem einen oder anderen Sinne Erledigung fände, ehe die Parteien auf dem Kampfplatze der Wahlen aneinanderstießen, und die Abstimmung, die zum ersten Male unter so gespannten Verhältnissen erfolgen sollte, stand jetzt schon vor der Tür.

Wie stand es nun inmitten dieses Konfliktes, von dem er kaum eine Ahnung hatte, mit dem Schenkwirte Kroff?

Den Kabak, wo die Polizisten noch immer streng Wache hielten, konnte er nicht verlassen, so betrieb er seine Wirtschaft unverändert weiter, und jeden Abend kamen seine Kunden, Bauern und Holzfäller, wie vorher in der großen Gaststube zusammen. Immerhin schien es, als ob die Lage der Dinge ihn ein[203] wenig beunruhigte. Ließ man den Lehrer unbehelligt umhergehen, so fürchtete er dafür, in Haft genommen zu werden. Noch unzugänglicher als gewöhnlich, schlug er vor jedem fest auf ihn gerichteten Blick die Augen nieder und beschuldigte Nicolef mit einem Eifer, einer Hartnäckigkeit und mit einer Wut, die ihm das Blut nach dem Kopfe stürmen ließen, so daß man fürchten konnte, er werde vom Schlage getroffen werden.

Gewöhnlich herrscht helle Freude in einem Hause, wo man sich zur Feier einer Hochzeit rüstet, und eine festliche Stimmung beherrscht darin die gesamte Familie. Durch weit geöffnete Fenster läßt man Luft und Heiterkeit hereinströmen. Überall leuchtet und glänzt es von Glück.

In der Wohnung Dimitri Nicolefs war das freilich nicht der Fall. Vielleicht dachte er zwar kaum noch an die Angelegenheit, die sein ruhiges Leben so grausam erschüttert hatte, doch hatte er nicht das Schlimmste von seinen unerbittlichen Gläubigern, von seinen Todfeinden zu befürchten?

Seit dem letzten Verhör im Amtszimmer des Richters Kerstorf waren nun sieben Tage verflossen. Man schrieb den 13. Mai. Am nächsten Tage war der von Nicolef unterschriebene Schuldschein in fällig. Erschien er am folgenden Morgen nicht mit achtzehntausend Rubeln in der Hand an der Kasse der Gebrüder Johausen, so stand ihm ein gerichtlicher Zahlungsbefehl in Aussicht. Diese Summe besaß er aber nicht, und seine Kinder wußten nichts von der Verbindlichkeit, die auf ihm lastete. Nachdem er mit schwerer Arbeit und strenger Sparsamkeit schon einen Teil der väterlichen Schuld – volle siebentausend Rubel – abgetragen hatte, hatte er gehofft, auch noch den Rest allmählich tilgen zu können, und jetzt sah er sich am Verfalltage von allen Mitteln entblößt, wenn nicht etwa...

Die Herren Johausen sahen der Lösung des Knotens mit sehr verschiedenen Erwartungen entgegen.

Ging die Angelegenheit betreffend das »Umgebrochene Kreuz« zu seinen Gunsten aus, ergab Kerstorfs weitere Untersuchung des Falles noch neue Verdachtsgründe gegen den Schenkwirt, so daß dessen Schuld kaum noch zu bezweifeln war und er in Haft genommen und verurteilt würde, während die Unschuld des Lehrers durch die Verurteilung des wirklichen Schuldigen desto glänzender zutage trat, so hatten die Herren Johausen doch immer noch den Schuldschein in der Hand, den jener nicht einlösen konnte. Dann veranlaßten sie ohne Erbarmen die Exekution gegen ihn, ließen ihn das Blut Karl Johausens und[204] alles das bezahlen, was sie durch ihn, auch an ihrer Eigenliebe, gelitten hatten, ihn, den Rivalen, der gegen den deutschen Teil der Bevölkerung die Fahne des Panslawismus entfaltete.

