Dreizehntes Capitel.
Land! Land!

[138] Das Vertrauen, welches Dick Sand's Herz fast instinctiv erfüllte, sollte wirklich zum Theil gerechtfertigt werden.

Am folgenden Tage, dem 27. März, stieg die Quecksilbersäule im Barometerrohre. Diese Bewegung vollzog sich weder sehr schnell, noch in weitem Umfange, sondern betrug nur wenige Linien, schien aber ununterbrochen weiter zu gehen. Unzweifelhaft neigte jetzt der Sturm seiner Abnahme zu, und blieb der Seegang auch noch immer ein sehr schwerer, so ließ der Wind, der mehr nach Westen umschlug, doch offenbar schon etwas nach.

Noch konnte Dick Sand freilich nicht daran denken, ein Segel zu entfalten. Auch das kleinste Stück Leinwand wäre zerrissen und weggeführt worden. Jedenfalls hoffte er aber, vor Ablauf von vierundzwanzig Stunden im Stande zu sein, wenigstens ein Sturmsegel beisetzen zu können.

Während der Nacht ermäßigte sich der Wind im Vergleich zu den vorhergegangenen Tagen wirklich beträchtlich, und das Schiff ward auch nicht mehr so heftig von den Wasserbergen hin- und hergeworfen, die es früher aus den Fugen zu reißen drohten.

Die Passagiere fanden sich allmälig wieder auf dem Verdecke ein; sie liefen jetzt nicht mehr Gefahr, von einer Sturzsee über Bord gespült zu werden.

Mrs. Weldon war die Erste, welche ihre enge Wohnung verließ, in die sie Dick Sand während des lang dauernden Sturmes aus Vorsicht verbannt[138] hatte. Sie begann ein Gespräch mit dem Leichtmatrosen, den eine fast übermenschliche Willenskraft in den Stand gesetzt hatte, so unglaublichen Anstrengungen nicht zu unterliegen. Abgemagert und blaß trotz seines sonnengebräunten Teints, hätte er bei dem Mangel des seinem Alter so nöthigen Schlafes doch furchtbar geschwächt sein müssen. Mit nichten! Seine gute Natur überwand Alles. Vielleicht bezahlte er später die überstandenen Strapazen um so theurer. Jetzt war noch keine Zeit, die Hände in den Schoß zu legen. Dick Sand hatte sich das Alles selbst gesagt und Mrs. Weldon fand ihn ebenso thatkräftig, wie je vorher wieder.

Dick Sand hatte ja Vertrauen und das Vertrauen wird durch keinen Befehl erschüttert, es befiehlt vielmehr selbst.

»Dick, mein liebes Kind, mein Kapitän! sagte Mrs. Weldon, indem sie dem jungen Leichtmatrosen die Hand bot.

– Ah, Mistreß Weldon, rief Dick Sand, Sie verletzen ja die Anordnungen Ihres Kapitäns! Sie erscheinen wieder auf dem Deck, trotz seiner... Bitten!

– Freilich, ich gehorche Dir nicht, erwiderte Mrs. Weldon, doch ich habe ein gewisses Vorgefühl, daß der Sturm sich legt, oder sich bald legen wird.

– Er legt sich in der That, Mistreß Weldon, bestätigte der Leichtmatrose. Sie täuschten sich nicht. Das Barometer ist seit gestern nicht gefallen. Der Wind fällt ab und ich komme zu dem Glauben, daß unsere harten Prüfungen nun vorüber sind.

– Möge der Himmel Deine Worte hören, Dick! Ach, wie viel hast Du ausgestanden, mein armes Kind! Du verrichtetest....

– Nichts als meine Pflicht, Mistreß Weldon.

– Doch wirst Du Dir nun endlich einige Ruhe gönnen?

– Ruhe! wiederholte der Leichtmatrose. Ich bedarf der Ruhe nicht; ich befinde mich, Gott sei Dank, vollkommen wohl und muß nun auch bis an's Ende ausdauern. Sie haben mich Kapitän genannt und ich will auch wirklich Kapitän bleiben, bis alle Passagiere des »Pilgrim« in Sicherheit sind.

– Dick, fuhr Mrs. Weldon fort, mein Mann und ich werden Dir nimmermehr vergessen, was Du für uns thatest.

