Sechstes Capitel.
Erste Scharmützel zwischen Abendland und Morgenland, wobei dem Morgenlande vom Abendlande arg mitgespielt wird.

[62] Eine Woche verstrich. Von einem Boten keine Spur. Gildas Tregomain meinte, er würde darüber auch nicht weniger erstaunt sein, als wenn der Prophet Elias aus dem Himmel zurückkehrte; er hütete sich aber, seine Ansicht vor dem Meister Antifer in dieser biblischen Fassung auszusprechen.

Enogate und Juhel dachten in ihrem Glück überhaupt nicht an einen Abgesandten Kamylk-Paschas, der für sie als rein imaginäres Wesen galt. O, wenn kein andrer als dieses Männchen die bevorstehende Hochzeit stören oder verzögern sollte!... Nein, sie bereiteten sich zur Abfahrt in das schöne Land der Ehe, von dem der junge Mann die Länge und das junge Mädchen die Breite kannte, das Land, das sie so leicht zu finden wußten, wenn sie jene[62] beiden geographischen Elemente combinierten... und diese Combination sollte am fünften April vor sich gehen.

Meister Antifer war inzwischen immer ungeselliger und unzugänglicher geworden. Das Datum für die Trauung rückte mit jedem Tage um vierundzwanzig Stunden näher. Nur noch wenige Wochen, und die Verlobten waren durch unlösliche Bande vereinigt.

Wahrhaftig ein schönes Band! Und ihr Onkel hatte für Beide von den stolzesten Verbindungen für's Leben geträumt, wenn er erst reich wäre. Denn wenn er jene Millionen, jene unfindbaren Millionen einmal im Kasten hatte, so dachte er gewiß nicht daran, allein den Genuß davon zu haben, auf großem Fuße zu leben, etwa in einem Palaste zu wohnen, in Equipagen umherzukutschieren, aus goldnen Schüsseln zu essen und Diamantknöpfchen im Vorhemdchen zu tragen.... Du lieber Himmel, nein! Er wollte Juhel an eine Prinzessin und Enogate natürlich an einen Prinzen verheiraten. Das war nun einmal die Marotte des braven Mannes. Dieser Lieblingswunsch schien aber nicht in Erfüllung gehen zu sollen, wenn der Bote nicht noch in letzter Minute eintraf und keine Nachricht Kamylk-Paschas – wegen Mangels weniger Ziffern – dessen Schätze in seinen Kasten ausleerte.

Meister Antifer wüthete nicht mehr, er konnte sich aber auch nicht mehr im Hause halten, was für die Ruhe der Uebrigen ja nur vortheilhaft war. Man sah ihn nur zur Stunde des Essens, und auch da schlang er alles eiligst hinunter. Bei jeder passenden Gelegenheit bot sich ihm der gute Tregomain als Ableiter dar, in der Hoffnung, die innere Aufregung seines Freundes – der ihn übrigens stets zum Teufel schickte – etwas zu besänftigen. Jetzt konnte man wohl befürchten, daß der Mann geisteskrank würde. Seine einzige Beschäftigung bestand nur noch darin. allemal bei Ankunft der Züge den Bahnhof abzusuchen, beim Eintreffen von Dampfern die Quais des Sillon unsicher zu machen, in der Erwartung, eine etwas exotische Erscheinung auftauchen zu sehen, die er für den Abgesandten Kamylk-Paschas halten konnte; wahrscheinlich einen Aegypter, vielleicht einen Armenier, kurz, einen an seinem Typus, an seiner Sprache, seiner Tracht erkennbaren Ausländer, der einen Bahnhofsbeamten nach der Adresse Pierre-Servan-Malo Antifer's fragen würde.

