Zehntes Capitel.
In welchem die Helden dieser Erzählung weder einen Tag, noch eine Stunde verlieren.

[333] Am folgenden Tage, dem 18. September, als noch die ersten Sonnenstrahlen die hohen Minarets der Stadt vergoldeten, zog eine kleine Karawane durch eines der Thore der befestigten Umfassung und sandte dem poesievollen Trapezunt einen letzten Abschiedsgruß zu.

Diese nach den Ufern des Bosporus bestimmte Karawane folgte den Straßen längs der Küste unter Leitung eines Führers, dessen Unterstützung der Seigneur Keraban gern angenommen hatte.

Aller Voraussetzung nach mußte dieser Führer den westlichen Theil Anatoliens ganz genau kennen; es war einer der Nomaden, die man hierzulande gewöhnlich »Knorrenjäger« zu nennen pflegt.

Mit diesem Namen aber bezeichnet man eine gewisse Classe Holzfäller, welche von Geschäftswegen die Forsten dieses Theiles Anatoliens und Kleinasiens durchstreifen, worin der gewöhnliche Wallnußbaum vorzüglich gedeiht. Auf diesen Bäumen entstehen Knorren oder natürliche Auswüchse von besonderer Härte, deren Holz, da es sich aus eben jenem Grunde zu allen Arbeiten der Kunsttischlerei vorzüglich eignet, immer stark gesucht ist.

Dieser Knorrenjäger hatte in Erfahrung gebracht, daß eine Gesellschaft Fremder von Trapezunt abreisen und sich nach Scutari begeben wollte, worauf hin er Ahmet noch am Vorabend seine Dienste angeboten hatte. Er machte den Eindruck eines intelligenten Mannes und war sehr bekannt mit den Wegen, so daß er sich auch auf den schwerer zu findenden Pfaden durch die Wälder nicht verirren konnte. Da er auf die, von dem Seigneur Keraban an ihn gerichteten Fragen zufriedenstellende Antworten gab, war dieser Knorrenjäger um ziemlich anständigen Lohn gedungen worden, den der reiche Türke noch zu verdoppeln versprach, wenn die Karawane binnen zwölf Tagen – dem äußersten für die Vermählung Ahmets und Amasias zulässigen Termin – die Uferhöhen des Bosporus erreichte.[333]

Nachdem er selbst den Diener ausgefragt, und obgleich dieser in seinen kalten Zügen, dem sozusagen zugeknöpften Auftreten ein gewisses Etwas besaß was nicht besonders für ihn einnahm, glaubte Ahmet zunächst doch nicht, daß er zu dieser, immerhin einiges Vertrauen fordernden Stellung unpassend sei. Für sie mußte ja ein Mann von größtem Nutzen sein, der die Gegend sein Leben lang aus eigener Anschauung kannte, und ein solcher zu großer Beruhigung im Hinblick auf eine Reise, welche in größtmöglicher Schnelligkeit zurückgelegt werden sollte.

Der Knorrenjäger wurde also der Führer des Seigneur Keraban und seiner Begleiter. Ihm lag es ob, der kleinen Gesellschaft die einzuhaltende Richtung anzugeben; er hatte die Haltestellen zu bezeichnen, die Lagerplätze zu ordnen; ihm fiel es zu, für die Sicherheit Aller zu wachen, und als man ihm die Verdoppelung seines Lohnes unter der Bedingung der rechtzeitigen Ankunft in Scutari zusicherte, antwortete er:

»Der Seigneur Keraban darf sich meiner pflichteifrigen Ergebenheit versichert halten, und da er meine Dienste mit dem doppelten Preise zu belohnen verspricht, so verpflichte ich mich freiwillig andererseits, gar nichts zu beanspruchen, wenn er vor Ablauf von zwölf Tagen nicht in seiner Villa in Scutari angelangt ist.