Zeigte es sich andernfalls, daß Dimitri Nicolef die Mittel zur Tilgung seiner Schuld besaß, so konnte er diese, ihrer Meinung nach, nur durch den Diebstahl im Kabak erlangt haben. Die Herren Johausen wußten recht gut, daß der Lehrer die siebentausend Rubel von der fünfundzwanzigtausend Rubel betragenden Gesamtschuld nur mit dem Aufgebot seiner letzten Hilfsmittel hatte abtragen können. Woher sollte er denn die rückständigen achtzehntausend Rubel nehmen, wenn er sie sich nicht auf verbrecherische Weise verschafft hatte? Übrigens würde sich Nicolef, wenn er diese Summe am Verfallstag brachte, durch die Reichskassenscheine selbst verraten, da er ja nicht wissen konnte, daß deren Nummern im Bankhause bekannt waren, und dann konnte ihm weder die Gunst der Behörden, noch das Eintreten seiner Freunde für ihn mehr etwas nützen, dann war er verloren, rettungslos verloren.

Der Vormittag des nächsten Tages verging, ohne daß Dimitri Nicolef an der Kasse der Gebrüder Johausen erschien.

Am Nachmittage gegen vier Uhr traf ein Billett der Gebrüder Johausen bei ihm ein mit der Erinnerung, die an diesem Tage fälligen achtzehntausend Rubel ohne Verzug einzuzahlen.

Da wollte es das Unglück, daß es Wladimir Yanof war, der den Mahnzettel von dem Boten in Empfang nahm... ja, das Unglück, wie es sich sogleich zeigen wird.

Wladimir nahm von dem Zettel Einsicht. Daraus ersah er, daß Nicolef, der für die Schulden seines Vaters Bürgschaft übernommen hatte, noch mit einer beträchtlichen, an die Gebrüder Johausen zu zahlenden Summe im Rückstande war.

Wladimir begriff alles, da er wußte, daß der Lehrer beim Ableben seines Vaters in großer Geldverlegenheit gewesen war, und doch die Regelung der Nachlaßangelegenheiten auf sich genommen hatte. Er wähnte er im Laufe der Jahre seiner Familie gegenüber kein Wort davon, so geschah das nur, um diese vor weiterer Sorge zu behüten, und weil er immer hoffte, durch Sparsamkeit und redliche Arbeit diese Ehrenschuld abtragen zu können.

Doch Wladimir begriff nicht nur das, sondern sofort auch, was zu tun hier seine Pflicht wäre.[205]

Ihm kam es zu, Dimitri Nicolef, da er es konnte, zu retten. Er besaß ja jetzt eine mehr als hinreichende Summe, die zwanzigtausend Rubel, die Johann Yanof dem Lehrer zur Aufbewahrung übergeben und die ihm dieser vor kurzer Zeit in Pernau unberührt ausgeliefert hatte.

Nun gut, davon wollte er die nötigen achtzehntausend Rubel zur Ausgleichung der Schuld bei den Gebrüdern Johausen nehmen und damit Dimitri Nicolef vor dem ihm drohenden Unheil retten.

Es war jetzt die fünfte Nachmittagsstunde, und das Bankhaus schloß um sechs Uhr.

Wladimir Yanof hatte keine Minute zu verlieren. Entschlossen, von seinem Vorhaben nichts zu sagen, begab er sich nach seinem Zimmer hinauf, entnahm hier dem Schreibtische eine zur Bezahlung der Schuld hinreichende Anzahl Reichskassenscheine, ging, ohne von jemand gesehen worden zu sein, wieder hinunter und schritt auf die Haustür zu.

In diesem Augenblicke wurde die Tür geöffnet. Jean und Ilka traten zusammen ein.

»Du willst ausgehen, Wladimir? fragte das junge Mädchen, ihm die Hand bietend.

