Zweites Capitel.
Die Gedanken der Mrs. Kathlen Seymour.

[19] Eine Reise nach verschiedenen Inseln Westindiens hatte also die Freigebigkeit der Mrs. Kathlen Seymour den Preisträgern beschert, und diese konnten davon wohl vollkommen befriedigt sein.

Freilich hieß es nun verzichten auf weit ausgedehnte Fahrten, wie durch Afrika, Asien, Ozeanien, nach den wenig bekannten Teilen der Neuen Welt oder auf einen »Ausflug« nach dem Nord- oder Südpole.

Wenn das auch anfänglich eine leichte Enttäuschung hervorrief, wenn die jungen Leute jetzt fast noch schneller aus den Ländern ihrer Träume zurückkehren mußten, als sie sich dahin versetzt hatten, und es sich also nur um eine Fahrt nach den Antillen handelte, so war das nichtsdestoweniger eine verlockende Verwendung der bevorstehenden Ferien, und der Direktor führte den Auserwählten vom Wettbewerbe ohne Schwierigkeit vor Augen, wie viel sie damit eigentlich gewonnen hätten.

Die Antillen... das war ja aller Preisträger Vaterland. Die meisten davon hatten es als Kinder verlassen, um in Europa ausgebildet und erzogen zu werden. Kaum mochten sie den Boden der Inseln betreten haben, wo ihre[19] Wiege gestanden hatte, und vielleicht bewahrten sie in ihrem Gedächtnis daran kaum noch eine klare Erinnerung. Obwohl ihre Familien – mit Ausnahme einer einzigen – den Archipel ohne den Gedanken an eine Rückkehr dahin verlassen hatten, waren doch viele unter ihnen, die dort Verwandte oder Freunde wiederfinden mußten... kurz, alles in allem eröffnete die Reise den jungen Antilianern höchst verlockende Aussichten.

Der Leser wird das aus den persönlichen Verhältnissen der neun Preisträger selbst erkennen, denen die Reisestipendien zugefallen waren.

Nennen wir zuerst die von englischer Abkunft, die in der Antilian School überhaupt die Mehrheit bildeten.

Roger Hinsdale aus Sankta-Lucia, zwanzig Jahre alt, dessen Familie, nachdem sie sich von den Geschäften zurückgezogen hatte, in London lebte.

John Howard aus Sankt-Domingo, achtzehn Jahre, dessen Vater sich nebst seinen Angehörigen als Fabrikant in Manchester niedergelassen hatte.

Hubert Perkins aus Antigoa, siebzehn Jahre, dessen Familie, Vater, Mutter und zwei jüngere Schwestern, seine Geburtsinsel niemals verlassen haben und der nach Vollendung seiner Ausbildung dahin zurückkehren soll, um in das väterliche Handelshaus einzutreten.

Es folgen die Franzosen, die zu einem Dutzend die Antilian School besuchten:

Louis Clodion aus Guadeloupe, zwanzig Jahre alt, der Sohn einer Reederfamilie, die seit einigen Jahren in Nantes ansässig war.

Tony Renault aus Martinique, siebzehn Jahre, der älteste von den vier Kindern einer Beamtenfamilie, die in Paris wohnte.

Ferner die Dänen:

Niels Harboe aus Sankt-Thomas, neunzehn Jahre alt, der keinen Vater und keine Mutter mehr hatte und dessen um sechs Jahre älterer Bruder sich nach wie vor auf den Antillen befand.

Axel Wickborn aus Sankta-Cruz, neunzehn Jahre, dessen Familie, nach Dänemark verzogen, in Kopenhagen Holzhandel betrieb.

Die Holländer waren durch Albertus Leuwen aus Sankt-Martin vertreten, der zwanzig Jahre zählte und der einzige Sohn einer in der Nähe von Rotterdam wohnenden Familie war.