– Gott hat Alles gethan, antwortete Dick Sand, Alles![139]

– Ich wiederhole Dir, mein Kind, daß Du Dich mit Deiner moralischen und physischen Energie als ein ganzer Mann erwiesen hast, als ein Mann, der würdig ist, zu befehligen, und sobald Deine Studien vollendet sind, was ja nicht lange dauern kann, wirst Du – mein Mann wird mein Wort einlösen – für das Haus James W. Weldon ein Kommando führen.

– Ich... ich!... rief Dick Sand, dessen Augen sich mit Thränen füllten.

– Lieber Dick, antwortete Mrs. Weldon, Du warst von jeher unser Adoptivkind; jetzt bist Du unser Sohn, der Retter Deiner Mutter und Deines Bruders Jack! Mein lieber Dick, komm, ich umarme Dich auch im Namen meines Gatten!«

Die muthige Frau hatte ihre Rührung beherrschen wollen, als sie den jungen Leichtmatrosen in die Arme schloß, aber das Herz ging ihr über. Welche Feder aber wäre erst im Stande, Dick Sand's Gefühle dabei wiederzugeben! Er fragte sich, ob er nicht noch mehr thun könne, als das Leben zu lassen für seine Wohlthäter, und er unterzog sich schon im Voraus willig allen den Prüfungen und Beschwerden, die ihm die Zukunft etwa bieten könnte.

Dick Sand fühlte sich nach diesem Gespräche neu gestärkt. Wurde nun der Wind etwas günstiger und konnte er auch nur wenig Segel entfalten, so zweifelte er nicht, sein Schiff nach einer Stelle führen zu können, wo Alle, die er bei sich hatte, endlich Rettung finden würden.

Da sich der Wind am 29. noch weiter ermäßigte, dachte Dick Sand daran, das Mars- und das Focksegel beizusetzen, um die Schnelligkeit des »Pilgrim« zu steigern und den Kurs besser einhalten zu können.

»Nun, vorwärts, Tom! Vorwärts, meine Freunde! rief er, als er am frühen Morgen auf Deck kam. Kommt, ich brauche Eure Arme!

– Wir sind bereit, Kapitän Sand, erklärte der alte Tom.

– Bereit zu Allem, setzte Herkules hinzu. Bei diesem Sturme war ja nichts zu thun und ich fing schon an einzurosten.

– Du hättest mit Deinem großen Munde blasen sollen, meinte der kleine Jack. Ich wette, Du wärest ebenso stark gewesen wie der Wind.

– Das wäre ein Gedanke, Jack, bemerkte Dick Sand lächelnd. Wenn einmal Windstille ist, dann lassen wir Herkules in die Segel blasen.

– Zu Ihrem Befehl, Herr Dick! antwortete der wackere Neger, indem er die Wangen wie ein leibhaftiger Windgott aufblies.[140]

– Jetzt, meine Freunde, fuhr der Leichtmatrose fort, wollen wir an Stelle des durch den Sturm verlorenen Marssegels ein Reservesegel beisetzen. Das wird zwar nicht allzu leicht sein, doch es ist nothwendig.

– Und wird auch fertig werden! sagte Acteon.

– Kann ich Euch helfen? fragte der kleine Jack, der sich immer nützlich machen wollte.

– Gewiß, mein Jack, antwortete der Leichtmatrose. Du trittst mit an das Steuer und hilfst unserem Freunde Bat auf seinem Posten.«

Es ist wohl unnöthig zu sagen, wie stolz der kleine Jack sich über diese Ernennung zum Hilfs-Steuermann des »Pilgrim« fühlte.

»Nun, an's Werk, fuhr Dick Sand fort, und Keiner begebe sich ohne Noth in Gefahr!«

Von dem Leichtmatrosen geführt, machten sich die Neger an die Arbeit. Ein Marssegel an seine Raae zu befestigen, bot für Tom und seine Gefährten freilich einige Schwierigkeiten. Es handelte sich darum, das zusammengerollte Segelleinen erst empor zu hissen und dann an der Raae zu verknüpfen.

Dick Sand ertheilte jedoch so zweckmäßige Befehle und diesen wurde auch so folgsam nachgekommen, daß die Leinwand nach Verlauf einer Stunde an ihrer Raae befestigt, diese gehißt und das Marssegel mit zwei Reesen eingestellt war.

