Viertes Kapitel.
Im Postwagen.

[46] Zu jener Zeit gab es nur zwei Beförderungsmittel für die endlosen Ebenen der baltischen Provinzen, wenigstens wenn der Reisende sich nicht begnügen wollte, diese als Fußgänger oder als Reiter zu durchmessen. Von Eisenbahnen bestand erst eine: die, die sich an der Küste von Esthland und weiter um den finnischen Meerbusen hinzog. Reval hatte damit eine bequeme Verbindung mit St. Petersburg, die beiden Hauptstädte Kurlands und Livlands, Riga und Mitau, aber waren noch durch keinen Schienenstrang mit der Metropole des russischen Reiches verbunden.

Die Post oder eine Telega, eine andere Fahrgelegenheit stand den Reisenden nicht zur Verfügung.

Die Telega ist bekanntlich ein niedriges Gefährt, mehr ein Karren ohne metallene Verbindung, dessen Einzelteile nur durch Stricke zusammengehalten[46] werden. Als Sitz dient ein mit Rindenstücken gefüllter Sack oder einfach das eigene Gepäck des Insassen, der sich selbst noch mit einem Riemen festschnallen muß, um die Stöße auf den unebenen Straßen ungefährdet auszuhalten.

Die Post – ähnlich der Kibitka – ist etwas besser, kein Karren, sondern mehr ein Wagen, der an Bequemlichkeit zwar noch viel zu wünschen übrig läßt, worin man aber wenigstens gegen Wind und Regen geschützt ist. Dieser Postwagen enthält vier Sitzplätze, und der, der damals zwischen Riga und Reval verkehrte, wurde in der Woche nur zweimal abgefertigt.

Im Winter konnte natürlich weder die Post, noch eine Telega oder ein anderer Wagen die übereisten Wege befahren. Man ersetzte diese dann – entschieden eine Verbesserung – durch den »Perklwsnoio«, eine Art schwerfälligen Schlittens, den sein Gespann schnell über die weißen Steppen der baltischen Provinzen beförderte.

Am heutigen Morgen – am 13. April – erwartete der nach Reval abzulassende Postwagen nur einen einzigen Passagier, der seinen Platz am Tage vorher bestellt hatte. Zur Abfahrtsstunde stellte er sich ein: ein Mann etwa von fünfzig Jahren, von gutem Aussehen, heiterem Gesicht und lächelndem Munde. Mit einem dicken Regenmantel über seinem Rocke aus grobem Tuch warm bekleidet, hielt er eine Briefmappe sorgsam unter dem Arme fest.

Bei seinem Eintreten ins Bureau begrüßte ihn der Postschaffner mit folgenden Worten:

»Sieh da, Poch, du warst es also, der sich einen Platz im Wagen bestellt hatte?

– Jawohl... ich war's, Broks.

– Eine Telega ist dir also nicht gut genug?... Du brauchst einen guten Wagen mit drei Pferden?

– Und einen zuverlässigen Schaffner wie dich, alter Freund.

– Seh' einer, Väterchen, auf die Unkosten kommt dir's also nicht an...

– Nein, und vor allem nicht, wenn sie ein anderer zu decken hat.

– Wer ist denn dieser andere?

– Mein Chef... Frank Johausen.

– Ah... freilich, rief der Postmann, der hat es ja dazu, den ganzen Wagen zu belegen, wenn er das wünscht.

– Gewiß, Broks; ich habe zwar nur einen einzigen Platz bestellt, hoffe aber doch, Reisegesellschaft zu bekommen. Ganz allein... das wird langweilig.[47]

– Ja mein armer Poch, damit wirst du dich diesmal schon abfinden müssen. Es kommt ja nicht oft vor, heute ist es aber gerade der Fall. Außer dir hat sich niemand einen Platz vorbehalten.

– Gar niemand?

– Kein Mensch, und wenn nicht unterwegs noch einer einsteigt, mußt du schon mit mir schwätzen. Na, leg' dir keinen Zwang auf! Du weißt ja, so ein bißchen Unterhaltung stört mich nicht...

– Mich auch nicht, Broks!

– Wie weit fährst du denn mit?

– Bis ans Ende der Strecke, nach Reval... zum Korrespondenten der Herren Johausen.«

Mit einem Augenzwinkern deutete jetzt Poch auf die Briefmappe, die er unter dem Arme hielt und die an seinem Gürtel außerdem mit einer kupfernen Kette angeschlossen war.