Nichts! Nein, nichts dieser Art! Leute aus der Normandie, Bretonen, Engländer oder Norweger, so viel man verlangte. Von einem Reisenden aus dem Orient Europas, einem Malteser, einem Levantiner... keine Spur.[63]

Am 9. Februar, nach seinem Frühstück, wobei er die Lippen, außer zum Essen und Trinken, gar nicht aufgethan hatte, begab sich Meister Antifer wieder auf seine Promenade, die Promenade eines Diogenes, der einen Menschen sucht. Wenn er nicht, wie der große Philosoph des Alterthums, am hellen Tage eine angezündete Laterne mit sich führte, hatte er doch zwei vorzügliche Augen mit heller Pupille, die ihn den, den er erwartete, schon von ferne her zu erkennen gestatteten.

Rasch wanderte er durch die engen, von hohen Granithäusern begrenzten und mit spitzen Steinen gepflasterten Straßen der Stadt dahin, er begab sich durch die Rue de Bay nach dem Square Duguay Trouin, las die Stunde vom Zifferblatt an der Unterpräfectur ab, wandte sich nach dem Chateaubriand-Platze, schlüpfte um den Kiosk, unter dessen dichte blätterlose Platanen, eilte durch das Thor in der Stadtmauer und gelangte damit nach dem Quai des Sillon.

Meister Antifer guckte nach rechts und nach links, vor und hinter sich und blies gewaltige Tabakswolken aus seiner Pfeife in die Luft. Man grüßte ihn von hier und von da, denn er gehörte zu den Notablen von Saint-Malo und war ein geschätzter und hochgeachteter Mann. Viele Grüße erwiderte er freilich gar nicht, da er sie nicht bemerkte, so versessen, so zerstreut war er in Folge seiner gespannten Erwartung.

Im Hafen lagen viele Fahrzeuge, Segler und Dampfer, Dreimaster, Briggs, Goëletten, Lugger und Sardellenboote. Es war jetzt die Zeit der Ebbe und mußten zwei bis drei Stunden vergehen, ehe die vom Semaphor gemeldeten Schiffe von der hohen See her einlaufen konnten.

Meister Antifer hielt es daher für wichtiger, inzwischen im Bahnhof die Ankunft des nächsten Schnellzuges abzuwarten, immer in der Hoffnung, heute mehr als vorher vom Glück begünstigt zu werden.

Nun liegt es aber einmal in der schwachen Menschennatur, gerade wenn es darauf ankommt, das Richtige nicht zu treffen. Während Meister Antifer die Vorübergehenden musterte, bemerkte er nämlich nicht, daß ihm schon seit zwanzig Minuten ein gewisser Jemand nachfolgte, der seine Aufmerksamkeit wohl hätte erwecken müssen.

Es war das ein Fremder mit rothem Fez nebst schwarzer Troddel auf dem Haupte, gehüllt in einen langen einreihigen, bis zum Hals hinausreichenden Rock und bekleidet mit weiter Pluderhose, die auf die breiten Schuhe – eigentlich Babuschen – herabfiel. Zu jung war der Mann gerade nicht... so gegen[64] sechzig bis fünfundsechzig Jahre, dazu etwas gekrümmt in der Haltung, während er die knochigen Hände auf der Brust liegen hatte. Mochte dieses Männchen nun der erwartete Levantiner sein oder nicht, jedenfalls kam er unzweifelhaft aus den Ländern, die das östliche Mittelmeer bespült... es war also ein Aegypter, ein Armenier, ein Syrier, ein Ottomane oder dergleichen.

Kurz, der Fremde folgte dem Meister Antifer zögernden Schrittes und schien jetzt an ihn herantreten, dann wieder, aus Furcht, einen Irrthum zu begehen, mehr zurückbleiben zu wollen. Am Ende des Quais beschleunigte er[65] seinen Schritt, überholte den Malouin, und kehrte dann so plötzlich wieder um, daß beide Massen aneinander prallten.


 »Zum Teufel mit dem Tölpel!« (S. 66.)
»Zum Teufel mit dem Tölpel!« (S. 66.)

»Zum Teufel mit dem Tölpel!...« rief Meister Antifer aufbrausend.

Dann rieb er sich die Augen, überspannte diese in Stirnhöhe als Schirm mit der Hand und stieß – wie Kugeln aus einem Revolver – die Worte hervor:

»Hm... Ah?... Oho?... Er?... Sollte er's sein?... Ganz bestimmt, das ist der Abgesandte des doppelten K....«

Wenn es der besagte Abgesandte war, muß man zugeben, daß er nicht ganz danach aussah mit dem bartlosen Gesicht, den runzligen Wangen, der spitzen Nase, den abstehenden Ohren, dünnen Lippen und unsteten Augen, mit dem Teint einer alten, überreifen Citrone – kurz, mit einer Erscheinung, die bei der aus dem winzigen Antlitz leuchtenden Arglist kein besondres Vertrauen einzuflößen vermochte.

»Hab' ich nicht die Ehre, Herrn Antifer – wie mir ein gefälliger Matrose sagte – vor mir zu sehen? fragte er in gebrochener Sprache, die indeß, selbst für einen Bretonen, vollkommen verständlich war.

– Antifer, Pierre-Servan-Malo! lautete die Antwort. Und Sie?...

– Ben Omar.

– Ein Aegypter?...

– Und Notar aus Alexandrien, der eben im Hôtel de l'Union, Poisonneriestraße, abgestiegen ist.«

Ein Notar mit Amtssiegel! Offenbar sahen die Notare im Morgenlande anders aus als die Herren bei uns, die ohne weißes Halstuch, schwarze Kleidung und goldne Brille nicht denkbar sind. Es war ja schon erstaunlich genug, daß es unter den Unterthanen der Pharaonen überhaupt officielle Notare gab.

Meister Antifer zweifelte gar nicht mehr, den geheimnißvollen Boten, den Ueberbringer der berühmten Länge, den seit zwanzig Jahren durch den Brief Kamylk-Paschas angekündigten Messias vor sich zu haben. Statt, wie man fürchten könnte, diesen Ben Omar mit Fragen zu bestürmen, bewahrte er sich so viel Selbstbeherrschung, ihn damit kommen zu lassen, da die auf diesem Gesicht einer lebenden Mumie ausgeprägte Doppelzüngigkeit in ihm einen argen Verdacht erweckte. Gildas Tregomain hätte seinen hitzigen Freund niemals einer so klugen Zurückhaltung für fähig gehalten.

»Nun, was wünschen Sie von mir, Herr Ben Omar? fragte er, mit einem scharfen Blick auf den Aegypter, der sich in Verlegenheit hin und her wand.[66]

– Einen Augenblick unter vier Augen, Herr Antifer.

– Muß das bei mir zu Hause sein?

– Nein, es ist wünschenswerth, an einem Orte, wo uns niemand hören kann.

– Es handelt sich also um ein Geheimniß?

– Ja und nein, oder vielmehr um einen Handel....«

Meister Antifer zitterte bei diesem Worte. Wenn dieser Kauz ihm seine Länge brachte, wollte er sie offenbar nicht gratis ausliefern, und doch erwähnte der mit dem doppelten K signierte Brief keines Handels.

»Achtung am Steuer, dachte er für sich, laßt Euch den guten Wind nicht von der Hand gehen!«

Damit wandte er sich nach dem Fremdling und wies nach einer ganz verlassnen Stelle am Ausgang des Hafens.

»Kommen Sie mit dorthin, sagte er, dort werden wir allein genug sein, über geheime Angelegenheiten sprechen zu können. Doch schnell, es ist so verteufelt kalt, daß es einem ins Gesicht schneidet!«

Sie brauchten nur zwanzig Schritte weit zu gehen. Auf den am Quai liegenden Fahrzeugen befand sich keine lebende Seele. Der dienstthuende Zollbeamte wandelte in der Entfernung einer halben Kabellänge von ihnen umher.

Sehr bald hatten Beide die einsame Ecke erreicht und ließen sich auf einem Maststumpf nieder.

»Paßt Ihnen die Oertlichkeit, Herr Ben Omar? fragte Pierre-Servan-Malo.

– Sehr gut... o, sehr gut!

– Nun, so sprechen Sie sich frei von der Leber weg aus und nicht nach Art jener Sphinxe, die sich ein Vergnügen daraus machen, der armen Welt Räthsel aufzugeben.

– Ich habe keine Hinterhalte, Herr Antifer, und werde ganz frei sprechen,« erwiderte Ben Omar, in einem Tone, der mit wirklicher Offenheit nicht viel Verwandtschaft zu haben schien.

Er hustete zweimal und begann darauf:

»Sie haben einen Vater gehabt?...

– Ja, wie das bei uns zu Lande so Sitte ist. Nun, und?

– Ich habe gehört. daß dieser gestorben sei?

– Schon vor acht Jahren. Weiter?...[67]

– Er ist zur See gefahren?...

– Jedenfalls, da er Seemann war. Nun, und...?

– In welchen Meeren?...

– In allen. Und?...

– Nun... da ist er wohl auch nach der Levante gekommen?

– Ins Morgenland wie ins Abendland. Nun?...

– Hat er sich während seiner Reisen, fuhr der Notar fort, der in diesen kurzen Antworten noch keinen richtigen Anknüpfungspunkt fand, hat er sich da vor sechzig Jahren nicht auch an den Küsten Syriens befunden?...

– Vielleicht ja... vielleicht nein. Nun, und...?«

Diese ewigen »Nun, und?« empfand Ben Omar wie Peitschenhiebe in die Seiten und sein Gesicht verzog sich dabei in der unglaublichsten Weise.

»Laviere nur, Männchen, immer laviere, so viel es Dir beliebt, dachte Meister Antifer. Brauchst nicht auf mich als Lootsen zu rechnen.«

Der Notar begriff, daß er mehr auf die Hauptsache zusteuern müsse.

»Haben Sie Kenntniß davon, fuhr er fort, daß Ihr Vater Gelegenheit gehabt hätte, jemand einen Dienst zu leisten.... einen sehr wichtigen Dienst... gerade an der Küste von Syrien?

– Daß ich nicht wüßte. Nun, und?

– Ah! stieß Ben Omar hervor, der über diese Antwort höchlichst erstaunt war. Und Sie wissen auch nicht, ob er je einen Brief von einem gewissen Kamylk-Pascha erhalten hat?

– Von einem Pascha?

– Ja.

– Mit wie vielen Roßschweifen?

– Darauf kommt nichts an, Herr Antifer. – Wichtig ist nur, ob Ihr Vater jemals einen Brief erhielt, der Mittheilungen von sehr, sehr großem Werthe enthielt?

– Davon weiß ich nichts. Nun, und?...

– Haben Sie denn seine Papiere nicht durchgesehen?... Es ist unmöglich, daß er diesen Brief vernichtet hätte.... Er enthielt, wie ich Ihnen wiederhole, eine Nachricht von höchster Wichtigkeit....

– Für Sie, Herr Ben Omar?...

– Auch für Sie, Herr Antifer, denn... nun ja, gerade um diesen Brief zurückzuerhalten, bin ich hier... den Brief, der den Gegenstand eines Handels bilden könnte.«[68]

Unserm Pierre-Servan-Malo war es nun vollständig klar, daß irgend welche Leute, deren Mandatar Ben Omar war, Kenntniß von der Längenangabe haben müßten, die ihm fehlte, um die Lage jener Millionen bestimmen zu können.

»Die Spitzbuben! knurrte er; die wollen mir mein Geheimniß entlocken, mir den Brief abkaufen und nachher meinen Geldkasten ausgraben.«

Vielleicht hatte er damit nicht Unrecht. Bei diesem Punkt ihres Zwiegesprächs vernahmen Meister Antifer und Ben Omar die Schritte eines Mannes, der von ihrer Seite herkommend um die Ecke des Quais in der Richtung nach dem Bahnhofe ging. Sie schwiegen, oder der Notar ließ wenigstens einen eben angefangenen Satz unvollendet. Man hätte auch glauben können, daß er auf genannten Vorüberkommenden einen Seitenblick warf und ein verneinendes Zeichen machte, wodurch jener unangenehm berührt wurde. Jedenfalls machte dieser ein Zeichen unerwarteter Enttäuschung und verschwand bald, indem er seinen Weg schleuniger fortsetzte.

Es war ein Fremder von etwa dreiunddreißig Jahren in ägyptischer Tracht, von braunem Teint, mit schwarzen blitzenden Augen, von übermittlerer Größe, starkem Körperbau, entschlossenem Aussehen und einem wenig anziehenden, eher wilden Gesicht. Es schien, als ob er und der Notar bekannt wären, doch als ob sie das augenblicklich nicht merken lassen wollten.

Der Meister Antifer bemerkte indeß von diesem Zwischenfall – der ja nur in einem Blicke und einer Geste bestand – nichts, und er nahm das Gespräch wieder auf.

»Nun, mein Herr Ben Omar, sagte er, wollen Sie mir wohl erklären, warum Ihnen so viel an dem Besitz jenes Briefes liegt, warum Sie erfahren wollen, was er enthält, und das sogar um den Preis, ihn mir abzukaufen, wenn ich ihn gehabt hätte?...

– Herr Antifer, antwortete der Notar ziemlich verlegenen Tones, ich habe einen gewissen Kamylk-Pascha zu meinen Clienten gerechnet. Mit Wahrnehmung seiner Interessen beauftragt...

– Sie haben gerechnet, sagen Sie.

– Ja... und als Mandatar seiner Erben....

– Seiner Erben? rief Meister Antifer mit einem Ausdruck der Ueberraschung. die den Notar erstaunen machte. Er ist also todt...?

– Ja, er ist todt.

. – Achtung! murmelte Pierre-Servan-Malo, der seinen Kiesel zwischen den Zähnen knirschen ließ. Kamylk-Pascha ist todt.... Das ist zu beachten. und wenn sich jetzt etwas anzetteln sollte...[69]

– Also, Herr Antifer, fragte Ben Omar, ihn von der Seite ansehend. Sie haben diesen Brief also nicht?

– Nein.

– Das ist schade, denn die Erben Kamylk-Paschas, die alles zu sammeln wünschen, was ihnen das Andenken an ihren geliebten Verwandten wach halten könnte....

– Ach so, es handelt sich nur um's Andenken?... Diese guten Herzen!

– Nur darum allein, Herr Antifer, und diese guten Herzen, wie Sie selbst sagen, würden sich nicht geweigert haben, Ihnen eine anständige Summe dafür zu bieten, daß sie wieder in Besitz jenes Briefes gelangten.

– So?... Wie viel hätten die Leute denn drangewendet?

– Das ist ja nun, da Sie den Brief nicht haben, ganz belanglos.

– Einerlei... sagen Sie es nur...

– Nun, gewiß einige hundert Francs.

– Pah!... Eine rechte Lappalie! rief Meister Antifer.

– Vielleicht sogar einige tausend...

– Na, ich will Ihnen etwas sagen, fiel Meister Antifer ein, indem er Ben Omar an den Schultern packte und ihm – mit großer Lust, den verschmitzten Kerl ins Ohr zu beißen – die Worte zuraunte: Hören Sie, ich habe Ihren Brief! Ihren Brief mit dem doppelten K darunter!

– Ja... das Doppel-K!... So pflegte mein Client sich stets zu unterzeichnen.

– Ich habe ihn... hab' ihn gelesen und wieder gelesen. Ich weiß auch, oder vermuthe es wenigstens, warum Ihnen am Besitz desselben gar so viel liegt...

– Mein Herr...

– Sie werden den Brief aber nicht bekommen!

– Sie verweigern seine Zurückgabe?

– Gewiß, alter Omar, wenn Sie mir ihn nicht abkaufen...

– Für wieviel? fragte der Notar, der schon mit der Hand in die Tasche fuhr, um die Börse zu ziehen.

– Wie viel?... Nun sagen wir: fünfzig Millionen Francs!«

Hei, da schnellte Ben Omar in die Höhe, während Meister Antifer ihn mit offenem Munde, zurückgezognen Lippen und freistehenden Zähnen ansah, wie der Mann wohl Zeit seines Lebens noch nicht angesehen worden war.[70]

Dann fuhr er trocknen Tones, als ob er auf Deck einen Befehl ertheilte, fort:

»Sie nehmen ihn dafür oder lassen's bleiben, wie's beliebt!

– Fünfzig Millionen! wiederholte der Notar mit bebender Stimme.

– Feilschen Sie nicht, Herr Ben Omar! Ich sage Ihnen, Sie bekommen keine fünfzig Centimes Rabatt!

– Fünfzig Millionen?

– Das ist er unter Brüdern werth... und zwar baar... in Banknoten oder meinetwegen in einem Check auf die Bank von Frankreich«

Der Notar, der einen Augenblick ganz verblüfft gewesen war, kam allmählich wieder zu sich. Ohne Zweifel wußte dieser vermaledeite Seebär, welche Bedeutung der Brief für die Erben Kamylk-Paschas hatte. Er enthielt ja in der That die näheren Angaben zur Hebung des vergrabnen Schatzes Der Anschlag, sich durch List in dessen Besitz zu bringen, war also gescheitert. Der Malouin war auf seiner Hut. Es blieb nichts andres übrig, als ihm jenen Brief oder vielmehr die Breitenangabe abzukaufen, die als Vervollständigung zu dem Längengrade gehörte, welche wieder Ben Omar anvertraut war.

Nun konnte die Frage entstehen, woher Ben Omar wußte, daß Meister Antifer der jetzige Inhaber des Briefes war, und ob er, der alte Rechtsbeistand des alten Aegypters, in Ausführung des letzten Willens Kamylk-Paschas wirklich beauftragt war, die vor langer Zeit in Aussicht gestellte Längenangabe zu überbringen. Das wird aus dem Folgenden bald klar werden.

Welcher Beweggrund Ben Omar auch leiten mochte, ob er nur auf Anregung der natürlichen Erben des Verstorbenen handelte oder nicht, jedenfalls sah er ein, daß jener Brief nur gegen schweres Geld zurückgegeben werden würde. Doch fünfzig Millionen!...

Er begnügte sich also eine süßlich pfiffige Miene anzunehmen.

»Sie sagten, glaub' ich, fünfzig Millionen, Herr Antifer?


 »Für wieviel?« fragte der Notar. (S. 70.)
»Für wieviel?« fragte der Notar. (S. 70.)

– Ganz richtig.

– O, das ist wirklich das lustigste Ding von den Welt, das mir je vorgekommen ist.

– Herr Ben Omar, wollen Sie vielleicht etwas hören, was noch weit lustiger klingt?

– Recht gern.

– Nun, Sie sind ein alter Filou, ein alter ägyptischer Spitzbube, ein altes Nilkrokodil...[71]

– Mein Herr!...

– Nun, 's ist schon gut!... Sie versuchten im trüben Wasser zu fischen und wollten mir mein Geheimniß entlocken, statt mir das Ihrige mitzutheilen, zu welchem Zwecke Sie jedenfalls hierhergeschickt wurden.


Jetzt ging Meister Antifer... (S. 75.)
Jetzt ging Meister Antifer... (S. 75.)

– Sie könnten annehmen?...

– Ich nehme nur an, was in der That so ist.

– Nein, was Sie sich nur einbilden.

– Genug, abscheulicher Betrüger![72]

– Mein Herr...

– Ich nehme das Wort abscheulich zurück! Soll ich Ihnen auch sagen, was Ihnen von meinem Briefe vor allem am Herzen liegt?«

Der Notar spannte schon darauf, daß Pierre-Servan-Malo sich bei Vollendung dieses Satzes verrathen würde. Jedenfalls blitzten seine Augen wie ein paar Karfunkelsteine auf.

Doch nein, so aufgebracht der Malouin auch war, so daß sein Gesicht purpurroth glühte, er wußte sich davor zu hüten, denn er sagte nur:[73]

»Ja wohl, was Ihnen am Herzen liegt, alter Omar, schlauer Fuchs, das sind nicht die paar Worte über den Dienst, den mein Vater dem Herrn, der sich mit einem doppelten K unterschrieb, geleistet hat... nein, das sind vier Ziffern darin... verstehen Sie mich?... jene vier Ziffern...

– Vier Ziffern? murmelte Ben Omar.

– Natürlich... die vier Ziffern, die er enthält und die Sie anders als für zwölfeinhalb Millionen jede nicht erfahren. Doch, darüber haben wir nun genug geschwatzt. Gute Nacht!«

Damit stopfte Meister Antifer die Hände in die Taschen und wandte sich weg, indem er sein Lieblingslied pfiff, dessen Ursprung keine Menschenseele kannte und das schon mehr einem Hundegebell, als einer Melodie von Auber ähnelte.

Ganz versteinert blieb Ben Omar wie eine Granitsäule oder ein Meilenstein auf der Stelle stehen. Er, der darauf gerechnet hatte, mit dieser Sorte von Matrosen wie mit einem beschränkten Fellah fertig zu werden – und Mohammed weiß, daß er diese armen Bauersleute tüchtig gerupft hatte, wenn ihr Unstern sie in seine Hände lieferte.

Mit verdutztem Blicke sah er den Malouin schweren Trittes dahingehen, sich in den Hüften wiegen und bald die eine, bald die andre Schulter emporhieben, wozu der Mann gestikulierte, als hätte er seinen Freund Tregomain vor sich, dem er eben in gewohnter Weise seine Meinung sagte.

Plötzlich blieb Meister Antifer noch einmal stehen. War er auf ein Hinderniß getroffen? Ja!... Das Hinderniß bestand in einem Gedanken, der ihm durch den Kopf flog. Es handelte sich um ein Vergessen, das mit wenigen Worten wieder gut gemacht werden konnte.

So wandte er sich also an den Notar zurück, der noch immer dastand wie die reizende Daphne, als sie zum großen Leidwesen Apollos in einen Lorbeerbaum verwandelt worden war.

»Herr Ben Omar? begann er.

– Was steht zu Ihren Diensten?

– Ich habe noch etwas vergessen, was ich Ihnen ins Ohr flüstern wollte.

– Und das wäre?...

– Ja, die Nummer....

– Aha, die Nummer? wiederholte Ben Omar.

– Jawohl, die Straßennummer meines Hauses.... Drei, Rue des Hautes-Salles. Sie müssen doch meine Adresse kennen, und Sie können[74] sich des freundlichsten Empfanges versichert halten, wenn Sie mich aufsuchen...

– Wenn ich Sie aufsuche...

– Natürlich mit den fünfzig Millionen in der Tasche!«

Jetzt ging Meister Antifer wirklich seines Wegs, während der Notar fast zusammensank und Allah und seinen Propheten um Hilfe anflehte.

Quelle:
Jules Verne: Meister Antiferߣs wunderbare Abenteuer. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXV–LXVI, Wien, Pest, Leipzig 1895, S. 62-75.
Lizenz:

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