Das große Fock- und das zweite Focksegel, welche vor dem Sturme eingebunden wurden, ließen sich trotz der Kraft des Windes weit leichter in Ordnung bringen.

An genanntem Tage um zehn Uhr Morgens segelte der »Pilgrim« zum ersten Male wieder mit dem Mars- , dem Fock- und dem zweiten Focksegel.

Dick Sand hatte es nicht für gerathen erachtet, noch mehr Leinwand zu entfalten. Die Segel, welche er jetzt trug, mußten dem »Pilgrim«, wenn der Wind nicht nachließ, eine Schnelligkeit von zweihundert Meilen in vierundzwanzig Stunden sichern, und einer größeren bedurfte es ja nicht, um die Küste Amerikas binnen zehn Tagen zu erreichen.

Der Leichtmatrose empfand eine wirkliche Befriedigung, als er an das Steuer zurückkehrte und seinen Posten wieder einnahm, nachdem er Meister Jack, dem Hilfs-Steuermann des »Pilgrim«, seinen Dank ausgesprochen hatte. Jetzt war er den Wellen nicht mehr willenlos preisgegeben. Er machte[141] gute Fahrt. Seine Freude wird Derjenige verstehen, welcher mit den Verhältnissen auf dem Meere einigermaßen vertraut ist.

Am folgenden Tage flogen die Wolken noch mit der nämlichen Schnelligkeit dahin, ließen aber doch weite Zwischenräume unter sich, durch welche die Strahlen der Sonne auf die Meeresfläche niederblitzten. Zuweilen erschien der »Pilgrim« wie übergossen mit Licht. Es ist ein schönes Ding um dieses blendende Licht! Manchmal versteckte es sich hinter einer enormen Dunstmasse, die nach Osten hin enteilte, dann erschien es wieder, um von Neuem zu verschwinden, doch Alles in Allem wendete sich die Witterung zum Besseren.

Endlich konnten auch die Luken geöffnet werden, um die inneren Schiffsräume einmal zu lüften. Ueberall hin, in die Wohnung am Achter, in die Schlafräume der Mannschaft, in den unteren Raum drang die heilsame frische Luft ein. Nun wurden auch die Segel getrocknet, welche man auf dem Deck ausbreitete, wo sie eben Platz fanden. Das Verdeck selbst wurde gereinigt. Dick Sand wollte nicht, daß sein Schiff in irgend einen Hafen einliefe, ohne etwas Toilette gemacht zu haben. Einige Stunden jeden Tag, welche die Mannschaft nicht übermäßig anstrengten, mußten genügen, diese Absicht nach und nach zu erreichen.

Obwohl der Leichtmatrose jetzt kein Log mehr auszuwerfen vermochte, hatte er sich doch hinreichend geübt, aus dem Kielwasser eines Fahrzeuges dessen Geschwindigkeit ziemlich verläßlich abzuschätzen. Er hielt sich also für ganz sicher, vor Ablauf von sieben Tagen noch kein Land in Sicht zu bekommen und theilte seine Ansicht auch der Mrs. Weldon mit, nachdem er dieser den Punkt ihrer gegenwärtigen Lage auf der Karte gezeigt hatte.

»An welcher Stelle der Küste werden wir nun ankommen, lieber Dick? fragte die Dame.

– Hier, Mistreß, antwortete der Leichtmatrose, und zeigte auf das lang dahin gestreckte Gestade zwischen Peru und Chile. Bestimmter kann ich das nicht sagen. Hier liegt die Osterinsel, die wir im Westen hinter uns gelassen haben, und nach der beständig anhaltenden Windrichtung muß ich annehmen, daß wir Land zuerst im Osten erblicken werden. An dieser Küste giebt es der Nothhäfen genug; jetzt aber zu sagen, welcher uns einst aufnehmen wird, wenn wir an's Land gehen, ist mir völlig unmöglich.

– Mag's ein Hafen sein, welcher es will, Dick, er ist uns gleich willkommen![142]

– Gewiß, Mistreß Weldon, auch finden Sie ja überall Gelegenheit sicher und schnell nach San Francisco zurückzukehren. Die Dampfschiff-Compagnie des Pacifischen Oceans unterhält hier einen sehr gut organisirten Dienst. Ihre Dampfer berühren alle wichtigen Küstenpunkte und es wird Ihnen allemal leicht sein, sich auf einem derselben nach Kalifornien einzuschiffen.