Was Magnus Anders, einen neunzehnjährigen, auf Sankt-Barthelemy gebornen Schweden betraf, so hatte sich dessen Familie neuerdings nach[20] Gothenburg in Schweden gewendet, ohne – nach Erwerbung eines hinreichenden Vermögens – auf die Rückkehr nach den Antillen zu verzichten.

Man wird zugeben, daß die Reise, die sie für einige Wochen nach ihrem Heimatlande führen sollte, den jungen Antilianern willkommen sein mußte, denn wer weiß, ob es den meisten von ihnen sonst vergönnt sein sollte, die Stätte ihrer Geburt je wiederzusehen. Nur Louis Clodion hatte einen Onkel, einen Bruder seiner Mutter, auf Guadeloupe, Niels Harboe einen Bruder auf Sankt Thomas und Hubert Perkins seine ganze Familie auf der Insel Antigoa. Ihre Kameraden waren aber durch keine Verwandtschaftsbande mehr mit den Antillen verknüpft; deren Angehörige hatten diese Inseln endgültig verlassen.

Die ältesten der Stipendiaten waren: Roger Hinsdale, ein etwas hochmütiger junger Mann; Louis Clodion, ein ernster, fleißiger, allgemein beliebter Jüngling, ferner Albertus Leuwen, dessen holländisches Blut auch die Sonne der Antillen nicht zu erwärmen vermocht hatte. Hierauf folgten: Niels Harboe, über dessen Zukunft man noch im Unklaren war, Magnus Anders, ein großer Freund von allem, was das Meer betraf, und der in die Handelsmarine einzutreten beabsichtigte, Axel Wickborn, dessen Wunsch dahin ging, im dänischen Heer zu dienen. Dem Alter nach folgte dann John Howard, der etwas weniger »englisiert« auftrat als sein Landsmann Roger Hinsdale; endlich die zwei Jüngsten: der für den Handelsstand bestimmte Hubert Perkins, und Tony Renault, dem seine Vorliebe für das Bootfahren später wohl eine gleiche für die große Schiffahrt einflößen würde.

Zunächst bestand nun noch die wichtige Frage, ob die bevorstehende Reise sich nach allen Antillen, den Großen und den Kleinen, denen Im Winde und Unter dem Winde, erstrecken sollte. Ein eingehender Besuch des gesamten Archipels hätte freilich mehr als die wenigen Wochen beansprucht, über die die Preisträger verfügen konnten. Es gibt ja tatsächlich nicht weniger als dreihundertfünfzig Inseln und Eilande in den Archipeln Westindiens, und selbst wenn es möglich gewesen wäre, davon täglich eine oder eins zu besuchen, so wäre diese höchst oberflächliche Besichtigung doch erst im Verlaufe eines Jahres auszuführen gewesen.

Nein, dahin ging die Absicht der Mrs. Kathlen Seymour nicht. Die Pensionäre der Antilian School sollten vielmehr jeder einige Tage auf seiner Heimatinsel zubringen, die Verwandten und Freunde, die sich da befanden, einmal wiedersehen und noch einmal den Fuß setzen auf den Boden ihres Vaterlandes.[21]

Nach dieser Anordnung blieb, wie man sieht, von Anfang an eine Rundfahrt über die Großen Antillen, über Cuba, Haïti, Sankt-Domingo und Portorico ausgeschaltet, da die spanischen Zöglinge der Anstalt keinen Preis errungen hatten, ebenso Jamaika, da keiner der Sieger aus dieser britischen Kolonie stammte, und die holländische, Curaçao, war aus demselben Grunde ausgeschlossen. Ferner sollten auch die unter venezolanischer Herrschaft stehenden Kleinen Antillen nicht besucht werden, weder Tortigos und Marguerite, noch Tortega und Blanquilla oder Ordeilla und Havas. Die einzigen, für einen Besuch der Stipendiaten in Aussicht genommenen Inseln Mikro-Antiliens waren also Sankta-Lucia, Domingo, Antigoa (lauter englische), Guadeloupe und Martinique (französische), Sankt-Thomas und Santa-Cruz (dänische Inseln) Sankt Barthelemy (eine schwedische) und Saint Martin (eine zur Hälfte holländische und zur Hälfte französische Insel).