– Ja, liebe Ilka, antwortete Wladimir, ein Weg, der mich nicht lange aufhalten wird. Zum Abendessen bin ich bestimmt wieder hier.«

Wenn ihm jetzt auch einen Augenblick der Gedanke kam, den Geschwistern mitzuteilen, was er eben tun wollte, so sah er doch davon ab. Zwang ihn nicht ein Zufall, zu sprechen, so wollte er nicht, daß die Sache noch vor seiner Verheiratung bekannt würde. Erst wenn das junge Mädchen seine Gattin wäre, sollte sie alles erfahren, und er war überzeugt von ihrer Zustimmung dazu, daß er, selbst auf die Gefahr einer Schädigung der eigenen Zukunft, ihren Vater aus seiner Bedrängnis gerettet hätte.

»So geh' denn, Wladimir, sagte sie, und komme rechtzeitig zurück. Ich fühle mich weit ruhiger, wenn du da bist, denn ich fürchte immer, daß mein Vater...

– Ja, der ist trauriger und niedergeschlagener als je, erklärte Jean, dessen Augen in gerechtem Zorn aufblitzten. Diese Elenden werden ihn noch töten!... Er ist krank... kränker vielleicht, als wir annehmen.

– Du übertreibst, Jean, erwiderte Wladimir. Dein Vater hat einen sittlichen Halt, über den seine Feinde nicht triumphieren werden.[206]

– Gott gebe, daß du recht hast, Wladimir!« sagte das junge Mädchen seufzend.

Wladimir drückte ihr warm die Hand.

»Habt nur Vertrauen, fügte er noch hinzu, in wenigen Tagen wird ja alles überstanden sein!«

Damit ging er auf die Straße hinaus und traf zwanzig Minuten später am Bankhause der Gebrüder Johausen ein.

Die Kasse war noch geöffnet und Wladimir trat an den betreffenden Schalter.

Der Kassierer, an den er sich wendete, erklärte ihm, seine Angelegenheit gehe die Inhaber der Firma persönlich an, da sie diese für sich mit Dimitri Nicolef abgeschlossen hätten, und er forderte ihn auf, die Herren in ihrem Privatkontor aufzusuchen.

Die beiden Brüder waren hier anwesend.

»Wladimir Yanof! rief der eine, als ihm dessen Karte übergeben worden war. Der kommt wegen Nicolef!... Er wird uns um Aufschub oder um Prolongation des Wechsels bitten wollen.

– Nein... keinen Tag, keine Stunde! erklärte Frank Johausen in einem Tone, der die Unerbittlichkeit des Mannes verriet. Morgen beantragen wir die Pfändung.«

Von einem der Bureaubeamten unterrichtet, daß die Herren Johausen bereit seien, ihn zu empfangen, trat jetzt Wladimir Yanof in das Kontor ein.

Hier entspann sich sofort folgendes Gespräch:

»Meine Herren, begann Wladimir, ich komme hierher wegen einer Verbindlichkeit, die Dimitri Nicolef Ihnen gegenüber zu erfüllen hat, wegen einer Schuld, die heute fällig ist und wegen der Sie ihm schon haben eine Mahnung zugehen lassen...

– Wie Sie sagen, antwortete Frank Johausen.

– Die Schuldsumme, fuhr Wladimir fort, beträgt einschließlich der aufgelaufenen Zinsen achtzehntausend Rubel.

– Ganz recht, achtzehntausend.

– Und sie rührt von der Bürgschaft her, die Dimitri Nicolef beim Tode seines Vaters für die Befriedigung der Gläubiger des Verstorbenen übernommen hatte.

– Ja, so ist es, bestätigte Frank Johausen, wir können aber unmöglich einen weiteren Aufschub bewilligen.[207]

– Wer verlangt denn von Ihnen einen solchen, meine Herren? versetzte Wladimir in etwas hochmütigem Tone.

– O, warf der ältere der beiden Brüder ein, da wir schon am Vormittage hätten Zahlung erhalten sollen...

– Die wird Ihnen noch heute vor sechs Uhr zugehen, unterbrach ihn Yanof, das ist wohl zeitig genug, denn ich glaube doch nicht, daß Ihre Firma wegen dieser Verzögerung um wenige Stunden schon nahe daran gewesen wäre, Konkurs anzumelden.