»Da... da... Väterchen, antwortete Broks, es ist unnötig, mehr darüber zu schwätzen... wir sind nicht mehr allein!«

Soeben war ein Reisender, der die Andeutung des Bankbeamten wohl bemerkt haben konnte, ins Postamt eingetreten.

Dieser Reisende schien sich zu bemühen, nicht erkannt zu werden. Er trug einen langen Oberrock mit über den Kopf gezogener Kapuze, so daß sein Gesicht zum Teil verhüllt war.

»Haben Sie noch einen Platz im Postwagen frei? fragte er, auf den Schaffner zutretend.

– Sogar noch drei, antwortete Broks.

– Nun, einer ist ja genug für mich.

– Nach Reval?..

– Ja, nach Reval,« antwortete der Reisende nach kurzem Zögern.

Gleichzeitig erlegte er in Papierrubeln den Fahrpreis bis zum Bestimmungsorte, für eine Strecke von zweihundertvierzig Werst.

Dann erkundigte er sich kurz:

– »Wann fahren Sie ab?

– In zehn Minuten.

– Wo werden wir heute Abend sein?

– In Pernau, wenn uns das Wetter nicht zu arg mitspielt.


Der Weg zog sich am Saume großer Wälder hin. (S. 55.)
Der Weg zog sich am Saume großer Wälder hin. (S. 55.)

Bei solchem Sturme wie heute, weiß man freilich niemals...[48]

– Sind denn Verzögerungen zu befürchten? fragte der Angestellte des Bankhauses.

– Hm, erwiderte Broks, das Aussehen des Himmels gefällt mir gar nicht... die Wolken jagen gar so schnell daran hin. Wenn sie uns nur Regen bringen, mag's noch angehen... träte aber ein Schneegestöber ein...

– Na, du weißt doch, Broks, wenn wir gegen die Postillone nicht mit einem Gläschen Schnaps geizen, werden sie uns schon morgen Abend nach Reval bringen...

– Zu wünschen wär' es freilich! Übrigens brauch' ich gewöhnlich nicht mehr als sechsunddreißig Stunden für die ganze Strecke.

– Nun also, antwortete Poch. Jetzt vorwärts und keine Zeit mehr vertrödelt!

– Die Pferde sind angeschirrt, erwiderte Broks, und ich erwarte niemand mehr. Wie steht's denn mit dem Abfahrtsschluck, Poch?... Schnaps oder Wodka?

– Schnaps,« erklärte der Bankbeamte.

Beide gingen nun nach einer gegenüberliegenden Schenke und winkten dem Postillone, ihnen zu folgen. Zwei Minuten später standen alle wieder am Wagen, worin der unbekannte Reisende schon Platz genommen hatte. Poch setzte sich neben ihn und der Wagen schwankte davon.

Die drei an der Gabeldeichsel angespannten Pferde waren kaum größer als Maulesel. Rotgelb von Farbe und mit langem, grobem Haar bedeckt, waren sie recht mutig trotz ihrer Magerkeit, die jeden angespannten Muskel deutlich hervortreten ließ. Ein Pfiff des Jemschik genügte aber, sie in flottem Gange zu halten.

Poch gehörte dem Hause der Gebrüder Johausen schon seit langen Jahren an. Fast noch als Kind eingetreten, blieb er darin voraussichtlich, bis er sich einst zur Ruhe setzte. Da er das volle Vertrauen seiner Herren genoß, betraute man ihn oft damit, an Geschäftsfreunde in Reval oder Pernau, in Mitau oder Dorpat bedeutende Summen zu überbringen, die mit der Briefpost besorgen zu lassen unklug gewesen wäre. Diesmal enthielt seine Mappe fünfzehntausend Rubel Staatsbankscheine, jeden – nach unserem Gelde – im Betrage von achtzig Reichsmark, in einem Bündel von vierhundert Scheinen, das in der Briefmappe sorgfältig eingeschlossen war. Nach Ablieferung dieser Summe an den Geschäftsfreund in Reval sollte er sofort nach Riga zurückkehren.