Diese neun Inseln, alle zu denen Im Winde gehörig, sollten also die neun Zöglinge der Antilian School eine nach der andern gemeinschaftlich besuchen.

Es wird nicht wundernehmen, daß auch noch eine zehnte Insel ins Auge gefaßt war, die ohne Zweifel den längsten und bestbegründeten Besuch verdiente.

Das war die ebenfalls zur Gruppe derer Im Winde gehörige Insel Barbados, eine der wichtigsten von dem Kolonialgebiete, die das Vereinigte Königreich in jener Gegend besitzt.

Dort wohnte ja Mrs. Kathlen Seymour, und es verstand sich wohl allein, daß die von ihr beschenkten jungen Leute sich der Dame vorstellten, um dieser ihren Dank abzustatten.

Ebenso kann man sich leicht vorstellen, daß die Zöglinge der Antilian School, wenn es die freigebige Engländerin danach verlangte, die neun Preisgekrönten zu empfangen, daß diese nicht minder den Wunsch hegten, die reiche Eingeborne von Barbados kennen zu lernen und ihr für das, was diese für sie getan hatte, herzlich zu danken.

Sie würden das auch nicht zu bereuen haben, denn eine Nachschrift in dem Briefe an den Direktor zeigte, wie weit die Opferfreudigkeit der Mrs Kathlen Seymour reichte.

Außer den Kosten, die die Fahrt selbst verursachte und die sie vollständig auf sich nahm, sollte jedem der jungen Leute bei der Abreise von Barbados noch die Summe von siebenhundert Pfund (14.000 Mark) eingehändigt werden.[22]

Nun bestand noch die weitere Frage, ob die Zeit der Ferien ausreichen würde. Ja, unter der Bedingung, daß man für die Sieger im Wettbewerbe die Ferienzeit einen Monat eher als regelmäßig beginnen ließ, was dann noch den Vorteil bot, daß Hin- und Rückfahrt über den Atlantischen Ozean in die schöne Jahreszeit fielen.

Diese Bedingung konnte man ja mit Freuden annehmen, ja das geschah sogar mit reiner Begeisterung. Es war dann auch nicht zu befürchten, daß die Angehörigen der Schüler Einspruch gegen eine so angenehme und in jeder Hinsicht vorteilhafte Reise erhöben. Sieben bis acht Wochen, das war der Zeitraum, auf den man unter Berücksichtigung gelegentlicher Verzögerungen rechnen mußte, und dann trafen die jungen Stipendiaten in Europa wieder ein, voller unvergeßlicher Erinnerungen an die ihnen so teuern Inseln der Neuen Welt.

Endlich war noch eine Angelegenheit zu ordnen, über die die Familien der jungen Leute aber bald beruhigende Aufklärung erhalten sollten.

Es betraf die Frage, ob man die Preisträger, von denen auch der älteste das zwanzigste Lebensjahr noch nicht überschritten hatte, sich völlig selbst überlassen sollte oder ob nicht die Hand eines erfahrenen Leiters nötig wäre, sie in Zaum und Zügel zu halten. Wenn sie den, verschiedenen europäischen Staaten gehörigen Archipel besuchten, konnte es ja leicht zu Eifersüchteleien und Reibungen kommen, sobald sich eine Nationalitätsfrage erhob. Würden sie dann immer daran denken, daß sie alle antillanischer Abkunft und Pensionäre derselben Bildungsanstalt wären, wenn der kluge und einsichtige Direktor Ardagh das Regiment nicht mehr führte?