– Mein Herr, rief Frank Johausen, ergrimmt über diese kalten und verletzend ironischen Worte, bringen Sie etwa die Summe von achtzehntausend Rubeln?

– Hier ist sie, antwortete Wladimir, indem er ein Bündel Hundertrubelscheine hinhielt. Wo ist nun der Schuldschein?«

Ebenso erstaunt wie gereizt, gaben die beiden Johausen zunächst keine Antwort. Der eine ging nur nach dem in einer Ecke des Zimmers stehenden Panzerschranke, entnahm ihm eine verschließbare Dokumentenmappe und zog aus einem ihrer Fächer den Schuldschein hervor, den er gelassen auf den Tisch legte.

Wladimir ergriff das Papier, prüfte es sorgfältig und überzeugte sich, daß es das von Dimitri Nicolef unterzeichnete Schuldbekenntnis zugunsten der Herren Johausen war. Darauf überreichte er das Päckchen Rubelscheine.

»Bitte, zählen Sie,« sagte er ruhig.

Frank Johausen war sichtbar erbleicht, während Wladimir ihn mit etwas geringschätzigem Blicke ansah. Die Hand des Bankiers war unsicher, so daß er die Scheine fast zerknitterte.

Plötzlich leuchteten seine Augen auf. Eine wilde Freude erglänzte in seinen Zügen, und mit haßerfüllter Stimme rief er:

»Das, Herr Yanof, sind Reichskassenscheine, die gestohlen waren.

– Gestohlen?...

– Ja ja, gestohlen aus der Mappe unseres unglücklichen Poch!

– O nein! Das sind dieselben Scheine, die mir Dimitri Nicolef in Pernau übergeben hat, als er mir das ihm von meinem Vater anvertraute Depot auslieferte.


 »Das sind Reichskassenscheine, die gestohlen waren.« (S. 208.)
»Das sind Reichskassenscheine, die gestohlen waren.« (S. 208.)

– Da erklärt sich ja alles! rief Frank Johausen triumphierend. Er war außer stande, Ihnen dieses Depot zurückzuliefern, und da hat er eine Gelegenheit benützt...«[208]

Wladimir prallte einen Schritt zurück.

»Bei unserer Firma waren die Nummern der Kassenscheine aufgezeichnet worden. Hier, sehen Sie selbst die Liste ein, fuhr Frank Johausen fort, während er aus einem Kasten des Tisches ein mit Ziffern bedecktes Blatt hervorholte.

– Herr... Herr... stammelte Wladimir wie vom Donner gerührt, da er keine zusammenhängenden Worte finden konnte.

– Ja, sprach Frank Johausen weiter, und da Sie diese Kassenscheine von Herrn Nicolef erhalten haben, liegt es auf der Hand, daß er sie von unserem[209] Bankboten gestohlen hat, nachdem er diesen im Kabak 'Zum umgebrochenen Kreuze' ermordet hatte.«

Wladimir Yanof war nicht imstande zu antworten. Er fühlte, wie ihm der Kopf wirbelte, wie ihm die Sinne schwanden, dennoch begriff er bei dieser Unruhe seiner Gedanken, daß Dimitri Nicolef endgültig verloren sei. Die Welt würde sagen, daß er die ihm einst anvertraute Summe unterschlagen und Riga nur auf den Brief Wladimir Yanofs hin in der Absicht verlassen habe, diesen um Verzeihung anzuflehen, nicht aber, ihm das Geld zurückzuerstatten, das er ja nicht mehr besaß. Da – so würde man weiter schließen – führte ihn der Zufall mit Poch im Postwagen zusammen, der eine wohlgefüllte Geldmappe des Bankhauses bei sich trug. Den Armen hätte er dann getötet und beraubt, und es wären die Kassenscheine der Gebrüder Johausen gewesen, die er dem Sohne seines Freundes Yanof, dessen Vertrauen er so schnöde gemißbraucht, zuletzt ausgeliefert hätte.

