Neununddreißigstes Capitel.
Der Ingenieur. – Rückfahrt nach New-York. – Dean Pitferge abermals auf dem Great-Eastern. – Das Telegramm. – In der Studirstube.

[158] Wenige Minuten später stiegen wir auf einer sehr langen Treppe nach der canadischen Küste herab und kamen so zum Ufer des Flusses, das von Eisblöcken ganz belagert war. Hier erwartete uns ein Boot, in dem wir »nach Amerika« übersetzten. Als wir einstiegen, hatte bereits ein Reisender in dem Fahrzeuge Platz genommen, es war ein Ingenieur aus Kentucky, der dem stets theilnehmenden Pitferge bald seinen Namen und sonstige Verhältnisse anvertraut hatte. Wir schifften uns ohne Zeitverlust ein und kamen bald unter mancherlei Collisionen mit den Eisschollen bis in die Mitte des Flusses, von wo wir dem herrlichen Niagarafall noch einen letzten Scheideblick zuwarfen.

Unser Reisegefährte beobachtete den Katarakt gleichfalls mit aufmerksamem Auge.

»Nicht wahr, mein Herr, das ist schön, bewunderungswürdig schön? fragte ich ihn.

– Ja, lautete seine Antwort, aber welch ungemessene mechanische Kraft wird hier unnütz vergeudet, was für eine enorme Mühle ließe sich mit diesem Fall in Bewegung setzen!«

Nie bis zu dieser Stunde hatte ich so unbezwingliche Lust verspürt, einen Ingenieur in's Wasser zu werfen.

Als wir am andern Ufer angekommen waren, hißte uns eine verticale kleine Eisenbahn, die durch einen Seitenstrang von dem amerikanischen Fall her in Bewegung gesetzt wurde, in wenigen Secunden auf die Anhöhe. Um halb zwei Uhr fuhren wir mit dem Courierzuge ab, der uns um ein Viertel auf Drei in Buffalo absetzte, wir statteten dieser jungen Großstadt einen flüchtigen Besuch ab, kosteten das Wasser des Erie-Sees und fuhren um sechs Uhr Abends mit der New-York-Centralbahn weiter. Als wir am folgenden Morgen die bequemen Schlafstätten des »Sleeping-Car« verließen, waren wir bereits in Albany, und die Hudson-Eisenbahn, die sich wasserpaß längs dem linken Flußufer hinzieht, brachte uns einige Stunden später nach New-York.[158]

Am folgenden Tage, den 15. April, durchstreifte ich in Gesellschaft meines unermüdlichen Führers die Stadt und sah mir den East-River und Brooklyn an; erst als der Abend herannahte, trennte ich mich von dem braven Doctor, und als ich ihm zum letzten Mal die Hand drückte, hatte ich das Gefühl, als scheide ich von einem Freunde.

Die Abfahrt des Great-Eastern war auf den 16. April festgesetzt, und ich begab mich demgemäß um elf Uhr Morgens nach dem siebenunddreißigsten »Pier«, wo der Schleppdampfer die Reisenden erwarten sollte. Er war schon mit Passagieren und Collis überfüllt, als ich eintraf, und eben machte ich mich daran, einen näheren Umblick unter meinen künftigen Reisegefährten zu halten, als mich Jemand derb am Arme erfaßte. Ich blickte mich um und sah abermals Pitferge neben mir stehen.

»Wie, Doctor, sind Sie's? rief ich erstaunt, Sie kehren wieder nach Europa zurück?

– Ja, mein lieber Herr.

– Und mit dem Great-Eastern?

– Ganz gewiß, versetzte mit größter Ruhe mein Original; ich habe mir die Sache überlegt, und da es sehr möglich ist, daß der Great-Eastern von dieser Reise nicht mehr heimkommt, will ich doch lieber die Reise mitmachen; Sie wissen ja, ich möchte dabei sein!«

In wenigen Minuten sollte die Glocke zur Abfahrt läuten, als ein Steward aus Fifth-Avenue-Hotel eilig zu uns herankam und mir ein Telegramm, aus Niagara-Falls datirt, überreichte; es war von Hauptmann Corsican und meldete wie folgt: »Ellen ist wiedererwacht und im vollen Besitz ihrer Geisteskräfte, der Doctor bürgt für sie!«

Ich theilte die gute Nachricht sofort dem Doctor mit!

»Bürgt für sie! bürgt für sie! murmelte er vor sich hin, ich bürge auch für sie, aber was will das beweisen! Wer für Sie und mich und uns Alle bürgen wollte, könnte sich unter Umständen stark verrechnet haben! ...«

Zwölf Tage später kamen wir in Brest an und am folgenden Tage in Paris; die Ueberfahrt war zum großen Kummer des Doctors ohne Unfall verlaufen; er hatte sehr zuversichtlich auf den lange prophezeiten Schiffbruch gewartet.

Als ich endlich wieder in meiner Blouse und vor meinem Schreibtisch saß, wäre ich fast versucht gewesen, meinen vierwöchentlichen Aufenthalt in der[159] schwimmenden Stadt, die man den Great-Eastern nennt, die Begegnung mit Ellen und Fabian, ja auch meine Erlebnisse an den Niagarafällen für einen lebhaften Traum zu halten, aber die Aufzeichnungen, die ich Tag für Tag während meiner Fahrt gemacht hatte, schützten mich davor. Ach! Reisen ist doch schön, selbst wenn man ohne zu scheitern heimkehrt, wie auch der Doctor darüber denken mag!

Acht Monate vergingen, ohne daß ich Etwas von meinem Original hörte, da, eines Tages, brachte mir der Postbote einen mit vielfarbigen, seltsamen Marken beklebten Brief, der folgendermaßen begann:


»An Bord des Coringuy, Auckland's Klippen.

Endlich haben wir Schiffbruch erlitten ...«


und mit den Worten schloß:


»Niemals habe ich mich wohler gefühlt!

Mit herzlichen Grüßen

Ihr

Dean Pitferge.«


Ende.

Quelle:
Jules Verne: Onkel Robinson. München 1993.
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