An derartige Schwierigkeiten dachte der Spiritus rector der Antilian School mit einiger Sorge, und da es ihm nicht möglich war, seine Zöglinge zu begleiten, legte er sich die Frage vor, wer in dieser heiklen Sache wohl seine Stelle vertreten könnte.

Das war übrigens eine Seite der Frage, die auch der sehr praktisch veranlagten Mrs. Kathlen Seymour nicht entgangen war. Es wird sich bald zeigen, wie sie dieser gerecht geworden war, denn die verständige Dame hätte es nie zugelassen, daß die jungen Leute während der Reise ohne jede Aufsicht blieben.

Wie sollte nun die Fahrt über den Ozean vor sich gehen?... Vielleicht an Bord eines der Paketboote, die den regelmäßigen Verkehr zwischen England[23] und den Antillen vermitteln? Sollten da Plätze besorgt, eine Kabine für jeden der neun Preisträger belegt werden?... Wir wiederholen, daß sie ja nicht auf eigene Kosten reisen sollten, daß keinerlei Auslage auf die siebenhundert Pfund, die ihnen versprochen waren, wenn sie Barbados zur Rückkehr nach Europa verließen, angerechnet werden durften.

In dem Briefe der Mrs. Kathlen Seymour befand sich nun ein längerer Satz, der diese Frage, und zwar mit folgenden Worten löste:

»Die Überführung über den Ozean wird auf meine Unkosten. erfolgen. Ein für die Fahrt nach den Antillen gemietetes Schiff wird die Passagiere im Hafen von Cork, Queenstown, Irland, erwarten. Dieses Schiff ist der »Alert«, Kapitän Paxton, und wird bereit liegen, an dem für die Abfahrt bestimmten Tage in See zu gehen. Das soll am 30. Juni sein. Der Kapitän Paxton rechnet darauf, seine Reisegesellschaft an diesem Datum an Bord zu sehen, und er wird sofort nach deren Eintreffen die Anker lichten.«

Die jungen Leute sollten also, wenn auch nicht als Fürstensöhne, so doch als vornehme Jachtmen reisen. Sie hatten ein eigenes Schiff zur Verfügung, das sie nach Westindien bringen und nach Europa zurückbefördern sollte. Wahrlich, Mrs. Kathlen Seymour machte ihre Sache gut! Sie sorgte einfach für alles, die westindisch britische Mäcenin! Ja, wenn die steinreichen Leute ihre Millionen immer für so gute Werke verwendeten, dann könnte man ihnen nur Glück wünschen, deren so viele und womöglich noch mehr zu besitzen.

In der kleinen Welt der Antilian School kam es nun, als es bekannt geworden war, unter welch angenehmen Verhältnissen die Reise erfolgen sollte, freilich dahin, daß die schon früher von ihren Kameraden beneideten Preisträger nur noch mehr beneidet wurden.

Diese selbst waren dagegen rein entzückt. Die Wirklichkeit erreichte den Gipfel ihrer Träume: Nach Durchkreuzung des Ozeans würden sie die Hauptinseln des antillanischen Archipels besuchen.

»Und wann geht's nun fort? fragten sie.

– Morgen...

– Nein, noch heute...

– Nein doch, wir haben noch sechs Tage bis dahin, erklärten die verständigsten.

– Ach, wären wir doch auf dem »Alert« schon eingeschifft! rief Magnus Anders.


Patterson hatte seine Überraschung bei diesen Worten nicht verhehlen können. (S. 30.)
Patterson hatte seine Überraschung bei diesen Worten nicht verhehlen können. (S. 30.)

– Auf unserm, unserm Schiffe!« fügte Tony Renault hinzu.

Keiner der Zöglinge dachte daran, daß eine solche[24] überseeische Reise doch mancherlei Vorbereitungen erforderte.