»Dimitri... preßte Wladimir endlich hervor, Dimitri... er sollte...

– Wenn Sie es nicht selbst getan haben, antwortete Frank Johausen.

– Elender!«

Wladimir Yanof hatte jedoch anderes zu tun, als diese persönliche Beleidigung zu rächen. Daß bei jemand der Gedanke auftauchen könnte, er sei der Urheber des Verbrechens, das machte auf ihn keinen Eindruck. Nur Nicolef war es, um den er sich sorgte.

»Endlich, sagte Frank Johausen, nachdem er das durchgezählte Päckchen Kassenscheine weggelegt hatte, endlich haben wir also den Mordgesellen! Jetzt handelt sichs nicht mehr um einen Verdacht, jetzt liegt die Gewißheit, liegen greifbare Beweise vor! Der Herr Kerstorf hat mir einen verständigen Rat gegeben, als er davon abmahnte, die Nummern der gestohlenen Scheine bekannt zu machen. Früher oder später mußte sich der Mörder selbst fangen, und das ist jetzt geschehen. Ich eile zum Richter Kerstorf, und vor Ablauf einer Stunde wird der Befehl zur Verhaftung Nicolefs ergangen sein!«

Inzwischen war Wladimir Yanof nach der Straße hinausgestürmt. Eiligen Schrittes und fast geistesabwesend wandte er sich dem Hause des Lehrers zu. Mit aller Macht bemühte er sich, die quälerischen Gedanken, die ihn erfüllten, von sich abzuschütteln. Er wollte und konnte nicht eher etwas glauben, als bis sich Nicolef über die Sache erklärt hätte, und diese Erklärung wollte er sofort herbeiführen. Die Kassenscheine waren ja nun einmal dieselben, die Dimitri[210] Nicolef ihm nach Pernau gebracht und von denen er noch keinen einzigen angerührt hatte.

Am Hause angelangt, stieß Wladimir dessen Tür auf.

Im Erdgeschoß weder Jean noch Ilka, überhaupt zum Glücke niemand. Der erste Blick auf Yanof hätte jeden gelehrt, daß über die Familie ein neues, und jetzt ein unabwendbares Unglück hereingebrochen sei.

Wladimir sprang die Treppe hinauf, die zu dem Zimmer des Lehrers führte.

Hier saß Dimitri Nicolef, den Kopf in den Händen, an seinem Arbeitstische. Er erhob sich beim Eintreten Wladimirs, der auf der Schwelle stehen blieb.

»Was wünschest du? fragte Nicolef, der den andern mit einem müden Blicke ansah.

– Dimitri, rief Wladimir, um des Himmelswillen, sprecht, sagt mir alles! Ich verstehe nichts. Rechtfertigt euch... Doch nein, das ist wohl unmöglich!... Gebt mir wenigstens eine Erklärung... mir schwindet der Verstand...

– Was gibt es denn? antwortete Nicoles. Noch ein neues Unglück, das zu so vielen andern hinzukommt?«

Er sprach diese verzweiflungsvollen Worte wie einer, der auf alles gefaßt ist und den kein Schicksalsschlag mehr überraschen kann.

»Wladimir, fuhr er fort, jetzt verlange ich von dir, daß du redest. Mich rechtfertigen?... Wegen was denn?... Du bist also gekommen, zu glauben, ich wäre...«

Wladimir ließ ihn den Satz nicht vollenden.

»Dimitri, sagte er, sich mit übermenschlicher Kraft beherrschend, vor einer Stunde ist eine mahnende Erinnerung hierher gekommen...

– Natürlich von den Gebrüdern Johausen, fiel ihm Nicolef ins Wort. Du weißt also nun, in welcher Lage ich mich dem Bankhause gegenüber befinde. Ich kann die Herren nicht bezahlen... es ist eine Schuld, für die auch die Meinigen zu leiden haben werden. Du siehst also, Wladimir, daß du mein Sohn nicht werden kannst.«

Von tiefer Bitterkeit erfüllt, gab Wladimir hierauf keine Antwort.

»Dimitri, sagte er dann, ich habe mich verpflichtet gefühlt, dieser traurigen Lage ein Ende zu machen.

– Du?

– Ich besaß ja noch die Summe, die Ihr mir in Pernau ausgeliefert hattet.[211]

– Dieses Geld ist aber dein Eigentum, Wladimir. Es rührt von deinem Vater her. Ich habe dir nur eine von mir bisher aufbewahrte Summe übergeben.

– Ja ja, das weiß ich... das weiß ich; und da das Geld mir gehörte, hatte ich auch das Recht, darüber zu verfügen. Ich nahm also die Kassenscheine, dieselben, die Ihr mir gebracht hattet, und bin damit nach dem Bankhause gegangen...

– Das... das hast du getan! rief Nicolef, indem er gegen Wladimir die Arme ausbreitete. Warum hast du das getan?... Es war dein einziges Vermögen. Dein Vater hat es dir nicht hinterlassen, um damit die Schulden des meinigen zu tilgen.

- Dimitri, antwortete Wladimir, die Stimme dämpfend, die Kassenscheine, die ich den Herren Johausen übergeben habe... diese Scheine sind dieselben, die in der Schenke 'Zum umgebrochenen Kreuze' aus der Mappe Pochs gestohlen worden waren und deren Nummern die Bank sich angemerkt hatte.

– Die Kassenscheine... diese Kassenscheine?...«

Als er die Worte wiederholte, stieß Nicolef, der sich dabei erhoben hatte, einen entsetzlichen Schrei aus, der im ganzen Hause widerhallte.

Fast gleichzeitig wurde die Tür des Zimmers aufgerissen.

Ilka und Jean stürzten herein.

Als sie sahen, in welchem Zustande sich der Unglückliche befand, eilten beide auf ihn zu, während Wladimir, bei Seite stehend, das Gesicht in den Händen barg.

Weder der Bruder noch die Schwester dachten zunächst daran, eine Erklärung zu verlangen. Vor allem galt es ihnen, ihrem Vater beizustehen, der zu ersticken drohte. Sie zwangen ihn, sich wieder zu setzen, und übrigens konnte er sich auch gar nicht mehr aufrecht halten. Seinen Lippen entwanden sich nur noch die Worte:

»Gestohlen... die Kassenscheine gestohlen?

– Mein Vater, rief das junge Mädchen, was ist dir geschehen?

– Wladimir, fragte Jean, was ist vorgefallen?... Ist er von Sinnen?«

Da erhob sich Nicolef wieder und trat auf Wladimir zu. Er ergriff dessen Hände und löste sie von seinem Gesichte. Dann begann er, nachdem er den jungen Mann gezwungen hatte, ihn gerade anzublicken, mit halb erstickter Stimme:

»Jene Scheine, die du von mir erhalten hattest, die du nach dem Bankhause der Gebrüder Johausen gebracht hast... diese Scheine sind die[212] selben, die aus der Mappe Pochs, des ermordeten Poch, geraubt worden waren?

– Ja, sagte Wladimir.

– Ich bin verloren... verloren!« stieß Nicolef hervor.

Ohne daß sie es hätten verhindern können, drängte er seine Kinder beiseite, flüchtete aus dem Arbeitszimmer und begab sich nach seiner Wohnstube hinaus. Er schloß sich hier aber nicht ein, wie er es sonst zu tun pflegte. Eine Viertelstunde später eilte er die Treppe hinunter, öffnete die Haustür und lief, wie von Furien gepeitscht, in der Dunkelheit durch die Vorstadt hin.

Jean und Ilka hatten von dem schrecklichen Auftritte nicht das mindeste verstanden. Die Worte: die Scheine gestohlen!... Die Kassenscheine gestohlen! konnten sie noch nicht darüber belehren, daß ihr Vater jetzt der Wucht eines greifbaren Beweises erliegen sollte.

Sie wandten sich also wieder an Wladimir, und dieser berichtete, mit niedergeschlagenen Augen und stammelnden Tones, was er getan hätte, wie er, wo er Nicolef habe retten, aus den Händen der Herren Johausen habe befreien wollen, diesen doch nur ins Verderben gestürzt hätte. Wer hätte ihn jetzt noch für unschuldig halten können, wo die aus der Mappe Pochs gestohlenen Kassenscheine, wenn auch nicht in seinem Besitz, doch in den Händen Wladimir Yanofs gefunden worden waren? Dieser hatte bei den Bankiers ja angegeben, daß er die Scheine mit der von Nicolef aufbewahrten Summe von diesem erhalten habe.

Erschüttert von dieser Mitteilung, weinten Jean und Ilka heiße Tränen.

In diesem Augenblicke meldete das Dienstmädchen, daß einige Polizisten nach Herrn Dimitri Nicolef zu fragen da seien. Vom Untersuchungsrichter auf die Denunziation Frank Johausens hin abgesendet, waren sie gekommen, den Mörder aus dem »Umgebrochenen Kreuze« zu verhaften.

Die Nachricht von der bevorstehenden Verhaftung hatte sich in der Stadt noch nicht verbreitet. Niemand wußte, daß die vielbesprochene Angelegenheit eine neue Wendung... voraussichtlich die letzte, genommen habe, mit der diese bald eine endgültige Erledigung finden müßte.

Während die Polizisten das ganze Haus absuchten und sich dabei überzeugten, daß Nicolef jetzt nicht darin war, eilten Jean und Ilka, ohne vorherige Verabredung, sondern nur von dem gleichen Gefühle getrieben, auf die Straße.

Sie wollten den Unglücklichen aufsuchen, ihn auf keinen Fall verlassen, und trotz der erdrückendsten Beweise, die sich mehr und mehr angesammelt hatten,[213] weigerte sich eine Stimme ihres Innern, ihn für schuldig zu halten. Ihre zu Freud und Leid verbundenen Herzen empörten sich bei dem Gedanken an seine Schuld, obgleich die letzten Worte Nicolefs: »Ich bin verloren!... Bin verloren!« wie ein Geständnis klangen, das ihm wider Willen entschlüpft wäre.

Jetzt war es schon Nacht geworden. Mehrere Leute hatten Nicolef durch die Vorstadt hineilen sehen. Wladimir, Ilka und Jean liefen schnell in derselben Richtung hin und erreichten die alte Umwallung der Stadt. Vor ihnen lag nun das offene Land in tiefer Finsternis. Sie schlugen die Straße nach Pernau ein, indem sie einem gewissen Instinkte folgten, der sie nach dieser Seite hintrieb.

Zweihundert Schritte weiterhin blieben alle drei vor einem auf dem Fußwege der Straße liegenden Körper stehen.

Das war Dimitri Nicoles. Neben ihm lag ein blutiges Messer.

Ilka und Jean warfen sich über die Leiche ihres Vaters, während Wladimir nach dem nächsten Hause eilte, um Hilfe herbeizuholen.

Einige Bauern kamen bald mit einer Tragbahre, und Nicolef wurde in sein Haus geschafft, wo der schleunigst herbeigerufene Doktor Hamine nur noch die Ursache des plötzlichen Todes feststellen konnte.

Dimitri Nicolef war ganz ebenso verletzt, wie damals Poch, durch einen Stich ins Herz, und das Messer hatte im Umkreis der Todeswunde einen ganz ähnlichen Eindruck hinterlassen, wie der, der an der Leiche des Bankbeamten gefunden worden war.

Der Unselige hatte sich verloren gefühlt und durch Selbstmord geendet, um der Strafe für sein Verbrechen zu entgehen.

Quelle:
Jules Verne: Ein Drama in Livland. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXXXV, Wien, Pest, Leipzig, 1905, S. 202-214.
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