– Du denkst also den »Pilgrim« nicht bis San Francisco zurückzuführen? fragte Mrs. Weldon.

– Gewiß, doch erst, wenn ich Sie an's Land gesetzt habe. Gelingt es uns, einen Officier und einige Mannschaft zu heuern, so werden wir unsere Ladung in Valparaiso löschen, wie es Kapitän Hull in Absicht hatte. Dann kehren wir nach unserem Heimatshafen zurück. Doch das würde Sie zu sehr aufhalten, und so leid es mir thun wird, von Ihnen Abschied zu nehmen...

– Geduld, Dick, fiel Mrs. Weldon ein, wir werden später ja sehen, was zu thun ist. – Doch sage mir, Du scheinst Gefahren zu fürchten, welche das Land uns bringen könnte?

– Ja freilich, bestätigte der Leichtmatrose, doch hoffe ich noch, einem Schiffe in jener Gegend zu begegnen, und wundere mich nur, daß wir noch kein solches erblickt haben. Käme nur ein einziges hier vorüber, so würden wir uns mit ihm so weit in Verbindung setzen, um unsere genaue Lage zu erfahren, was die spätere Landung wenigstens erleichtern müßte.

– Doch wenn wir keinem Lootsen begegneten?... fuhr Mrs. Weldon fort, welche sich bemühte, zu erfahren, wie der junge Mann in bedrängter Lage sich behelfen würde.

– In diesem Falle, Mistreß Weldon, würde ich bei günstigem Wetter und brauchbarem Segelwinde der Küste entlang fahren, bis sich uns ein Hafen zeigte. Frischte der Wind freilich zu sehr auf, dann...

– Dann, was thätest Du dann, Dick?

– Dann möchte es sehr schwierig sein, mit dem »Pilgrim« unter den gegebenen Verhältnissen, wenn er einmal in der Nähe des Landes ist, wieder in See zu stechen!

– Ja, was wäre aber sonst zu thun? wiederholte Mrs. Weldon.


»An welcher Stelle der Küste werden wir nun ankommen, lieber Dick?« (S. 142.)
»An welcher Stelle der Küste werden wir nun ankommen, lieber Dick?« (S. 142.)

»An welcher Stelle der Küste werden wir nun ankommen, lieber Dick?« (S. 142.)


– Ich wäre dann gezwungen, das Schiff auf die Küste laufen zu lassen, antwortete der Leichtmatrose, dessen Stirn sich einen Augenblick lang verdüsterte. O, das ist eine harte Nothwendigkeit, und Gott gebe, daß wir[143] unsere Zuflucht nicht noch dazu nehmen müssen. Doch ich wiederhole Ihnen, Mistreß Weldon, das Aussehen des Himmels ist ganz beruhigend, und es erscheint mir ganz unglaublich, daß uns nicht ein Schiff oder ein Lootse begegnen sollte. Guten Muth also! Unser Steven weist nach dem Lande, wir werden dasselbe bald vor Augen haben!«

Sein Schiff auf die Küste zu setzen, ist freilich die letzte Zuflucht, an welche auch der entschlossenste Kapitän nicht ohne Schrecken denkt. Auch Dick[144] Sand nahm dieses Hilfsmittel keineswegs in Aussicht, so lange er noch einigermaßen hoffen durfte, sich auf andere Weise zu retten.

Während einiger Tage gestaltete sich der Zustand der Atmosphäre so veränderlich, daß der Leichtmatrose auf's Neue unruhiger wurde. Der Wind hielt sich immer als steife Brise und wiederholte Schwankungen des Barometers deuteten darauf hin, daß er noch weiter auffrischen werde. Dick Sand legte sich schon die Frage vor, ob er nicht wieder genöthigt sein werde, ohne Segel zu fahren. Doch lag es zu sehr in seinem Vortheil, wenigstens das Marssegel zu erhalten, und er gedachte auch dasselbe nicht einzuziehen, so lange der Sturm es ihm nicht gerade zu entführen drohte. Zur Sicherung und Haltbarkeit der Masten ließ er die Wanten, Pardunen und Stagen noch einmal anziehen. Vor Allem kam es darauf an, ihre Lage nicht durch den etwaigen Verlust der Masten noch weiter und empfindlicher zu verschlimmern.

Als das Barometer ein- oder zweimal wieder stieg, mußte man ein Umschlagen des Windes, vielleicht gar nach Osten, befürchten. Dann wäre man aber wieder gezwungen gewesen, dicht an demselben zu segeln.

Eine neue Besorgniß für Dick Sand. Was sollte er bei widrigem Winde beginnen? Mußte er sich entschließen, zu laviren? Wenn dem nicht zu entgehen war, gab es aber auf's Neue unliebsame Verzögerungen, und dazu lag die Gefahr nahe, wieder in's Meer hinausgetrieben zu werden.

Glücklicher Weise gingen diese Befürchtungen nicht in Erfüllung. Der Wind wechselte zwar mehrere Tage lang, blies bald aus Norden, bald aus Süden, gestaltete sich aber zuletzt zu einem dauernden Westwinde. Doch behielt er dabei den Charakter einer frischen Kühlte, welche der Takelage arg mitspielte.

Es war am 5. April. Mehr als zwei Monate waren schon seit der Abfahrt des »Pilgrim« aus Neu-Seeland verflossen. Zwanzig Tage hindurch hielten ihn andauernde Windstillen zurück. Dann hatte er sich unter günstigen Bedingungen befunden, das Land schnell zu erreichen. Während des Sturmes mußte seine Schnelligkeit sogar eine sehr beträchtliche gewesen sein; Dick Sand schätzte sie zu nicht weniger als zweihundert Meilen den Tag. Warum bekam er die Küste noch immer nicht in Sicht? Wich sie etwa selbst vor dem »Pilgrim« zurück? Es erschien ihm ganz unbegreiflich.[145]

Und doch war noch kein Land gemeldet worden, obwohl einer der Neger sich jetzt beständig auf einer Mars aufhielt.

Häufig stieg auch Dick Sand selbst hinaus. Mit dem Fernrohr vor den Augen, suchte er von diesem erhöhten Standpunkte aus Spuren eines Landes zu entdecken. Die Kette der Anden steigt ja sehr hoch empor. In der Region der Wolken mußte man also nach einer Bergspitze auslugen, welche sich über die Dünste des Horizonts erhob.

Tom und seine Gefährten ließen sich mehrmals schon durch trügerische Anzeichen eines Landes irre führen. Immer waren es nur sonderbare Wolkenformationen, welche in der Ferne schwebten. Es kam sogar vor, daß die braven Leute ihre Beobachtungen gegenseitig bestätigten, und dennoch waren sie bald darauf gezwungen, einzugestehen, daß sie einer optischen Täuschung unterlegen waren. Was sie als Land erkannten, wechselte seine Stelle und Gestalt und löste sich zuletzt in ein Nichts auf.

Am 6. April endlich schwand jeder Zweifel.

Es war um 8 Uhr Morgens. Dick Sand stieg eben auf den Mast. Die Wolken condensirten sich unter den ersten Strahlen der Sonne und der Horizont zeigte sich seinem Blicke in voller Klarheit.

Da entrang sich endlich Dick Sand's Lippen der längst erwartete Ausruf:

»Land! Land in Sicht gerade vor uns!«

Diese Worte lockten alle Welt nach dem Verdeck, den kleinen Jack, den die seinem Alter eigenthümliche Neugierde trieb, Mrs. Weldon, deren Leiden und Prüfungen mit dem Betreten des Landes ein Ende finden sollten, Tom und seine Genossen, welche den Fuß endlich wieder auf amerikanischen Boden zu setzen hofften, selbst den Vetter Benedict, welcher die Hoffnung hegte, eine ihm noch neue Sammlung von Insecten zusammenzubringen.

Negoro allein erschien nicht.

Jeder erkannte, was Dick Sand gesehen hatte, die Einen ganz bestimmt, die Anderen nur, weil sie es glaubten.

Seitens des Leichtmatrosen, mit seiner langen Gewohnheit, den Horizont zu beobachten, war jedoch kein Irrthum möglich, und eine Stunde später mußte Jeder zugestehen, daß er sich nicht getäuscht hatte.

In der Entfernung von etwa vier Meilen im Osten erstreckte sich eine niedrige Küste hin. Weiter rückwärts mußte diese von der mächtigen Kette[146] der Anden beherrscht sein, eine dort schwebende Wolkenschicht verbarg den Blicken noch deren Gipfel.

Der »Pilgrim« lief direct und sehr schnell auf dieses Gestade zu, welches sich über Sehweite hinaus ausbreitete.

Zwei Stunden später war es nur noch drei Meilen entfernt.

Im Nordosten lief jene Küste in ein ziemlich hohes Vorgebirge aus, das eine offene Rhede beschützte. Nach Südosten dagegen verlängerte sie sich gleich einer schmalen Landzunge.

Das niedrige Ufer bedeckten einige Bäume, deren Silhouetten sich vom Himmel scharf abhoben. Nach dem ganzen geographischen Charakter des Landes mußte man jedoch annehmen, daß es nur ein Vorland der Anden bildete.

Nirgend zeigte sich eine menschliche Wohnung, ein Hafen oder eine Flußmündung, welche einem Schiff als Zuflucht hätte dienen können.

Der »Pilgrim« fuhr jetzt gerade auf die Küste zu. Mit seinen verminderten Segeln und dem nach jener Küste hin wehenden Winde wäre es Dick Sand unmöglich gewesen, von derselben wieder abzukommen.

Nach vorn machte sich eine lange Reihe Klippen bemerkbar, über welchen das Meer mit weißem Schaume aufsprudelte.

Bis zur halben Uferhöhe schlugen die Wogen empor. Dort mußte also eine gewaltige Brandung vorhanden sein.

Nachdem sich Dick Sand zur Betrachtung der Küste eine Zeit lang am Vorderkastell aufgehalten, ging er, ohne ein Wort zu äußern, zurück und ergriff wieder das Steuer.

Der Wind frischte immer mehr auf. Bald befand sich die Brigg-Goëlette nur noch eine Meile weit vor der Küste.

Da erkannte Dick Sand eine kleine Einbuchtung, auf welche er zuzusteuern beschloß; bevor er diese jedoch erreichen konnte, mußte das Schiff die Riffe passiren, durch welche eine Fahrstraße zu finden nicht leicht sein mochte. Ueberall sah man an dem Wirbeln des Wassers, daß es nur wenig über den Steinen stehen konnte.

Da sprang Dingo, der sonst auf dem Deck hin und her lief, nach dem Vordertheil zu und fing, als er das Land gewahr wurde, jämmerlich zu bellen an. Man hätte glauben können, er erkenne diesen Landstrich wieder und sein Instinct riefe ihm eine schmerzliche Erinnerung wach.[147]

Negoro mochte ihn wohl gehört haben, denn auch er trat jetzt aus seiner Küche hervor und lehnte sich, trotz der zu fürchtenden Anwesenheit des Hundes, auf die Schanzkleidung.

Glücklicher Weise schien ihn Dingo, dessen trauriges Gebell nur dem Lande galt, nicht zu bemerken.

Negoro's Blick weilte auf der fürchterlichen Brandung; ihm flößte sie offenbar keinen Schrecken ein. Mrs. Weldon, welche ihn im Stillen beobachtete, glaubte zu sehen, daß sein Antlitz eine leichte Röthe überflog und seine Gesichtszüge sich ein wenig verzerrten.

Kannte Negoro wohl diesen Punkt des Festlandes, nach dem die Winde den »Pilgrim« trieben?

In diesem Augenblicke verließ Dick Sand das Steuer, das er dem alten Tom überließ. Noch einmal faßte er die kleine Bucht, die sich jetzt etwas weiter öffnete, in's Auge.

»Mistreß Weldon, begann er dann mit fester Stimme, ich habe keine Hoffnung mehr, einen rettenden Hafen zu finden. Noch vor Ablauf einer halben Stunde wird der »Pilgrim«, trotz aller Versuche, auf den Klippen sitzen. Wir müssen auf den Grund zu treiben suchen. Ich werde Ihr Schiff nach gar keinem Hafen zurückführen können. Ich bin jetzt gezwungen, es verloren zu geben, um Sie zu retten! Doch zwischen Ihrem Heil und dem seinigen ist keine lange Wahl möglich!

– Du hast gethan, was zu thun möglich war? fragte Mrs. Weldon.

– Alles!« antwortete der Leichtmatrose.

Sofort traf er nun seine Anstalten für die Strandung. Zuerst mußten sich Mrs. Weldon, der kleine Jack, Vetter Benedict und Nan mit Rettungsgürteln versehen. Dick Sand, Tom und die Neger hofften als geübte Schwimmer die Küste zu erreichen, im Falle sie in's Meer geschleudert würden.