Zunächst mußten die Eltern darum befragt und deren Zustimmung eingeholt werden, da es sich darum handelte, die Preisträger zwar nicht in die andre, aber doch in die Neue Welt zu senden. Julian Ardagh hatte sich also zu bemühen, diese Vorfrage zu erledigen. Außerdem machte der auf dritthalb Monate berechnete Ausflug doch auch gewisse Anschaffungen nötig, wie geeignete[25] Kleidung, vorzüglich eine Ausrüstung für die Seefahrt: tüchtiges Schuhwerk, Überröcke, Wachsleinwandmützen, sogenannte Südwester, kurz alles, was der Seemann gelegentlich braucht.

Dann mußte der Direktor die Vertrauensperson wählen, der die Verantwortlichkeit für die jungen Leute obliegen sollte. Zugegeben, daß sie groß genug waren, sich allein in allem zurecht zu finden, und auch verständig genug, eines Führers und Aufsehers entbehren zu können... immerhin erschien es geratener, ihnen einen Mentor mitzugeben, dem sie sich zu fügen hatten. Das war wenigstens die in ihrem Schreiben ausgesprochene Ansicht der Mrs. Kathlen Seymour, und dieser mußte jedenfalls Rechnung getragen werden.

Es versteht sich von selbst, daß die Familien der Schüler dringend ersucht wurden, dem Reiseplane zuzustimmen, den Ardagh ihnen schriftlich entwickelte. Von den jungen Leuten sollten ja mehrere auf den Antillen nähere oder entferntere Angehörige wiederfinden, die sie seit einer Reihe von Jahren nicht gesehen hatten, z. B. Hubert Perkins auf Antigoa, Louis Clodion auf Guadeloupe und Niels Harboe auf Sankt-Thomas. Jetzt bot sich ja, und obendrein unter ausnehmend günstigen Verhältnissen, eine unerwartete Gelegenheit zu einem Wiedersehen.

Die Familien waren vom Direktor Ardagh übrigens immer auf dem Laufenden erhalten worden. Sie wußten schon, daß in der Antilian School unter den Pensionären ein Wettbewerb um Reisestipendien veranstaltet worden war. Vernahmen sie dann, nach Verkündigung des Ergebnisses, daß die Preisträger Westindien besuchen sollten, so glaubte der Direktor annehmen zu dürfen, daß das deren eigenem sehnlichen Wunsche entsprechen werde.

Inzwischen dachte Ardagh über die ihm zufallende Wahl eines Führers nach, der an der Spitze der wandernden Klasse stehen sollte, eines Mentors, dessen weise Ratschläge die Harmonie unter den noch etwas »grünen« Telemachs zu erhalten verspräche. Das bereitete ihm jedoch keine geringe Verlegenheit. Sollte er sich etwa an den Lehrer der Antilian School wenden, der am geeignetsten erschien, in diesem Falle allen Anforderungen zu entsprechen? – Das Schuljahr war aber noch nicht zu Ende. Vor den Ferien durfte der Unterricht auf keinen Fall unterbrochen werden, das Lehrerkollegium mußte also beisammen bleiben.

Aus gleichem Grunde glaubte auch Ardagh, die neun Preisträger nicht selbst begleiten zu können. Seine Anwesenheit war in den letzten Monaten des[26] Schuljahrs unbedingt erforderlich, er mußte personlich die für den 7. August festgesetzten Prüfungen und die Zensur- und Prämienverteilung leiten.

Die Lehrer und er selbst kamen also nicht in Frage, dagegen hatte er gerade einen Mann, wie er ihn brauchte, an der Hand, einen durchweg ernsten und gediegenen Mann, der seine Aufgabe gewissenhaft erfüllen würde, der das vollste Vertrauen verdiente, allgemein beliebt war und den die jungen Reisenden gern als Mentor annehmen würden.

Nun fragte es sich freilich, ob die betreffende Persönlichkeit ein solches Angebot annehmen, ob der Mann zustimmen würde, diese Reise zu unternehmen, und ob es ihm paßte, sich übers Weltmeer hinauszuwagen.

Am 24. Juni, fünf Tage vor der für die Abfahrt des »Alert« bestimmten Zeit, ließ der Direktor Ardagh zeitig am Vormittage Herrn Patterson wegen einer wichtigen Mitteilung zu sich rufen.

Patterson, der Verwalter der Antilian School, war wie gewöhnlich damit beschäftigt, die Abrechnung vom letztvergangenen Tage abzuschließen, als er zu dem Leiter der Anstalt entboten wurde.

Patterson schob sich die Brille auf die Stirne und antwortete dem an der Tür wartenden Schuldiener:

»Ich werde keinen Augenblick säumen, dem Rufe des Herrn Direktors zu folgen.«

Dann ergriff er, die Brille wieder auf die Nase bringend, seine Feder, um den untern Halbbogen einer 9 zu vollenden, die er eben der Ziffernreihe der Ausgaben in seinem Hauptbuche anfügen wollte. Mit Hilfe seines Ebenholzlineals zog er hierauf einen Strich unter die Zahlenreihe, deren Zusammenrechnung er eben vollendet hatte. Ferner spritzte er die Feder mehrmals leicht über dem Tintenfasse aus, tauchte sie wiederholt in ein kleines Gefäß mit feinem Schrote und trocknete sie endlich mit größter Sorgsamkeit ab. Dann legte er sie neben das Lineal auf sein Pult, drehte den Auslauf des Schreibzeugs nach oben, um die Tinte darin wieder zurücklaufen zu lassen, legte ein sauberes Löschblatt auf die Seite mit den Ausgabeposten, wobei er sorgsam darauf achtete, den frischen Schwanz der 9 nicht zu verwischen, und legte das geschlossene Buch in das dafür bestimmte Fach im Bureau. Endlich kamen Radiermesser, Bleistift und Radiergummi wieder in ihren Behälter, er blies noch über seine. Schreibunterlage hin, um einige Staubkörnchen davon zu entfernen, erhob sich, indem er seinen runden Ledersessel zurückschob, zog die Schreibärmel ab und hängte sie[27] in der Nähe des Kamins auf und bürstete auch Rock, Weste und Beinkleider sorgfältig ab. Jetzt ergriff er den Hut, strich mit dem Ellbogen darüber, um seinen Glanz zu erneuern, setzte ihn auf und legte die schwarzen Glacéhandschuhe an, als gälte es, einer hochstehenden Person von der Universität einen Staatsbesuch zu machen. Nun noch einen letzten Blick in den Spiegel, um sich zu überzeugen, daß seine Toilette ganz tadellos sei – dabei ergriff er noch eine Schere, um einige unvorschriftsmäßig lange Haare des Backenbartes zu kürzen – dann untersuchte er noch, ob Taschentuch und Portemonnaie richtig in der Tasche wären, öffnete schließlich die Tür seines Kabinetts, überschritt deren Schwelle und verschloß sie wieder sorgsam mit einem der siebzehn Schlüssel, die an seinem Schlüsselbunde klirrten. Hierauf stieg er die nach dem großen Hofe führende Treppe hinunter, überschritt den Raum langsam und gemessen in schräger Richtung und auf das besondere Gebäude zu, worin die Wohnung und das Amtszimmer des Direktors lagen. Vor dessen Tür machte er Halt, drückte auf den elektrischen Knopf, daß die schrille Klingel im Innern ertönte, und wartete geduldig des Weitern.

Jetzt legte sich Patterson, mit dem Zeigefinger auf der Stirn, die Frage vor:

»Was mag der Herr Direktor mir nur zu sagen haben?«

Dem würdigen Herrn Patterson, der den verschiedensten Mutmaßungen nachhing, mußte zu dieser Morgenstunde die Einladung, sich nach dem Zimmer des Herrn Adagh zu begeben, entschieden auffallend erscheinen.

Man bedenke nur: Die Uhr des Herrn Patterson zeigte erst neun Uhr siebenundvierzig Minuten, und auf den vortrefflichen Chronometer, der noch keine volle Sekunde des Tages von der richtigen Zeit abwich und in seiner Regelmäßigkeit mit der des Eigentümers wetteiferte, auf den konnte man sich ruhig verlassen. Niemals... nein, niemals begab sich Patterson vor elf Uhr dreiundvierzig Minuten zu Herrn Ardagh, um diesem über die ökonomische Lage der Antilian School Bericht zu erstatten, und es war ohne Beispiel, daß er sich nicht zwischen der zwei- und der dreiundvierzigsten Minute bei Ardagh eingestellt hätte.

Patterson mußte also vermuten und vermutete auch wirklich, daß heute ein ganz besonderer Grund für diese Abweichung vorliegen müsse, da der Direktor nach ihm verlangte, bevor er die Bilanz zwischen Einnahmen und Ausgaben des vorigen Tages abgeschlossen hatte. Das würde er natürlich nachher tun, und man konnte getrost darauf rechnen, daß sich dabei trotz der ungewöhnlichen Störung kein Fehler einschlich.[28]

Die Tür öffnete sich durch einen Zug an der Kette aus dem Stübchen des Hausmanns. Patterson machte einige Schritte – wie gewöhnlich deren fünf – über den Vorraum und klopfte leise an die Füllung der zweiten Tür, über der die Worte »Zimmer des Direktors« zu lesen waren.

»Herein!« ertönte es sofort von innen.

Patterson nahm seinen Hut ab, schüttelte einige Staubkörnchen von den Stiefeln, strich die Handschuhe glatt und betrat das Innere des Zimmers, das vom Hof aus durch zwei Fenster mit halb herabgelassenen Gardinen erhellt wurde.

Der Direktor Ardagh saß, verschiedene Papiere vor sich, an seinem Schreibtische, der mehrere elektrische Druckknöpfe zeigte. Er erhob den Kopf und machte gegen den Verwalter eine einladende Handbewegung.

»Sie haben mich hierher rufen lassen, Herr Direktor? begann Patterson.

– Ja, Herr Verwalter, und zwar zur Besprechung einer Angelegenheit, die Sie sehr persönlich angeht.«

Damit wies er nach einem Stuhle in der Nähe des Schreibtisches.

»Nehmen Sie gefälligst Platz,« sagte er.

Patterson setzte sich, nachdem er umständlich die langen Schöße seines Rockes aufgehoben hatte. Er legte dann die eine Hand aufs Knie und hielt mit der andern den Hut vor die Brust.

Ardagh eröffnete nun das Gespräch.

»Sie kennen ja, Herr Verwalter, das Ergebnis des unter unseren Pensionären veranstalteten Wettbewerbs zur Gewinnung von Reisestipendien.

– Gewiß, Herr Direktor, antwortete Patterson, und ich meine, das edelmütige Angebot einer unserer kolonialen Landsmänninnen gereicht der Antilian School zu hoher Ehre.«

Patterson sprach stets gemessen, hob die Silben der von ihm gebrauchten Wörter einzeln scharf hervor und betonte die Worte, die über seine Lippen kamen, stets mit einer gewissen Ziererei.

»Sie wissen auch, fuhr Ardagh fort, in welcher Weise die Reisestipendien Verwendung finden sollen?

– Ja freilich, Herr Direktor, bestätigte Patterson, der, sich verneigend, mit seinem Hute irgend eine Person jenseits des Ozeans zu begrüßen schien. Ich glaube, es dürfte schwierig sein, ererbte oder durch eigene Anstrengung erworbene Schätze besser zu verwenden wie hier zu Gunsten junger Menschen, denen die[29] Sehnsucht nach der Ferne aus den Augen leuchtet. Mrs. Kathlen Seymour ist eine Dame, deren Name noch in später Zukunft rühmend genannt werden wird.

– Sie sprechen mir aus der Seele, Herr Verwalter. Doch... kommen mir zum Kern der Sache. Es ist Ihnen natürlich ebenso bekannt, unter welchen Verhältnissen die Reise nach den Antillen vor sich gehen soll?

– Ich bin darüber unterrichtet, Herr Direktor. Ein Schiff erwartet unsere jungen Reisenden, und ich hoffe, diese werden Neptun nicht anzuflehen haben, daß er den tobenden Wogen des Atlantischen Meeres sein Quos ego zurufe.

– Das hoffe ich ebenfalls, Herr Patterson, da ja die Hin- und die Rückfahrt in der schönen Jahreszeit erfolgen soll.

– Jawohl, bemerkte dazu der Verwalter, Juli und August sind ja die Monate, wo die launische Thetis mit Vorliebe ausruht...

– Und diese Reise, fiel Ardagh ein, wird für meine Preisträger nicht weniger angenehm sein, als für die Person, die sie dabei begleiten wird.

– Eine Person, sagte Patterson salbungsvoll, der die ehrenvolle Aufgabe zufallen wird, Mrs. Kathlen Seymour die tiefempfundene Ehrerbietung und die unverlöschliche Dankbarkeit der Pensionäre der Antilian School zu entbieten.

– O, ich bedaure wirklich lebhaft, äußerte dazu der Direktor, daß ich nicht selbst diese Person sein kann. Am Ende des Schuljahres und angesichts der Prüfungen, denen ich beiwohnen muß, ist mein Fernsein aber unmöglich.

– Freilich... leider unmöglich, Herr Direktor, stimmte der Verwalter ein, der aber – wer es auch sei – ist zu beneiden, der deshalb an Ihre Stelle treten wird.

– Gewiß, mich bedrückt hierbei nur die Qual der Wahl. Ich brauche einen erfahrenen Mann, auf den ich mich unter allen Umständen verlassen kann und der auch ohne Widerspruch den Familien unserer jungen Stipendiaten angenehm ist. Jetzt habe ich diesen Mann aber unter dem Personal der Anstalt gefunden...

– Ohne Zweifel in einem der wissenschaftlichen oder technischen Lehrer...

– Nein, es kann nicht davon die Rede sein, den Unterricht vor den Ferien zu unterbrechen. Eine solche Unterbrechung erschien mir minder folgenschwer in der Finanzverwaltung der Schule, und deshalb, Herr Verwalter, ist meine Wahl, die jungen Leute nach den Antillen zu begleiten, auf Sie gefallen.«

Patterson hatte seine Überraschung bei diesen Worten nicht verhehlen können. Er erhob sich seiner ganzen Länge nach und schob die Brille nach der Stirn.[30]

»Ich... Herr Vorsteher? rief er etwas befangenen Tones.

– Jawohl, Sie, Herr Verwalter, denn ich bin überzeugt, daß das Rechnungswesen während der Reise der Stipendiaten dann ebenso geordnet geführt werden wird, wie von jeher das der Schule.«

Mit einem Zipfel seines Taschentuchs wischte Patterson bedächtig die etwas angelaufenen Gläser seiner Brille ab.

»Ich bemerke Ihnen noch, setzte Ardagh hinzu, daß dem Mentor – dank der Hochherzigkeit der Mistreß Kathlen Seymour – dem Mentor, dem diese wichtige und allerdings verantwortungsreiche Aufgabe zufällt, ebenfalls ein Preis von siebenhundert Pfund Sterling zugesichert ist. Ich ersuche Sie also, Herr Patterson, sich binnen fünf Tagen zur Abreise bereit zu halten«

Quelle:
Jules Verne: Reisestipendien. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXXXIII–LXXXIV, Wien, Pest, Leipzig 1904, S. 19-31.
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