Er hatte auch Grund genug, bald wieder heimzukommen. Warum, das wird sich aus seinem Gespräche mit Broks ergeben.[51]

Mit auseinander gehaltenen Armen, wie die russischen Rosselenker die Zügel zu führen pflegen, trieb der Jemschik seine Pferde zu raschem Laufe an. Er fuhr durch die nördliche Vorstadt und lenkte dann auf die große, zunächst durch Feldstücke verlaufende Landstraße ein. In der Umgebung Rigas gibt es nämlich viele gut bewirtschaftete Äcker, und hier sollte die erste Frühlingsarbeit nun bald beginnen. Schon zehn oder zwölf Werst von da irrte der Blick jedoch über eine endlose Steppe, deren eintönige Fläche – abgesehen von vereinzelten, leichten, in den baltischen Provinzen aber seltenen Bodenerhebungen – nur durch dunkelgrüne Waldmassen unterbrochen wird.

Wie Broks schon bemerkt hatte, sah der Himmel recht wenig vertrauenerweckend aus. Unter häufigen, besonders starken Windstößen wurde der Sturm um so ärger, je mehr die Sonne über den Horizont hinaufstieg. Zum Glück kam er aber aus Südwesten.

Ungefähr von zwanzig zu zwanzig Wersten fand an gewissen Stellen ein Wechsel der Pferde statt und traten andere Postillone zu deren Führung ein. Diese zweckmäßige Einrichtung sicherte den Reisenden ein regelrechtes und im ganzen ziemlich schnelles Fortkommen.

Gleich von der Abfahrt an überzeugte sich Poch, daß er mit seinem Reisegenossen in keine zusammenhängende Unterhaltung kommen könnte. In seine Ecke gedrückt, den Kopf mit der Kapuze verhüllt, so daß kaum etwas von seinem Gesicht zu sehen blieb, schlief dieser entweder wirklich oder stellte er sich doch so.

Der Bankbeamte unterließ es auch nach mehreren vergeblichen Versuchen, noch einmal ein Gespräch mit dem Fremdling anzuknüpfen.

Er plauderte aber gar zu gern, und so sah er sich denn gezwungen, seine Worte an Broks zu richten, der, geschützt durch eine lederne Kopfhülle, neben dem Jemschik auf dem Bocke saß. Ließ man das Schiebefenster in der Vorderwand des Wagens herunter, so war es leicht genug, von draußen und drinnen miteinander zu sprechen. Da der Schaffner mindestens ebenso gern plauderte wie der Bankbeamte, kamen beider Zungen nur sehr wenig in Ruhe.

»Und du versicherst, Broks – es war schon das vierte Mal, daß diese Frage seit der Abfahrt an den draußen Sitzenden gerichtet wurde – du versicherst, daß wir morgen Abend in Reval eintreffen werden?

– Jawohl, Poch; vorausgesetzt, daß uns das Wetter nicht gar zu sehr aufhält und vorzüglich nicht hindert, in der Nacht weiter zu fahren.[52]

– Und nach der Ankunft in Reval kehrt die Post binnen vierundzwanzig Stunden zurück?

– Nach vierundzwanzig Stunden, antwortete Broks, laut Dienstvorschrift.

– Und du selbst geleitest mich auch wieder nach Riga?

– Ich selbst, Poch.

– Beim heiligen Michel, ich möchte, ich wäre schon wieder zurück... natürlich mit dir!

– Mit mir, Poch?... O, ich danke für deine Liebenswürdigkeit! Doch warum solche Eile?...

– Weil ich dich zu etwas einzuladen wünsche, Broks.

– Mich?

– Ja, dich; eine Einladung, die dir hoffentlich genehm ist, wenn du es liebst, in guter Gesellschaft einmal ordentlich zu essen und zu trinken.

– Ah, stieß Broks hervor, während er mit der Zunge über die Lippen strich, man müßte ja sein eigener Todfeind sein, so etwas nicht zu lieben!... Es handelt sich also wohl um eine Schmauserei?

– Um mehr als das... um ein richtiges Hochzeitsmahl!

– Wa... was?... Eine Hochzeit? rief der Schaffner verwundert. Und wie komme ich dazu, zu einem Hochzeitsmahle eingeladen zu werden?

– O, sehr einfach: weil der Bräutigam dich persönlich kennt.

– Der kennt mich?

– Gewiß, und die Braut ebenfalls.

– Na, wenns so ist, antwortete Broks, dann nehme ich die Einladung an, auch ohne zu wissen, wer die zukünftigen Eheleutchen sind.