Herkules wurde speciell die Sorge für Mrs. Weldon aufgetragen. Der Leichtmatrose nahm Jack unter seinen Schutz. Vetter Benedict erschien übrigens merkwürdig ruhig, mit seiner Entomologentrommel am Bande, wieder auf dem Verdeck. Der Leichtmatrose empfahl ihn an Bat und Austin. Negoro's ruhiges Benehmen ließ erkennen, daß er Niemandes Hilfe brauchte.

Aus übergroßer Vorsicht ließ Dick Sand auch ein Dutzend Thranfässer der Ladung nach dem Vordertheil schaffen.[148]

Dieses Oel sollte, wenn der »Pilgrim« sich in der Brandung befand, auf das Wasser gegossen werden, um dasselbe wenigstens für kurze Zeit zu beruhigen, indem es die Wassermoleküle sozusagen schlüpfrig machte. Man erwartete, daß das Schiff durch dieses Manöver leichter durch die Klippen gleiten sollte.

Dick Sand wollte eben nichts unterlassen, was zum allgemeinen Besten dienen konnte.

Nachdem alle Vorsichtsmaßregeln getroffen waren, nahm er wiederum am Steuer Platz.

Der »Pilgrim« segelte jetzt nur noch zwei Kabellängen vom Ufer, d.h. er berührte fast schon die Klippen.

Seine Steuerbordseite badete sich schon in dem weißen Schaume der Brandung. Jeden Augenblick erwartete der Leichtmatrose das Aufstoßen des Kiels gegen die Felsen unter dem Wasser.

Plötzlich erkannte Dick an einem Streifen dunkleren Wassers eine Furth zwischen dem Klippenkranze. Diese galt es ohne Zögern zu benutzen, um doch erst so nahe wie möglich von der Küste zu stranden.

Der Leichtmatrose besann sich keinen Augenblick. Eine Wendung des Steuers brachte das Fahrzeug in den enger gewundenen Kanal hinein.

In dieser engen Straße wüthete das Meer noch gewaltiger und die Wogen schlugen fast bis zum Deck hinaus.

Die Neger standen auf dem Vordertheile neben den Oelfässern in Erwartung der Befehle ihres Kapitäns.

»Gießt das Oel aus! Schnell, gießt aus!« rief Dick Sand.

Sobald sich das Oel auf den Wellen verbreitete, glättete sich das Meer zwar, aber nur, um den nächsten Moment desto empörter aufzubrausen. Der »Pilgrim« flog über die schlüpfrigen Wogen dahin, in gerader Richtung auf das Ufer zu.

Plötzlich erfolgte ein Stoß. Erst erhob sich das Schiff auf dem Rücken einer furchtbaren Woge, dann saß es auf dem Grunde fest, wobei seine Masten gebrochen und zusammengestürzt waren, zum Glück ohne Jemanden zu verletzen.

Der Rumpf des »Pilgrim« hatte dabei einen großen Leck bekommen, durch den das Wasser in vollen Strömen eindrang. Das Ufer lag jedoch[149] nur noch eine halbe Kabellänge vor ihnen und eine Kette kleinerer Felsen gestattete, es verhältnißmäßig leicht zu erreichen.

Zehn Minuten darauf standen Alle, welche der »Pilgrim« trug, glücklich am Fuße der Küste.

Quelle:
Jules Verne: Ein Kapitän von fünfzehn Jahren. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band XXVII–XXVIII, Wien, Pest, Leipzig 1879, S. 138-150.
Lizenz:

Buchempfehlung

Kleist, Heinrich von

Robert Guiskard. Fragment

Robert Guiskard. Fragment

Das Trauerspiel um den normannischen Herzog in dessen Lager vor Konstantinopel die Pest wütet stellt die Frage nach der Legitimation von Macht und Herrschaft. Kleist zeichnet in dem - bereits 1802 begonnenen, doch bis zu seinem Tode 1811 Fragment gebliebenen - Stück deutliche Parallelen zu Napoleon, dessen Eroberung Akkas 1799 am Ausbruch der Pest scheiterte.

30 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Für den zweiten Band hat Michael Holzinger sechs weitere bewegende Erzählungen des Sturm und Drang ausgewählt.

424 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon