Fünfzehntes Capitel.
In welchem man sich bemüht, eine Wahrheit zu entdecken, der man sich vielleicht nähert.

[130] Gleich die ersten Stunden der Fahrt verwendete man darauf, die Consequenzen jener neuen und unerwarteten Thatsache zu besprechen. Gelang es ihnen dabei auch noch nicht, die volle Wahrheit zu ergründen, so durften der Graf, der Kapitän und Lieutenant Prokop doch hoffen, einen Schritt weiter in das Geheimniß ihrer sonderbaren Lage einzudringen.

Nun, und was wußten sie denn jetzt unzweifelhaft? Das Eine, daß die Dobryna, nachdem sie die Insel Gourbi unter 18° östlicher Länge verlassen, die neu entstandene Küste etwa unter 33° östlicher Länge angetroffen hatte. Es entsprach das also einer Entfernung von fünfzehn Längengraden. Rechnete man hierzu die Länge der Meerenge, auf welcher sie den neuen unbekannten Continent durchfahren hatten, zu etwa dreiundeinhalb Grad, dann noch die Strecke von deren östlichem Ausgange bis Gibraltar zu etwa vier Graden, und endlich den Raum zwischen Gibraltar und der Insel Gourbi zu ungefähr sieben Längengraden, so ergab das im Ganzen neunundzwanzig Grade.

Die Dobryna hätte demnach von ihrem Abfahrtspunkte an der Insel Gourbi bis ebendahin zurück, wobei sie genau demselben Breitengrade folgte oder mit anderen Worten eine vollständige Rundfahrt ausführte, annähernd neunundzwanzig Grade zurückzulegen gehabt.

Achtzig Kilometer auf einen Grad gerechnet, ergab das eine Summe von 2320 Kilometern.

Wenn die Insassen der Dobryna an Stelle Korfus und der Ionischen Inseln auf Gibraltar trafen, so sagte das, daß der ganze Rest der Erdkugel, im Umfange von 331 Längengraden, vollständig verschwunden war. Hätte man vor der Katastrophe in östlicher Richtung von Malta nach Gibraltar segeln wollen, so hätte man die zweite, östliche Hälfte des Mittelmeeres, den Kanal von Suez, das Rothe Meer, das Indische Meer, den Stillen Ocean,[130] das Cap Horn und nordöstlich hinauf das Atlantische Meer passiren müssen. Statt dieses ungeheuren Weges hatte eine neue Meerenge von zweihundertsechzig Kilometer Länge hingereicht, die Goëlette nach einem von Gibraltar etwa fünfzig Meilen entfernten Punkte zu führen.

Dieses Resultat ergaben die Berechnungen des Lieutenant Prokop, welche selbst unter Annahme der möglichen Fehler doch hinreichten, darauf weitere Schlüsse zu bauen.

»Da die Dobryna also, sagte Kapitän Servadac, fast nach ihrem Ausgangspunkte zurückgekehrt ist, ohne den Cours zu wechseln, so müßte man daraus folgern, daß das Sphäroïd der Erde nur noch einen Umfang von 2320 Kilometer hat.

– Ja wohl, stimmte Lieutenant Prokop zu. Sein Durchmesser verminderte sich damit auf nahezu 740 Kilometer, d.h. er wäre sechzehnmal kleiner als vor der Katastrophe, wo er 12.792 Kilometer betrug. Es unterliegt keinem Zweifel, daß wir eben eine Reise um den noch übrigen Rest der Erde zurückgelegt haben.

– Das würde allerdings mehrere der von uns beobachteten, so auffälligen Erscheinungen erklären, sagte Graf Timascheff. So muß z.B. die Schwere auf einem so außerordentlich verkleinerten Sphäroïd vermindert sein, ebenso leuchtet mir ein, daß die Rotation um seine Achse dadurch so beschleunigt wurde, daß die Zeit zwischen zwei Sonnenaufgängen nur noch zwölf Stunden beträgt. Bezüglich der neuen Kreisbahn, welche jenes um die Sonne beschreibt ...«

Graf Timascheff unterbrach sich, da es ihm nicht zu gelingen schien, diese Erscheinung aus seinem neuen Systeme herzuleiten.

»Nun, Herr Graf, fragte Kapitän Servadac, was die neue Kreisbahn betrifft? ...

– Was ist hierüber Deine Ansicht, Prokop? antwortete der Graf, sich an den Lieutenant wendend.

– Vater, erwiderte Prokop, zwei Möglichkeiten giebt es nicht, diese veränderte Bahn im Weltraume zu erklären; es giebt nur eine, nur eine einzige!

– Und diese wäre? fragte Kapitän Servadac lebhaft und schnell, als habe er eine Vorahnung der Antwort des Lieutenants.

– Sie beruht, fuhr Prokop fort, in der Annahme, daß sich ein Fragment der Erde unter Mitnahme eines Theiles der Atmosphäre losgelöst[131] hat und nun die Sonnenwelt in einer anderen Bahn umkreist, als die der Erdkugel war.«

Nach dieser so einleuchtend wahrscheinlichen Erklärung sahen sich Graf Timascheff, Kapitän Servadac und Lieutenant Prokop eine Weile lang schweigend an. Im strengsten Sinne des Wortes angewurzelt, überdachten sie die unberechenbaren Folgen dieses neuen Zustandes der Dinge. Wenn sich nun wirklich ein ungeheures Stück von der Erdkugel losgelöst hatte, wohin trieb es wohl? Welche Bedeutung war der Excentricität der elliptischen Bahn zuzuschreiben, welcher jenes jetzt folgte? Bis zu welcher Entfernung von der Sonne würde es entführt werden? Welche Dauer mochte sein Lauf um das Centrum der Attraction haben? Sollte es gleich den Kometen Hunderte von Millionen Meilen hinausgeschleudert oder bald nach der Quelle des Lichtes und der Wärme zurückgeführt werden? Fiel die Ebene seiner Bahn wohl mit der Ekliptik zusammen und durfte man einige Hoffnung hegen, daß dieser losgelöste Theil sich einmal wieder mit der Erdkugel verbinden werde?

Kapitän Servadac war der Erste, der das Schweigen unterbrach und fast wider Willen ausrief:

»Zum Teufel, nein! Ihre Erklärung, Lieutenant Prokop, trifft zwar nach vielen Seiten zu, ist aber doch nicht annehmbar.

– Warum, Kapitän? fragte der Lieutenant. Sie scheint mir im Gegentheil jedem Einwurfe zu begegnen.

– Nein, nein, einer mindestens wird durch Ihre Hypothese nicht entkräftet.

– Und welcher wäre das? fragte Prokop.

– Nun, verstehen wir uns recht, sagte Kapitän Servadac. Sie bleiben bei der Ansicht stehen, daß ein Stück der Erdkugel, jetzt also ein neuer Asteroïd, der uns trägt und der das Mittelländische Meer von Gibraltar bis Malta umfaßt, durch die Sonnenwelt kreise?

– Das ist meine Ansicht.

– Nun, gut, Lieutenant; wie erklären Sie dann aber das Auftauchen jenes eigenthümlichen Continentes, der dieses Meer jetzt einrahmt, und speciell die Bildung seiner Küste? Würden wir auf einem Stück der Erdkugel hinweggeführt, so hätte dasselbe doch gewiß sein altes Granit- oder Kalkstein-Skelet behalten und könnte an der Oberfläche nicht jene mineralischen[132] Bestandtheile aufweisen, deren Zusammensetzung uns noch nicht einmal bekannt ist.«

Das war freilich ein gewichtiger Einwurf des Kapitän Servadac gegen die Theorie des Lieutenants. Man konnte wohl damit einverstanden sein, daß sich von der Erdkugel ein Fragment losgelöst habe, welches einen Theil der Atmosphäre und des Mittelmeeres entführte; konnte zugeben, daß dessen Bewegungen um sich selbst und in der Bahn um die Sonne nicht mit denen der Erde identisch seien; weshalb aber erhob sich an Stelle der fruchtbaren Ufer, welche das Mittelmeer sonst im Süden, Westen und Osten begrenzten, jetzt jene aller Vegetation entbehrende, steile Küstenmauer von so gänzlich unbekannter Natur?

Lieutenant Prokop vermochte diesen Einwurf nicht zu beantworten und tröstete sich nur mit der Hoffnung, daß die Zukunft noch Licht über bisher dunkle Punkte verbreiten werde. Jedenfalls veranlaßte ihn Kapitän Servadac's Einrede nicht, eine Hypothese aufzugeben, welches so vieles vorher Unerklärliche aufhellte. Die erste Ursache der ganzen Veränderung entging ihm freilich auch noch jetzt. Sollte man annehmen, daß eine expansive Wirkung centraler Kräfte ein solches Bruchstück aus der festen Erdrinde habe lösen und in den Weltraum hinausschleudern können? Das war doch sehr unwahrscheinlich. Wie viele Räthsel gab dieses großartige Problem zu lösen!

»Alles in Allem, sagte Kapitän Servadac zum Schlusse, kommt ja sehr wenig darauf an, auf einem neuen Gestirn durch die Sonnenwelt zu fliegen, wenn uns nur Frankreich begleitet.

– Frankreich ... und Rußland! fügte Graf Timascheff hinzu.

– Und Rußland!« wiederholte der Stabsofficier, der sich beeilte, die legitime Reclamation des Grafen anzuerkennen.

Wenn es aber wirklich nur ein Stück der Erdkugel war, das sich in einer neuen Ellipse um die Sonne bewegte, und wenn auch dieses Bruchstück eine Kugelgestalt hatte – wobei es nothwendiger Weise nur sehr beschränkte Dimensionen aufweisen konnte – mußte man dann nicht befürchten, daß ein Theil Frankreichs und mindestens der größte Theil Rußlands mit der alten Erde in Verbindung geblieben sei? Ebenso England, bezüglich dessen schon das sechs Wochen lang andauernde Ausbleiben aller Nachrichten und das Aufhören jeder Verbindung zwischen Gibraltar und dem Vereinigten Königreiche darauf hinzudeuten schien, daß weder zu Land noch zu Wasser, weder durch die Post[133] noch durch den Telegraphen eine Communication möglich sei. Wenn die Insel Gourbi wirklich, wie das fortwährende Gleichbleiben der Tage und Nächte vermuthen ließ – im Aequator des Asteroïden lag, so mußten die beiden Pole im Norden und Süden von der Insel gleichmäßig, und zwar so weit von einander entfernt sein, als der bei der Fahrt der Dobryna gefundene halbe Umfang, also 1160 Kilometer. Der Nordpol war also gegen 580 Kilometer nördlich von der Insel Gourbi, der Südpol ebenso weit südlich von derselben zu suchen. Bestimmte man diese Punkte auf der Karte, so fiel der Nordpol nicht über die Küste der Provence hinaus, der Südpol aber in die afrikanische Wüste etwa in den neunundzwanzigsten Grad der Breite.

Hatte nun Lieutenant Prokop wohl recht, auf der Annahme seines neuen Systemes zu beharren? War in der That ein so gewaltiges Stück von der Erdkugel abgerissen worden? Keiner vermochte das endgiltig zu entscheiden. Die Lösung des Problems gehörte der Zukunft, vielleicht erscheint aber doch die Annahme nicht zu kühn, daß Lieutenant Prokop, wenn er auch die volle Wahrheit noch nicht erkannte, ihr doch einen bedeutenden Schritt näher gekommen war.

Jenseit der engen Spalte, welche unsern Gibraltar die beiden äußersten Enden des Mittelmeeres verband, traf die Dobryna das herrlichste Wetter an. Der Wind begünstigte ihre Fahrt, und unter der doppelten Hilfe der Brise und des Dampfes kam sie desto schneller nach Norden vorwärts.

Wir sagten nach Norden, nicht nach Osten, denn das Küstengebiet Spaniens war, mindestens zwischen Gibraltar und Alicante, vollständig verschwunden. Weder Malaga, noch Almeria, das Cap von Gata oder das von Palos, noch auch Carthagena fanden sich an den Stellen ihrer geographischen Coordinaten. Das Meer hatte alle diese Theile der spanischen Halbinsel bedeckt, und die Goëlette mußte bis zur Höhe von Sevilla segeln, nicht um die Küste Andalusiens, sondern um eine ganz gleiche steile Uferwand zu treffen, wie jene jenseit Maltas.

Von diesem Punkte aus schnitt das Meer tief in das Land hinein und bildete einen spitzen Winkel, dessen Scheitel etwa Madrid einnehmen mußte. Dann verlief das Ufer wieder in der Richtung nach Süden, griff nun seinerseits in das alte Meeresbassin ein und verlängerte sich, einer drohenden Kralle ähnlich, oberhalb der Balearen.[134]

Als sich die Seefahrer, um etwaige Spuren dieser wichtigen Inseln aufzufinden, etwas von ihrer Route entfernten, machten sie einen ganz unerwarteten Fund.

Es war am 21. Februar acht Uhr Morgens, als einer der Matrosen, der am Vordertheile der Goëlette die Wache hatte, plötzlich ausrief:

»Eine Flasche im Meer!«

Diese Flasche konnte möglicher Weise ein werthvolles, auf den dermaligen Zustand der Dinge bezügliches Document enthalten.

Auf den Ruf des Matrosen waren Graf Timascheff, Hector Servadac, der Lieutenant und Alle nach dem Vordertheile geeilt. Die Goëlette manövrirte so, daß sie sich dem bezeichneten Gegenstande näherte, der denn auch bald aufgefischt und an Bord gehißt wurde.

Es war keine Flasche, sondern ein Leder-Etui, von der Art, wie man sie zur Aufbewahrung mittelgroßer Fernrohre zu benutzen pflegt. Der Deckeltheil zeigte sich sorgfältig mit Wachs verkittet, und wenn das Etui erst vor kurzer Zeit ausgeworfen war, so hatte das Wasser aller Wahrscheinlichkeit nach nicht hineindringen können.

Lieutenant Prokop musterte in Gegenwart des Grafen Timascheff und des Stabsofficiers aufmerksam das Etui. Kein Fabrikzeichen deutete auf seinen Ursprung. Das Wachs, mit dem es verschlossen war, zeigte sich unversehrt und hatte auch noch einen Petschaftabdruck deutlich bewahrt, auf dem man die Buchstaben P. R. erkannte. Der Behälter ward geöffnet und der Lieutenant zog aus ihm ein vom Wasser noch vollkommen verschontes Papier hervor, nur ein einfaches viereckiges Blättchen, das offenbar aus einem Notizbuche gerissen war und auf dem sich in großer, verkehrt geneigter Schrift, folgende mit Frage- und Ausrufungszeichen reich versehenen Worte fanden:


»Gallia???

Ab sole, au 15 févr., dist.: 59,000.000 l.!

Chemin parcouru de janv. au févr.:

82,000.000 l.

Va bene! All right! Parfait!!!«


Auf den Ruf des Matrosen waren Alle nach dem Vordertheile geeilt. (S. 135.)
Auf den Ruf des Matrosen waren Alle nach dem Vordertheile geeilt. (S. 135.)

(Deutsch: »Gallia???


Von der Sonne, am 15. Febr., Ents.:[135]

35,400.000 Meilen!

Durchlaufener Weg vom Januar bis Februar:

49,200.000 M.

Geht gut! Ganz wohl! Vortrefflich!!!)


Was soll das bedeuten? fragte Graf Timascheff, als er das Blatt nach allen Seiten gewendet hatte.


Es war nur ein einfaches, viereckiges Blättchen. (S. 135.)
Es war nur ein einfaches, viereckiges Blättchen. (S. 135.)

– Ich weiß es nicht, erwiderte Kapitän Servadac; nur Eines ist sicher, daß der Verfasser dieses Docu[136] mentes, wer es auch immer sei, am 15. Februar noch lebte, denn das Schriftstück trägt dieses Datum.

– Unzweifelhaft!« stimmte Graf Timascheff zu.

Das Document selbst war nicht unterzeichnet. Nichts deutete auf seinen Ursprungsort. Es fanden sich darin lateinische, italienische, englische und französische Worte, letztere in überwiegender Anzahl.[137]

»Eine Mystification kann das nicht wohl sein, meinte Kapitän Servadac. Es liegt auf der Hand, daß dieses Document auf die neue kosmographische Ordnung Bezug nimmt, deren Folgen auch wir empfinden. Das Etui, in dem es sich befand, gehörte irgend einem Beobachter an Bord eines Schiffes ...

– Nein, Kapitän, fiel ihm Lieutenant Prokop in's Wort, dann hätte es Jener in eine Flasche verschlossen, in der es besser als in dem Lederfutteral vor der Feuchtigkeit geschützt war. Ich glaube vielmehr, irgend ein Gelehrter, der allein auf einem verschonten Punkte einer Küste übrig geblieben ist, hat, um die Resultate seiner Beobachtungen bekannt zu geben, dazu diesen Behälter benutzt, der ihm augenblicklich vielleicht minder werthvoll erschien, als seine Flasche.

– Am Ende kommt darauf wenig an, sagte Graf Timascheff. Jetzt scheint es mir nutzbringender, den Inhalt dieses sonderbaren Documentes zu enträthseln, als sich über dessen Urheber den Kopf zu zerbrechen. Wir wollen es Wort für Wort vornehmen. Also zuerst, was bedeutet dieses Gallia?

– Ich kenne keinen größeren oder kleineren Planeten, der diesen Namen führte, bemerkte Kapitän Servadac.

– Kapitän, begann da der Lieutenant Prokop, erlauben Sie, bevor wir weiter gehen, eine Frage an Sie zu stellen.

– Mit Vergnügen.

– Sind Sie nicht der Meinung, daß gerade dieses Document meine letztere Hypothese zu unterstützen scheint, nach welcher ein Fragment der Erdkugel in den Weltraum hinausgeschleudert wäre?

– Ja ... vielleicht ... antwortete Hector Servadac ... obwohl der Einwurf bezüglich der sonderbaren Grundstoffe, aus der das Innere unseres Asteroïden gebildet ist, noch immer fortbesteht.

– In diesem Falle, fügte Graf Timascheff hinzu, hätte jener Gelehrte dem neuen Gestirn also den Namen ›Gallia‹ gegeben.

– Das scheint demnach ein französischer Gelehrter gewesen zu sein? bemerkte Lieutenant Prokop.

– Man könnte es glauben, bestätigte Kapitän Servadac. Beachten Sie, daß unter den achtzehn Worten des Documentes sich elf französische[138] Worte befinden gegenüber drei lateinischen, zwei italienischen und zwei englischen. Es deutet diese Mischung auch dar auf hin, daß besagter Gelehrter, in der Ungewißheit darüber, in welche Hände sein Document fallen werde, einzelne Worte verschiedener Sprachen verwendete, um desto sicherer verstanden zu werden.

– Gut, wir nehmen also an, Gallia sei der Name des neuen Asteroïden, der um die Sonne kreist, sagte Graf Timascheff, und gehen nun weiter zu den Worten: ›Von der Sonne, Entfernung am 15. Februar, fünfunddreißig und vier Zehntel Millionen Meilen.‹

– Das entspricht offenbar der Entfernung, erklärte Lieutenant Prokop, welche die Gallia von der Sonne trennte, als sie die Bahn des Mars durchschnitt.

– Gut, antwortete Graf Timascheff, das wäre also ein erster Punkt des Documentes, der mit unseren Beobachtungen übereinstimmt.

– Ganz genau, bekräftigte Lieutenant Prokop.

– ›Durchlaufener Weg vom Januar bis Februar,‹ fuhr Graf Timascheff lesend fort, ›neunundvierzig und zwei Zehntel Millionen Meilen.‹

– Es bezieht sich diese Angabe, sagte Hector Servadac, offenbar auf die von der Gallia in ihrer neuen Bahn durchmessene Strecke.

– Ganz gewiß, stimmte ihm Lieutenant Prokop bei, und zwar mußte die Umlaufsgeschwindigkeit, entsprechend den Keppler'schen Gesetzen, oder, was auf dasselbe hinauskommt, der in gleichen Zeiträumen durchlaufene Weg progressiv kleiner werden. Die höchste von uns beobachtete Temperatur fiel mit dem 15. Januar zusammen. Höchst wahrscheinlich befand sich die Gallia zu der Zeit in ihrem Perihel, d.h. in der geringsten Entfernung von der Sonne, und bewegte sich damals mit einer doppelten Geschwindigkeit gegenüber der der Erde, welche nur siebzehn Tausend zweihundertachtzig Meilen in der Stunde erreicht.

– Das klingt Alles sehr schön, ließ sich Kapitän Servadac vernehmen, leider verräth es uns nur nicht, bis zu welcher Entfernung von der Sonne sich die Gallia in ihrem Aphel bewegen wird, und was wir von der Zukunft zu hoffen oder zu fürchten haben.

– Nein, Kapitän, antwortete Lieutenant Prokop; doch mittels genauer Beobachtungen auf verschiedenen Punkten der Gallia-Bahn müssen wir mit[139] Hilfe der allgemein giltigen Gravitationsgesetze dahin gelangen, die Elemente dieser Bahn zu bestimmen ...

– Und folglich, fiel Kapitän Servadac ein, den Weg, den die Gallia in dem Sonnensysteme einhalten wird.

– In der That, äußerte sich Graf Timascheff, wenn die. Gallia ein Asteroïd ist, so unterliegt sie, wie alle beweglichen Körper, den Gesetzen der Mechanik, und die Sonne bestimmt ihre Bahn ebenso wie die der Planeten. Von dem Augenblicke an, als sich dieses Fragment von der Erde löste, fesselten es auch die unsichtbaren Ketten der allgemeinen Anziehungskraft und bestimmten genau seine spätere Flugbahn.

– Wenigstens so lange, setzte Lieutenant Prokop hinzu, als nicht später vielleicht ein anderer Himmelskörper störend in diese Bahn eingreift. Im Vergleich mit den übrigen Körpern des Himmelssystems ist die Gallia nur winzig klein, und die anderen Planeten könnten leicht einen merkbaren Einfluß darauf ausüben.

– Jedenfalls, meinte Kapitän Servadac, könnte die Gallia leicht einem unangenehmen Zusammenstoß ausgesetzt sein und dadurch von dem rechten Wege abweichen. Uebrigens, meine Herren, bedenken Sie, daß wir hier sprechen, als wären wir erwiesenermaßen Bewohner dieser Gallia. Wer beweist uns denn aber, daß diese Gallia nicht etwa der hundertsiebzigste, neuentdeckte kleine Planet ist?

– Nein, nein, erwiderte Lieutenant Prokop, davon kann nicht die Rede sein. Die teleskopischen Planeten bewegen sich alle nur in einer schmalen, zwischen der Bahn des Mars und des Jupiters belegenen Zone. Sie nähern sich in Folge dessen der Sonne niemals so sehr, wie die Gallia zur Zeit ihres Perihels. Diese Thatsache kann nicht angezweifelt werden, da das Document mit unseren eigenen Hypothesen hierin vollständig übereinstimmt.

– Leider fehlen uns, sagte Graf Timascheff, die zu jenen astronomischen Beobachtungen nothwendigen Instrumente, so daß wir die Bahnelemente unseres Asteroïden zu berechnen außer Stande sind.

– Wer weiß, meinte Hector Servadac, zuletzt wird vielleicht auch diese Schwierigkeit beseitigt.

– Was die letzten Worte des Documentes betrifft, fuhr Graf Timascheff fort, ›Va bene! All right! Parfait!!!‹ so bedeuten sie wohl gar nichts ...[140]

– Außer, daß der Verfasser, fiel Hector Servadac ein, damit hat ausdrücken wollen, wie entzückt er von dem neuen Zustande der Dinge sei, und daß er Alles wunderschön in dieser schönsten der Welten finde.«

Quelle:
Jules Verne: Reise durch die Sonnenwelt. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band XXV–XXVI, Wien, Pest, Leipzig 1878, S. 130-141.
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