– Das sollst du sofort erfahren.

– Halt! Ehe du mir's mitteilst, Poch, laß mich dir erklären, daß es jedenfalls gute, brave Leute sind.

– Das will ich meinen! Der Bräutigam bin ich sogar in eigener Person!

– Du... Poch?

– Ja freilich, und die Braut, das ist die vortreffliche Zenaïde Parenzof.

– Ah, das reizende, junge Mädchen!... Wahrhaftig, das hätte ich nicht erwartet.

– Du erstaunst darüber?

– Nein, das eigentlich nicht; ihr werdet schon gut miteinander auskommen, obgleich du wohlgezählt deine fünfzig Jahre auf dem Rücken hast.[53]

– Und Zenaïde ihre fünfundvierzig, Broks. Höchstens werden wir weniger lange miteinander glücklich leben können, das ist aber auch alles! Bedenke, Freundchen, lieben mag man ja, wann man will, heiraten aber soll man erst, wenn das die Verhältnisse erlauben. Sieh, ich war fünfundzwanzig Jahre alt, als mich's packte, und Zenaïde gerade zwanzig. Zusammen besaßen wir aber keine hundert Rubel. Abwarten... klug sein! Als ich mir dann ein hübsches Sümmchen beiseite gelegt und sie von dem ihrigen eine annähernd ebenso große Mitgift zusammengespart hatte, da beschlossen wir endlich, unsere Ersparnisse zu heiraten, und heute... heute klimpert das Geld im Beutel. Ergeht das den ärmeren Leuten bei uns in Livland nicht immer ähnlich? Wenn man übrigens Jahre und Jahre aufeinander geharrt hat, dann liebt man sich nur um so mehr und braucht sich wegen der Zukunft nicht zu beunruhigen.

– Ja ja, du hast recht, Poch.

– Ich... ich habe schon eine gute Stelle in der Firma Johausen... fünfhundert Rubel jährlich, und am Hochzeitstage werden die beiden Brüder meinen Gehalt noch erhöhen. Zenaïde verdient ebensoviel. Wir sind also reich... natürlich reich nach unserer Art. Freilich besitzen wir noch nicht den vierten Teil von dem, was ich hier in der Mappe habe...«

Poch hielt plötzlich inne und warf einen mißtrauischen Blick auf seinen unbeweglichen Reisegefährten, der zu schlafen schien. Vielleicht waren seine Äußerungen doch etwas zu unvorsichtig gewesen. Bald darauf fuhr er aber fort:

»Jawohl, Broks, reich nach unserer Art. Mit unserem Ersparten, denke ich, wird Zenaïde wohl einen kleinen Materialwarenladen erwerben können. Nahe beim Hafen ist jetzt einer zu verkaufen...

– Und ich verspreche dir eine gute Kundschaft, Freund Poch! rief der Schaffner. –

– Schönen Dank, Broks, schönen Dank im vor aus!... Das bist du mir schon für das Festmahl schuldig, wo ich dir einen besonderen Platz aufhebe...

– So?... Welchen denn?

– Einen ganz nahe der Braut! Du wirst schon sehen, wie hübsch Zenaïde da aussieht in ihrem Hochzeitskleide, den Myrtenkranz im Haar und mit dem Halsbande, das ihr Frau Johausen schenkte.

– Ich glaub's dir, Poch, ich glaub' es gern! Eine so gute Frau kann auch nur eine schöne Frau sein. Wann findet denn die Feierlichkeit statt?[54]

– In vier Tagen, Broks, am sechzehnten dieses Monats. Eben darum ersuche ich dich: laß die Jemschiks sich beeilen. An den nötigen Gläschen zur Unterstützung werde ich's nicht fehlen lassen. Daß sie mir nur nicht die Pferde an der Deichsel einschlafen lassen! Dein Postwagen trägt einen Bräutigam, und der darf doch während der Fahrt nicht zu sehr altern!

– Ja freilich, das würde Zenaïde von dir nicht hübsch finden, meinte der lustige Schaffner lachend.

– O, das wackere Mädchen! Und wenn ich noch zwanzig Jahre älter wäre, sie nähme mich dennoch!«

Infolge der vertraulichen Mitteilungen, die der Bankbeamte seinem Freunde Broks gemacht hatte, wurden – der nötige Schnaps versagte seine Wirkung auch nicht – die Pferdewechselstellen schnell erreicht und noch niemals war wohl die Post von Riga in so kurzer Zeit befördert worden.

Die Landschaft bot noch immer denselben Anblick: weite Ebenen, aus denen im Sommer der scharfe Duft des Hanfes aufstieg. Die allgemein schlecht unterhaltenen Straßen waren oft nur durch die Radspuren von Wagen und Karren bezeichnet. Zuweilen zog sich der Weg am Saume großer Wälder hin, die wie immer aus Ahornbäumen und Birken oder aus Tannendickichten bestanden, die unter dem Drucke des Sturmwindes seufzten. Auf den Straßen und den Feldern waren nur wenige Menschen zu sehen. Der harte Winter dieser hohen Breiten war ja kaum vorüber. Da es Broks an Nachhilfe für die Pferde nicht fehlen ließ, rollte der Wagen schnell von Dorf zu Dorf, von Weiler zu Weiler, von einem Pferdewechselplatze zum anderen. Eine Verzögerung war nicht zu befürchten, auch nicht durch den tollen Wind, der von rückwärts her wehte.

Beim Ausspannen und beim Einschirren stiegen der Bankbeamte und der Schaffner regelmäßig ab; der unbekannte Reisende verließ seinen Platz dagegen niemals und benutzte nur die kurze Zeit, wo er sich allein befand, einen Blick nach außen zu werfen.

»Er rührt und regt sich nicht, unser Reisegenosse, bemerkte Poch.

– Und zu plaudern liebt er auch nicht, antwortete Broks.

– Du weißt nicht, wer er ist?

– Ich?... Ich habe noch nicht einmal gesehen, wel che Farbe sein Bart hat!

– Na, er wird ja das Gesicht einmal zeigen müssen, wenn wir an der Haltestelle Mittag essen.[55]

– Vorausgesetzt, daß er nicht ebensowenig ißt, wie er spricht,« erwiderte Broks.

Wie viele elende Weiler lagen aber am Wege, ehe die Post das Dorf erreichte, wo zum Mittagmahl Halt gemacht werden sollte! Kaum bewohnbare Hütten, ärmliche Häuschen mit stets geschlossenen Läden, durch deren zersprungene Plankenwände Wind und Kälte des harten Winters Einzug hielten. Dennoch trifft man in Livland einen recht kräftigen Bauernschlag, die Männer mit dichtem, den Kopf einhüllenden Haarwuchs, die Frauen notdürftig mit Lumpen bedeckt, die Kinder barfüßig, Beine und Arme mit Straßenschmutz ebenso befleckt wie die Haustiere in den arg vernachlässigten Ställen. Die armseligen Muschiks! Einmal leiden sie in ihren Schlupflöchern von Wohnungen von der Hitze des Sommers, wie von der Kälte des Winters, von Regen und Schnee fast zu jeder Jahreszeit, und dann haben sie eine Nahrung, die aus schwarzem, schwerem Rindenbrot besteht, das in ein wenig Hanfsamenöl getaucht wird; dazu kommt noch eine Abkochung von Gerste oder Hafer und – freilich selten genug – ein Stückchen Speck oder geräuchertes Rindfleisch. Ein jammervolles Leben! Die Leute sind aber daran gewöhnt und kennen keine Klagen. Wozu auch?

Glücklicherweise fanden die Reisenden, gleich am Eingang eines größeren Dorfes, wo um ein Uhr mittags neue Pferde vorgespannt wurden, in einem ziemlich guten Gasthofe eine bessere Mahlzeit vor: Spanferkelsuppe, Gurken, die in einer Schüssel mit Salzwasser lagen, große Laibe von sogenanntem Sauerteigbrot – man darf hier nicht so anspruchsvoll sein, etwa gar Weißbrot haben zu wollen – ein Gericht Lachs, der aus der Dwina gefischt war, ferner Gemüse mit frischem Speck, auch Kaviar, Ingwer nebst Rettich und dazu ein Kompot von wohlschmeckenden Waldheidelbeeren. Als Getränk trug man den unvermeidlichen Tee auf, der in so reichlicher Menge floß, daß er einen Fluß der baltischen Provinzen hätte speisen können... kurz, ein vortreffliches Mittagessen, das Poch und Broks für den ganzen Tag in die beste Laune versetzte.