– Beim Barte des Propheten, das ist der Mann, den ich suchte und wie er mir jetzt nur passen kann! sagte Keraban, als er seinem Neffen von diesem Angebot des Führers Mittheilung machte.

– Ja, gab Ahmet zur Antwort, das mag ja ein ganz vorzüglicher Führer sein, lieber Onkel, aber lassen wir deshalb nie außer Acht, daß es nicht rathsam erscheint, sich unvorsichtig auf die Landstraßen Anatoliens zu wagen.

– Ah, Du hegst immer solche Befürchtungen!

– Onkel Keraban, ich werde uns nicht eher für gesichert gegen jede unliebsame Ueberraschung halten, als bis wir in Scutari eingetroffen sind...

– Und Du verheiratet sein wirst! Richtig! antwortete Keraban, Ahmets Hand drückend. Ich verspreche Dir also, binnen zwölf Tagen wird Amasia die Frau des ergebensten der Neffen sein.

– Und die Nichte des...

– Des besten aller Onkels!« rief Keraban, der die letzten Worte mit einem herzlichen Lachen begleitete.

Das Fahrmaterial der Karawane bestand jetzt aus zwei Talikas, das sind ziemlich bequeme Kutschwagen, welche bei schlechter Witterung geschlossen[334] werden können, nebst vier Zugpferden, die zu je zwei an die Talikas gespannt waren, und zwei Reitpferden. Ahmet hatte sich höchst glücklich geschätzt, selbst für sehr hohen Preis diese Fuhrwerke in Trapezunt zu erhalten, was die Aussicht bot, die Reise unter den günstigsten Bedingungen zu vollenden.

Der Seigneur Keraban, Amasia und Nedjeb hatten in der ersten Talika Platz genommen, deren Rücksitz Nizib übrig gelassen war; im Grunde der zweiten thronte die edle Sarabul neben ihrem Verlobten und gegenüber ihrem Bruder, während Bruno als Leibdiener fungirte.

Eines der Reitpferde trug Ahmet, das andere den Führer, der bald an die Talikas heransprengte, bald ein Stück vorausritt, um die Straße zu besichtigen.

Da das Land vielleicht nicht ganz sicher sein konnte, hatten sich die Reisenden mit Flinten und Revolvern versehen, ohne die Waffen zu rechnen, welche gewöhnlich schon in den Gürteln des Seigneur Yanar und seiner Schwester staken, und die berüchtigten, meist von der Pfanne brennenden Pistolen des Seigneur Keraban. Obwohl der Führer ihm versicherte, daß nichts zu fürchten sei, wollte Ahmet doch gegen jeden Angriff gesichert sein.

Eigentlich war es ja keine so schwierige Sache, etwa zweihundert Lieues in zwölf Tagen mit jenen Transportmitteln zurückzulegen, selbst wenn man nur selten an den hier dünnverstreuten Poststationen Halt machen und den Pferden nur einmal in der Nacht Ruhe gönnen konnte. Traten jetzt keine unvorhergesehenen und unwahrscheinlichen Zwischenfälle ein, so durfte man hoffen, diese Rundreise in der dafür festgesetzten Zeit zu Ende zu führen.

Der Landstrich, der sich von Trapezunt bis Sinope erstreckt, wird von den Türken Djanik genannt. Jenseits desselben beginnt des eigentliche Anatolien, das alte Bithynien, jetzt eines der umfangreichsten Paschaliks des türkischen Asiens, welches mit der Hauptstadt Kutaiah, mit Brussa und mit andern als Hauptorten den westlichen Theil des alten Kleinasiens umfaßt.

Die kleine Karawane, welche um sechs Uhr Morgens von Trapezunt aufgebrochen war, erreichte nach Zurücklegung eines Weges von fünf Lieues um neun Uhr Platana.


Auf diesen Bäumen entstehen Knorren... (S. 333.)
Auf diesen Bäumen entstehen Knorren... (S. 333.)

Platana ist das alte Hermuassa. Um dahin zu gelangen, muß man durch eine Art Thal ziehen, in dem Gerste, Weizen und Mais gedeihen, und wo sich schöne Tabakspflanzungen ausbreiten, welche ein vorzügliches Erzeugniß liefern.[335]

Der Seigneur Keraban konnte sich nicht enthalten, die Vertreter dieser Solanee Asiens zu bewundern, deren Blätter, ohne besondere Bearbeitung, eine goldgelbe Farbe annehmen. Höchst wahrscheinlich hätte sein Correspondent, Freund Van Mitten, diese Bewunderung getheilt oder gar überboten, wenn es ihm nicht verboten gewesen wäre, etwas Anderes als die edle Sarabul zu bewundern.

Ueberall erhoben sich auch schon Bäume, Tannen, Fichten, Buchen, welche sich mit den prächtigsten Exemplaren von Holstein und Dänemark messen können, Nuß-, Johannisbrot- und wilde Erdbeerbäume. Bruno bemerkte nicht ohne ein[336] gewisses Gefühl von Neid, daß die Landesbewohner, selbst noch ganz junge Leute, schon recht nette Dickbäuche waren – was er als zum Skelet herabgekommener Holländer als schwere Erniedrigung empfand.

Zu Mittag kam man an den kleinen Flecken Fol, wobei die ersten Bodenerhebungen der Pontinischen Alpen links liegen gelassen wurden. Auf den Wegen kreuzten sich, entweder in der Richtung nach Trapezunt oder von dort zurückkehrend, Bauern in dicken groben Wollenröcken, mit dem Fez oder einer Schaffellmütze auf dem Kopfe, in Begleitung ihrer Weiber, welche sich in gestreifte[337] Baumwollenstoffe kleiden, die sich auf ihren rothwollenen Röcken recht gut ausnehmen.


Der Fahrweg verlief längs des Saumes prächtiger Wälder. (S. 339.)
Der Fahrweg verlief längs des Saumes prächtiger Wälder. (S. 339.)

Das Ganze gehörte zu dem Landstriche Xenophons, den er durch seinen Rückzug der Zehntausend berühmt gemacht hat. Der unglückliche Van Mitten durchstreifte denselben freilich unter den drohenden Blicken Yanars, selbst ohne daß ihm zugestanden wurde, seinen Führer nachzuschlagen. Dafür hatte er Bruno Befehl ertheilt, an seiner Stelle darin nachzulesen und im Fluge einige Notizen zu machen. Freilich dachte Bruno an ganz andere Dinge als an die Heldenthaten eines griechischen Heerführers, und deshalb hatte er auch beim Aufbruche aus Trapezunt versäumt, seinen Herrn auf den die Stadt überragenden Hügel aufmerksam zu machen, von dessen Gipfel die Zehntausend bei ihrer Rückkehr von Macronissi mit Jubelruf die Wellen des Schwarzen Meeres begrüßten. Nein, das war kein treuer Diener!

Nach einer Fahrt von zwanzig Lieues hielt und übernachtete die Karawane in Tireboli. Hier wurde der »Caiwak« bereitet mittelst des Labmagens von Lämmern, eine Art, durch Abkühlung der Milch gewonnene Crême, der Yaurk, ein aus saurer Milch mit Käselab erzeugter Käse, bestens gewürdigt von den Reisenden, denen der lange Weg einen tüchtigen Appetit erregt hatte. Schaffleisch unter allen Formen fehlte natürlich auch nicht, und Nizib konnte sich darin ein Gütchen thun, ohne einen Verstoß gegen die Religionsgesetze befürchten zu müssen. Diesmal konnte ihn Bruno nicht um seinen Antheil an dem Abendessen betrügen.

Der kleine Flecken, eigentlich nur ein Dorf, wurde am Morgen des 19. September wieder verlassen. Im Laufe des Tages kam man durch Zepe an seinem sehr beengten Hafen vorüber, wo höchstens drei bis vier Handelsschiffe von geringem Tiefgang Aufnahme finden können. Dann gelangte man, immer unter Leitung des Führers, der ohne Widerspruch die inmitten der ausgedehnten Ebenen oft kaum bezeichneten Straßen vollkommen kannte, nach einer Etappe von fünfundzwanzig Lieues nach Kerasun.

Kerasun ist am Fuße eines Hügels, auf einem Doppelabsatze der Küste erbaut. Dieses alte Pharnacea, wo die Zehntausend zur Wiedergewinnung von Kräften zehn Tage lang rasteten, bietet mit den Ruinen seines, den Eingang zum Hafen beherrschenden Schlosses einen sehr pittoresken Anblick.

Hier hätte der Seigneur Keraban leicht große Mengen von Pfeifenrohren in Kirschholz erwerben können, welche einen beträchtlichen Handelsartikel bilden.[338]

In dem Paschalik gedeiht gerade der Kirschbaum vorzüglich, und Van Mitten glaubte seiner Verlobten die wichtige historische Thatsache mittheilen zu müssen, daß der Proconsul Lucullus gerade von Kerasun einst die ersten Kirschpflanzen geschickt habe, welche dann in Europa eingeführt wurden.

Sarabul hatte von dem berühmten Weinkenner noch niemals reden gehört und schien den gelehrten Abhandlungen Van Mitten's nur sehr mäßiges Inte resse zuzuwenden. Immer unter der Knute des stolzen Weibes, stellte er den armseligsten Kurden dar, den man sich nur denken konnte. Und doch hörte Keraban, ohne daß man hätte unterscheiden können, ob er scherzte oder nicht, nicht auf, ihn über die Art und Weise, wie er sein neues Costüm trug, zu beglückwünschen – wobei Bruno freilich nur mit den Achseln zuckte.

»Ja, Van Mitten, ja! wiederholte Keraban, das steht Ihnen vorzüglich, dieser Rock, der Chalwar, der Turban, und um ein vollständiger Kurde zu sein, fehlt Ihnen nur noch der große buschige Schnurrbart, wie ihn der Seigneur Yanar trägt.

– Ich habe niemals einen Schnurrbart gehabt, antwortete Van Mitten.

– Sie haben keinen Schnurrbart? rief Sarabul.

– Er hat keinen Schnurrbart? wiederholte der Seigneur Yanar in möglichst verächtlichem Tone.

– Wenigstens kaum, edle Sarabul.

– Nun, Sie sollen bald einen haben, erklärte die befehlerische Kurdin, und ich nehme es auf mich, Ihnen einen solchen wachsen zu lassen.

– Armer Herr Van Mitten, murmelte die junge Amasia, ihn mit einem freundlichen Blicke tröstend.

– Schön, da wird es noch 'was zum Lachen geben!« rief Nedjeb lustig, während Bruno den Kopf schüttelte, wie ein unglückverkündender Vogel.

Am nächsten Tage, dem 20. September, ließ die kleine, jetzt vom herrlichsten Wetter begünstigte Gesellschaft, nachdem sie zuerst den Spuren einer, der Sage nach von Lucullus zur Verbindung Anatoliens mit den armenischen Provinzen angelegten Straße gefolgt, das Dorf Aptar hinter sich, und dann gegen Mittag, den Flecken Ordu. Dieser Fahrweg verlief längs des Saumes prächtiger Wälder, die sich an den Hügeln hinaufziehen und in denen die verschiedensten Baumarten vorkommen, wie Eichen, Weißbuchen, Ulmen, Ahorn. Platanen, Pflaumen und Oelbäume einer Bastardart, Ellern, Silberpappeln, Granaten, weiße und schwarze Maulbeerbäume, Nußbäume und Sycomoren.[339]

Hier gedeiht auch der Weinstock in üppigster Fülle und umschlingt, wie der Epheu in kälteren Klimaten, die Bäume bis zum höchsten Gipfel, außerdem aber giebt es noch eine Menge Gesträuche, wie Weißdorn, Berberitzbeerbüsche, Haselstauden, Maulbeerbüsche, Hollunder, Jasmin, Tamarinden, ferner unzählige niedrigere Pflanzen, Seefarren mit weißen Blüthen, Iris, Rhododendrons, Scabiosen, gelbliche Narcissen, Asclepiadeen, Malven, Tausendguldenkraut und wilde Tulpen, ja sogar Tulpen, welche Van Mitten nicht ansehen konnte, ohne daß seine Liebhaberei für dieselben wieder erwachte, obgleich dieser Anblick eher geeignet war, ihm eine unangenehme Erinnerung aus seiner ersten Ehe zurückzurufen. Jetzt freilich bot ihm die erste Frau Van Mitten eine wünschenswerthe Garantie gegen die Eheansprüche der zweiten Er schätzte sich glücklich, ja zehnmal glücklich, daß er schon einmal unauflöslich mit einer Gattin verbunden war.

Nach Ueberschreitung des Cap Jessun Burun geleitete der Führer die Karawane quer durch die Ruinen der alten Stadt Polemonium, nach dem Flecken Fatisa, wo Menschen und Pferde eine ganze Nacht der nöthigen Ruhe genossen.

Obwohl Ahmet stets die Augen offen hielt, hatte er doch bisher nichts Verdächtiges bemerkt. Einige fünfzig Lieues waren schon von Trapezunt aus zurückgelegt, und noch hatte keine Gefahr den Seigneur Keraban und seine Gefährten bedroht. Der von Natur etwas schweigsame Führer erwies sich unterwegs wie auf den Haltestellen stets seiner Aufgabe gewachsen und für das Wohl der Reisenden besorgt. Und dennoch empfand Ahmet gegen diesen Mann ein gewisses Mißtrauen, das er nicht zu unterdrücken vermochte. Auch vernachlässigte er nicht das Geringste, um die Sicherheit Aller zu gewährleisten, und wachte für das allgemeine Wohl, ohne davon etwas merken zu lassen.

Am 21. verließ man früh Morgens Fatisa. Gegen Mittag blieb der Hafen von Unieh mit seinen Werften an der Mündung des alten Oenus zur Rechten liegen. Weiterhin verlief die Straße durch ungeheure Ebenen mit Hanfanpflanzungen bis zur Mündung des Tscherchenbeb, wohin die Sage einen Stamm Amazonen verlegt hat, und umkreist dann die Caps und mit Ruinen bedeckten Vorgebirge dieser historisch sehr merkwürdigen Küste Am Nachmittag kam man an dem Schloß von Terme vorbei und am Abend nach Samsun, einer alten athenischen Colonie, wo für die Nacht Rast gemacht wurde.

Samsun ist einer der wichtigsten Stapelplätze dieser Gegend des Schwarzen Meeres, obgleich seine Rhede nicht eben sicher und sein Hafen an der Mündung des Etil-Irmak etwas seicht ist. Doch blüht hier ein lebhafter Handel und[340] man versendet vorzüglich viele unter dem Namen Arbusen bekannte Wassermelonen nach Constantinopel, welche in der Umgegend in großer Menge wachsen. Ein altes, malerisch an der Küste gelegenes Fort würde die Stadt freilich gegen einen Angriff von der Seeseite nur unvollkommen vertheidigen können.

Bei der Abmagerung, an der Bruno litt, erschienen ihm diese allzu wasserhaltigen Arbusen, welche sich der Seigneur Keraban und die Anderen trefflich munden ließen, nicht als geeignetes Mittel, mehr zu Kräften zu kommen, und er schlug es also ab, davon zu essen. Obwohl der arme Kerl schon sehr zurückgekommen war, schien sein Leiden doch noch nicht auf dem Gipfel zu sein, und selbst der Seigneur Keraban konnte sich einer diesbezüglichen Bemerkung nicht entziehen.

»Aber, sagte er wie zum Troste, wir nähern uns Egypten, und da könnte Bruno, wenn es ihm paßt, mit seiner Person ein recht vortheilhaftes Geschäft machen.

– Und auf welche Weise? fragte Bruno.

– Indem er sich als Mumie verkaufte!«

Es versteht sich von selbst, daß ein solcher Vorschlag dem unglücklichen Diener höchlichst mißfiel, und daß er dafür dem Seigneur Keraban die zweite Heirat seines Herrn an den Hals wünschte.

»Doch Ihr werdet sehen, murmelte er, daß diesem Türken nichts passirt, und daß alles Unheil nur auf uns, auf die Häupter der Christen fällt!«

In Wahrheit befand sich der Seigneur Keraban vortrefflich und obendrein versiegte ihm jetzt, wo er seine Projecte unter den günstigsten Bedingungen ihrem Ende entgegen gehen sah, auch die gute Laune nicht mehr.

Weder das Dorf Militsch noch Kysil, in dem der Zug im Laufe des 22. September über eine Schiffbrücke ging: weder in Gerse, wo man am folgenden Morgen ankam, noch in Tschobanlar hielten die Wagen an, außer der zum Ausruhen unbedingt nöthigen Zeit. Der Seigneur Keraban hätte wohl gern, und wenn auch nur auf wenige Stunden, Bafira oder Basra, das ein wenig landeinwärts liegt, besucht, weil da starker Tabakshandel betrieben wird und von daher die »Tays«, das sind zwischen langen Latten geschnürte Packete, kommen die so oft seine Magazine in Constantinopel gefüllt hatten; das hätte aber einen Umweg von zehn Lieues bedingt, und es schien doch rathsam, eine ohnehin lange Reise nicht noch mehr auszudehnen Am 23. Abends gelangte[341] die kleine Karawane ohne Unfall nach Sinope, an der Grenze des eigentlichen Anatoliens.

Dieses Sinope, das auf einer Landenge gelegene alte Sinope des Strabon und des Polybeus, ist noch ein wichtiger Platz des Pontus Euxinus. Seine Rhede ist immer sicher, und es werden hier viele Schiffe erbaut aus dem vorzüglichen Holze der Wälder Aio-Antonios, welche in der Nachbarschaft grünen. Es besitzt ein von doppelter Umwaltung umzogenes Schloß, zählt aber höchstens fünfhundert Häuser und kaum fünf- bis sechstausend Einwohner.

O, warum war Van Mitten nicht zwei- oder dreitausend Jahre früher geboren worden! Wie hätte er diese berühmte Stadt bewundert, deren Gründung man den Argonauten zuschreibt, welche unter einer milesischen Colonie zu Ansehen gelangte und sich den Namen Carthago des Pontus Euxinus erwarb, deren Schiffe zur Zeit der Römer das Schwarze Meer bedeckten und welche endlich an Mohammed II. abgetreten wurde, weil sie dem Befehlshaber der Gläubigen so sehr gefiel! Jetzt war es freilich zu spät, etwas von dem alten Glanze zu entdecken, von dem nur da und dort noch schöne Karniese, verzierte Giebelbauten und Säulen verschiedener Style übrig sind. Es verdient noch bemerkt zu werden, daß die Stadt ihren Namen von Sinope, der Tochter Aesops und der Methone, herleitet, welche von Apollo geraubt und hierher gebracht wurde; diesmal freilich war es der weibliche Theil, der den Gegenstand seiner Zärtlichkeit mit sich hinwegführte, und diese Nymphe hieß Sarabul. Van Mitten selbst stellte diesen Vergleich an, aber er fühlte es dabei, wie sich ihm das Herz zusammenzog. Noch hundertfünfundzwanzig Lieues trennen Sinope von Scutari; dazu blieben dem Seigneur Keraban noch sieben Tage übrig. Wenn er auch nicht gerade im Rückstande war, so hatte er doch keinen Vorsprung gewonnen. Es kam also darauf an, keinen Augenblick einzubüßen.

Am 24. verließ man mit Aufgang der Sonne Sinope, um den Krümmungen des anatolischen Ufers zu folgen. Gegen zehn Uhr erreichte die kleine Truppe Istifan, zu Mittag den Flecken Apana, Abends, nach einer Fahrt von fünfzehn Lieues, hielt sie in Ineboli, dessen offene Rhede, welche alle Winde bestreichen, für Handelsschiffe nicht besonders sicher ist.

Ahmet schlug vor, hier nur zwei Stunden auszuruhen und den übrigen Theil der Nacht weiter zu reisen. Zwölf gewonnene Stunden wiegen ja recht gut etwas mehr Anstrengung auf. Der Seigneur Keraban nahm den Vorschlag seines Neffen an. Niemand widersprach – nicht einmal Bruno. Yanar und[342] Sarabul selbst hatten es ziemlich eilig, an den Ufern des Bosporus anzukommen, um den Rückweg nach Kurdistan einzuschlagen, und Van Mitten nicht geringe Eile, soweit als möglich von jenem Kurdistan zu entfliehen, dessen Name allein ihm schon einen höllischen Schrecken einjagte.

Der Führer hatte gegen den Vorschlag nichts einzuwenden und erklärte sich bereit aufzubrechen, sobald es gewünscht würde. Ihm galt Tag und Nacht gleich, denn bei seiner Gewohnheit, durch die dichten Wälder zu ziehen, konnte es ihm nicht fehlen, sich auf den Wegen längs der Küste zurecht zu finden.

Um acht Uhr Abends, als sich eben der volle, klar glänzende Mond kurz nach Untergang der Sonne im Osten erhob, fuhr man ab, und Amasia, Nedjeb, wie der Seigneur Keraban, die edle Sarabul, Yanar und Van Mitten machten es sich in den Wagen bequem, und schlummerten bei dem gleichmäßigen, aber anhaltenden Trabe der Pferde bald ein wenig ein.

So bemerkten sie nichts von dem Cap Kerembe, das immer von Seevögeln umschwärmt ist, deren betäubendes Geschrei die Luft erfüllt. Am Morgen kamen sie durch Timle, ohne daß ein Unfall die Reise störte; dann erreichten sie Kidros und machten am Abend in Amasra für die Nacht Halt. Nach einer, binnen sechsunddreißig Stunden zurückgelegten Wegstrecke von mehr als sechzig Lieues bedurften sie wohl wieder einmal der Ruhe.

Van Mitten – wir müssen immer auf diesen wackeren Mann zurückkommen, der seinen Reiseführer schon vorher beständig studirt hatte – hätte, wenn er Herr seiner Handlungen und mit dem nöthigen Gelde versehen gewesen wäre, gewiß gern den Hafen von Amasra durchsucht, um dort einen Gegenstand zu finden, dessen archäologischen Werth kein Sachkenner leugnen dürfte.

Es ist bekannt, daß die Königin Amastris 290 Jahre vor Christus – sie die Gattin des Lysimachus, eines der Heerführer Alexanders, die berühmte Gründerin der Stadt – in einen Ledersack gesteckt und von ihren Brüdern in das Wasser desselben Hafens geworfen wurde, den sie gegründet hatte. Ha, welcher Ruhm für Van Mitten, wenn es ihm im Vertrauen auf seinen Reiseführer gelungen wäre, diesen berühmten historischen Sack wieder aufzufischen! Doch wie gesagt, es fehlte ihm an Zeit und Geld, und ohne Jemand – nicht einmal der edlen Sarabul – die Ursache seiner Träumerei mitzutheilen, schwieg er zu seinem größten archäologischen Kummer.

Am andern Morgen, dem 26. September, wurde diese alte Hauptstadt der Gennesen, welche jetzt nur ein elendes Dorf mit geringer Spielwaarenfabrikation


Mit Sonnenaufgang verließ man Sinope. (S. 345.)
Mit Sonnenaufgang verließ man Sinope. (S. 345.)

bildet, mit Sonnenaufgang verlassen. Drei oder vier Lieues weiterhin passirte man neben dem Flecken[343] Bartan vorüber, im Laufe des Nachmittags Filias, bei einbrechendem Abend Ozia und kam gegen Mitternacht endlich nach dem Flecken Erekli.


Hier machte man für die Nacht Halt und berathschlagte. (S. 346.)
Hier machte man für die Nacht Halt und berathschlagte. (S. 346.)

Hier ruhten Alle bis zum ersten Tagesgrauen, eigentlich nur wenig, denn die Pferde – von den Reisenden zu schweigen – zeigten sich von der Anstrengung der langen Fahrt ernstlich erschöpft, da ihnen seit Trapezunt nur selten Rast gegönnt gewesen war. Es blieben jetzt nur noch vier Tage zur Vollendung[344] dieser Reise, der 27., 28., 29. und 30. September. Und auch dieser letzte Tag mußte eigentlich in Abzug gebracht werden, da er zu ganz anderen Zwecken verwendet werden sollte.

Wenn der Seigneur Keraban mit seinen Begleitern nicht in den ersten Morgenstunden des 30. an den Ufern des Bosporus eintraf, drohte das viele Ungelegenheiten zu veranlassen. Es war also kein Augenblick zu verlieren, und der Seigneur Keraban beeilte die Abfahrt, welche denn auch schon mit Aufgang der Sonne stattfand.[345]

Erekli, das alte Heraklea, ist griechischen Ursprungs. Es war damals eine sehr umfangreiche Stadt, deren Mauertrümmer, auf welchen enorme Feigen wachsen, noch die Umfangslinie bezeichnen. Der früher hochwichtige Hafen, den Kunstbauten vortrefflich schützen, ist verfallen gleich der Stadt, die nicht mehr als sechs- bis siebentausend Einwohner zählt. Nach den Römern, den Griechen und den Genuesern mußte sie unter die Herrschaft Mohammeds II. fallen, und aus der Stadt, welche einst glänzende Tage gesehen, ein einfacher Flecken ohne Gewerbefleiß und Handel werden.

Sarabuls glücklicher Verlobter hätte hier mehrfache Befriedigung seiner Wißbegierde gefunden. Ganz nahe bei Heraklea liegt die Halbinsel Acherusia, wo sich in einer mythologischen Höhle ein Eingang zum Tartarus öffnete. Diodorus von Sicilien berichtet auch, daß Herkules, als er aus dem Schattenreiche zurückkehrte, hier den Cerberus mit auf die Oberwelt brachte.

Van Mitten verbarg jedoch seine diesbezüglichen Wünsche tief im Herzen. Er fand ein getreues Abbild jenes Cerberus in seinem Schwager Yanar, der ihn fortwährend im Auge behielt. Wohl hatte der Kurde nicht drei Köpfe, aber es genügte schon einer, und wenn er denselben mit wüthender Miene umherwarf, schien es, als ob seine unter dem dichten Schnurrbart hervorleuchtenden Zähne ebensogut müßten beißen können wie die des dreiköpfigen Hundes, den Pluto an der Kette hielt.

Am 27. September zog die kleine Karawane durch den Flecken Sakaria und erreichte gegen Abend das Cap Kerpe an derselben Stelle, wo sechzehn Jahrhunderte früher Kaiser Aurelian getödtet worden war. Hier machte man für die Nacht Halt und berathschlagte über die Frage einer geringen Aenderung der Reiseroute, um in Scutari binnen achtundvierzig Stunden, das heißt am Morgen des letzten, für die Heimkehr bestimmten Tages anzukommen.[346]

Quelle:
Jules Verne: Keraban der Starrkopf. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band XLIII–XLIV, Wien, Pest, Leipzig 1887, S. 333-347.
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