Auf den anderen Reisenden schien es eine solche Wirkung nicht zu äußern. Er ließ sich sein Essen allein in einer Ecke des halbdunkeln Raumes auftragen. Unter der nur wenig zurückgeschlagenen Kapuze wurde ein schon etwas ergrauter Bart sichtbar. Vergebens bemühten sich der Bankbeamte und der Schaffner, ihn näher zu erkennen. Er aß jedoch sehr schnell, zeigte dabei aber gute Manieren, und hatte nachher seinen Platz im Wagen schon lange vor den anderen wieder eingenommen.[56]

Das erregte seine Reisegefährten natürlich um so mehr, vor allem fühlte sich Poch enttäuscht, dem Schweigsamen kein einziges Wort entlocken zu können.


Der Postillon lief eiligst nach vorn zu den Pferden. (S. 60.)
Der Postillon lief eiligst nach vorn zu den Pferden. (S. 60.)

»Wir sollen, wie es scheint, also nicht erfahren, wer dieser Mann ist! fragte Poch.

– Ich werde dir's sagen, antwortete Broks.

– Wie... du kennst ihn?

– Ja. Es ist ein Herr, der seinen Platz bezahlt hat, und das genügt mir.«[57]

Wenige Minuten vor zwei Uhr wurde wieder aufgebrochen und der Wagen rollte so schnell wie vorher weiter. Unter den freundlichen und schmeichelnden Zurufen: Nun vorwärts, meine Tauben! Trab, trab, meine Schwalben! und mit einiger Nachhilfe durch die Peitsche des Postillons griff das Gespann tüchtig aus.

Wahrscheinlich hatte Poch seinen Sack voll Neuigkeiten geleert... jedenfalls erlahmte allmählich das Zwiegespräch zwischen ihm und dem Postschaffner. Etwas erschlafft bei der Verdauung eines so reichlichen Mahles und ein wenig von dem Geiste des Wodkas umnebelt, fing er bald an zu »angeln«, wie man von einer ermüdeten Person sagt, deren Kopf auf und nieder nickt, und eine Viertelstunde später lag er in tiefem Schlafe, gewiß umgaukelt von süßen Träumen, in denen das liebliche Bild Zenaïde Parenzofs auftauchen mochte.

Inzwischen wurde das Wetter immer schlechter. Die Wolken senkten sich fast bis zur Erde herunter. Durch die sumpfigen Ebenen, in denen die Anlegung einer fahrbaren Straße unmöglich war, kam der Postwagen nur mühsam weiter. Vielfach zogen sich zahlreiche Wasseradern durch den sonst lockeren Erdboden hin, und überhaupt ist der ganze nördliche Teil Livlands von solchen Rinnsalen durchfurcht. Deshalb hat es sich nötig gemacht, rohe, kaum zugehauene Baumstämme auf der Erde nebeneinander zu legen, um die gar zu weichen Bodenstrecken mit einer festeren Decke zu versehen. Eine Unzahl solcher Stämme, die oft nur mit einem ihrer Enden fest auflagen, schaukelte auf und nieder unter den Rädern des Wagens, dessen Eisenteile bedenklich knarrten.

Unter diesen Verhältnissen hütete sich der Jemschik auch, sein Gespann besonders anzutreiben.

Er ging aus Vorsicht vielmehr langsam nebenher und half den Pferden auf, die bei jedem Schritte stolperten. So durchfuhr man mehrere Wegstrecken unter Verhütung jedes Unfalles. Die Zugtiere kamen an der nächsten Wechselstelle aber sehr ermüdet an, so daß man ihnen keine weitere Anstrengung hätte zumuten dürfen.

Am Nachmittage gegen fünf Uhr wurde es, da der Himmel von dahinjagenden Wolken verhüllt war, schon recht dunkel, und es erforderte große Aufmerksamkeit, sich im richtigen Zuge der gegen die Sümpfe kaum abgegrenzten Straße zu halten. Die Pferde wurden unruhig, weil es ihnen an festem Boden unter den Hufen fehlte; sie schnaubten heftig und drängten nach der Seite.[58]

»Schritt fahren... nur Schritt, mahnte Broks, hier geht's nicht anders. Besser, wir kommen eine Stunde später nach Pernau, als hier noch einen Unfall zu erleben.

– Was?... Eine Stunde Verzögerung? rief Poch, den die Stöße des Wagens schließlich doch aus dem Schlafe gerissen hatten.

– Ja, das ist nun einmal das Klügste,« erwiderte der Jemschik, der immer und immer wieder vom Bocke absteigen mußte, um das Gespann kurz am Zügel zu führen.

Der andere Reisende hatte auch einige Bewegungen gemacht und den Kopf erhoben, während er sich vergeblich bemühte, durch das Fenster der Wagentür draußen etwas zu erkennen. Bei der tiefen Dunkelheit war es freilich kaum möglich, etwas zu unterscheiden. Die Laternen des Postwagens warfen zwar zwei Lichtstreifen voraus, doch auch diese unterbrachen kaum die herrschende Finsternis.

»Wo sind wir denn jetzt? fragte Poch.

– Noch zwanzig Werst von Pernau, erklärte Broks; doch wenn wir den nächsten Pferdewechsel erreichen, werden wir, glaub' ich, gut tun, dort bis morgen früh zu warten...

– Zum Kuckuck mit diesem abscheulichen Wetter, das uns um volle zwölf Stunden verzögern wird!« schimpfte der Bankbeamte.

Noch immer ging es weiter. Zuweilen raste der Sturm aber mit solcher Gewalt, daß der dahinrollende Wagen umzustürzen drohte. Die Pferde bäumten sich auf oder brachen halb zusammen Die Lage wurde höchst gefährlich... so sehr, daß Poch und Broks schon berieten, ob es nicht ratsamer wäre, die Strecke bis Pernau zu Fuß zurückzulegen. Vielleicht war das wirklich der beste Ausweg, einem ernsteren Unfall – wenn sie im Wagen blieben – zu entgehen.

Ihr Reisegefährte schien jedoch nicht geneigt, diesen zu verlassen. Der phlegmatischste Engländer hätte sich nicht gleichgültiger verhalten können. Er hatte seinen Platz im Postwagen – diese Vermutung erweckte sein Benehmen – doch nicht etwa bezahlt, um eine Fußreise zu machen! Nein, die Post hatte die Verpflichtung, ihn nach seinem Bestimmungsorte zu befördern.

Plötzlich erfolgte gegen halb sieben Uhr abends beim schrecklichsten Ungestüm des Sturmes ein außerordentlich heftiger Stoß. Ein Rad des Vordergestells war in den Spalt zwischen zwei Stämmen eingesunken, und als es die durch einen Peitschenhieb angefeuerten Pferde herausziehen wollten, ging es unglücklicherweise in Stücke.[59]

Der Postwagen neigte sich zur Seite, bekam bald das Übergewicht und stürzte also um.

Da ertönte ein Schmerzensruf aus dem Wagen. Trotz der Verletzung an einem Beine dachte Poch nur an seine Mappe, die an der Kette hing. Die Mappe war ihm nicht entfallen, und er hielt sie, als er mit Mühe aus dem Wagen geklettert war, nur um so fester unter dem Arme.

Broks und der Reisende waren mit leichten Schrunden davongekommen, und der Postillon lief, als er sich frei gemacht hatte, eiligst nach vorn zu den Pferden.

Der Ort des Unfalls war gänzlich verlassen... eine Ebene mit einem Baumdickicht zur Linken.

»Was soll denn nun aus uns werden? rief Poch.

– Mit dem Wagen ist leider nicht fortzukommen,« antwortete Broks.

Der Unbekannte ließ keinen Laut vernehmen.

»Könntest du wohl bis Pernau zu Fuße gehen? fragte Broks den Bankangestellten.

– Was... fünfzehn Werst weit und noch mehr, entgegnete dieser, und das obendrein mit meiner Verletzung...

– Nun, dann reitest du vielleicht...

– Reiten!... Nach zweihundert Schritten wär' ich schon vom Pferde gefallen!«

Unter solchen Umständen blieb freilich nichts anderes übrig, als in einer Schenke der Umgebung Schutz zu suchen, wo wenigstens Poch und sein Reisegefährte die Nacht über bleiben könnten. Broks und der Postillon wollten, nachdem sie die Pferde abgeschirrt hatten, diese besteigen und so schnell wie möglich nach Pernau reiten, von wo sie am nächsten Morgen zurückzukehren und einen Stellmacher mitzubringen versprachen, der den Postwagen wieder in Ordnung bringen sollte.

Hätte der Bote der Bank nicht eine so große Summe bei sich getragen, so würde ihm der Vorschlag, hier in der Wildnis zu übernachten, ganz annehmbar erschienen sein... doch mit seinen fünfzehntausend Rubeln...

Gab es denn in der Nähe, hier in dieser weltverlassenen Gegend, ein Landgut, eine Herberge oder ein Wirtshaus, wo die Reisenden bis zum Morgen Unterkunft finden könnten? Das war die erste Frage, die über Pochs Lippen kam.[60]

»Jawohl... dort... gewiß!« antwortete der Reisende.

Dabei wies er mit der Hand nach einem schwachen Lichtschein, der etwa zweihundert Schritt weit links an der Ecke eines Gehölzes durch das Dunkel schimmerte. War das aber die Laterne einer Herberge oder vielleicht nur das Feuer eines Holzfällers?

Der darüber befragte Jemschik bestätigte die Aussage des Unbekannten.

»Dort liegt die Kroffsche Waldschenke, sagte er.

– Die Kroffsche Schenke? wiederholte Poch.

– Ja, der Kabak 'Zum umgebrochenen Kreuz'.

– Nun, begann Broks, sich an seine Begleiter wendend, wenn Sie in jener Schenke übernachten wollen, so werden wir Sie dort morgen frühzeitig wieder abholen.«

Der zweite Reisende schien den Vorschlag annehmbar zu finden. Was hätte man auch besseres tun können? Das Wetter wurde immer abscheulicher, bald mußte es in Strömen zu regnen anfangen. Der Schaffner und der Jemschik konnten jedenfalls nur mit großer Anstrengung Pernau erreichen.

»Also abgemacht, sagte Poch, dessen Hautabschürfung am Beine ihm nicht wenig Schmerz verursachte. Nach einer guten Nachtruhe werde ich morgen imstande sein weiterzufahren, und ich rechne auf dich, Broks...

– Ich bin zur bestimmten Stunde hier zurück!« versicherte der Schaffner.

Die Pferde wurden jetzt ausgespannt; den auf der Seite liegenden Wagen mußte man wohl oder übel seinem Schicksale überlassen. Im Laufe dieser Nacht kam voraussichtlich doch kein Wagen oder Karren an der Unfallsstelle vorüber.

Nach einem Händedruck mit seinem Freunde Poch wendete er sich, das eine Bein etwas nachschleppend, nach dem Walde und in der Richtung hin, wo der Lichtschein ihnen die Lage der Schenke andeutete.

Da der Bankbeamte nur langsam vorwärts kam, glaubte der Reisende ihm seinen Arm als Stütze anbieten zu sollen. Nach einigen Dankesworten nahm Poch das an, etwas verwundert, daß sein Reisegefährte sich jetzt gefälliger erwies, als er es seit der Abfahrt aus Riga vermutet hätte.

Der Straße folgend, an deren Seite die Schenke lag, wurden die zweihundert Schritte bis zu dieser ohne Unfall zurückgelegt.

Über der Eingangstür hing hier die Laterne mit einer Petroleumlampe darin. Von der Ecke der Hauswand ragte eine lange Stange heraus, offenbar bestimmt, während des Tages die Aufmerksamkeit der Vorüberkommenden zu[61] erregen. Durch Spalten in den Fensterläden schimmerte von innen das Licht und ließ sich auch das Geräusch von Stimmen und Gläsern hören. Ein Schild mit grober Malerei hing über der Haupttür, und beim Schein der Laterne konnte man darauf die Worte lesen: »Kabak zum umgebrochenen Kreuze«.

Quelle:
Jules Verne: Ein Drama in Livland. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXXXV, Wien, Pest, Leipzig, 1905, S. 46-49,51-62.
Lizenz:

Buchempfehlung

Klopstock, Friedrich Gottlieb

Hermanns Schlacht. Ein Bardiet für die Schaubühne

Hermanns Schlacht. Ein Bardiet für die Schaubühne

Von einem Felsgipfel im Teutoburger Wald im Jahre 9 n.Chr. beobachten Barden die entscheidende Schlacht, in der Arminius der Cheruskerfürst das römische Heer vernichtet. Klopstock schrieb dieses - für ihn bezeichnende - vaterländische Weihespiel in den Jahren 1766 und 1767 in Kopenhagen, wo ihm der dänische König eine Pension gewährt hatte.

76 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.

428 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon