Neuntes Kapitel.
In Sicht des Landes.

[108] Es war fast sieben Uhr, als der »Alert« aus der Bai von Cork hinaussegelte und das Vorgebirge Roche-Pointe an Backbord hatte. Die Küste der Grafschaft Cork lag einige Seemeilen von ihm im Westen.

Ehe die Passagiere die Augen über die weite, unbegrenzte Meeresfläche hinschweifen ließen, betrachteten sie das hochaufsteigende, in der Dämmerung halb verschwindende Uferland der Südküste Irlands. Vom Deck aus, dessen[108] Zeltdach jetzt zusammengerollt war, schauten sie hinaus... erfüllt von einer seltsamen Erregung, die ja bei ihrem Alter natürlich war. An die erste Überfahrt, als sie sich von den Antillen nach Europa begeben hatten, bewahrten sie ja kaum noch eine schwache Erinnerung.

Mit lebhaft arbeitender Phantasie dachten alle an die nun angetretene große Reise, die sie nach ihrer Heimat zurückführen sollte. In ihrem Kopfe wirbelte es von Zauberbildern, von Ausflügen, Erforschungen, von Abenteuern und Entdeckungen, kurz, von allem, was dem Touristen nur vorschweben kann. Die Berichte, die sie – und mit besonderem Eifer in den letzten, auf der Antilian School verbrachten Tagen – gelesen hatten, traten ihnen jetzt vor das geistige Auge. Wie viele Reisebeschreibungen hatten sie heißhungrig verschlungen, als sie das Ziel des »Alert« noch gar nicht kannten!... Wie eifrig hatten sie ihre Atlasse benutzt und die Karten darin studiert!

Das zu verstehen, muß man sich den Zustand der seltsam überreizten jungen Gehirne vergegenwärtigen und den Überschwang ihrer Hoffnungen und Wünsche in Rechnung ziehen. Doch auch jetzt, wo sie das Ziel der Reise kannten, unterlagen sie noch immer den Eindrücken von ihrer Lektüre. Sie verfolgten die großen Entdecker auf deren ausgedehnten Zügen, sie nahmen in Gedanken Besitz von neuen Ländern und pflanzten darin die Flagge ihres Vaterlandes auf. Sie däuchten sich ein Christoph Columbus in Amerika, ein Vasco de Gama in Indien, ein Magellan auf Feuerland, ein Jacques Cartier in Canada, ein James Cook auf den Inseln des Großen Ozeans und ein Dumont d'Urville in Neuseeland wie im unwirtlichen Polargebiete! Sie verglichen sich schon mit Livingstone und Stanley in Afrika, mit James Roß in den Einöden des Nordpols, und wiederholten mit Chateaubriand, daß der Erdball eigentlich viel zu klein sei, da man schon um ihn herumgekommen wäre, und bedauerten, daß er nur fünf Erdteile und nicht wenigstens ein Dutzend solcher aufweise!.. Sie sahen sich schon weit, weit fort, obwohl der »Alert« erst im Anfange seiner Fahrt und noch in englischem Gewässer war!

Anderseits hätte sich freilich bei der Abreise von Europa jeder von ihnen glücklich geschätzt, seine engere Heimat noch einmal begrüßen zu können: Louis Clodion und Tony Renault ihr Frankreich, Niels Harboe und Axel Wickborn ihr Dänemark, Albertus Leuwen seine Niederlande und Magnus Anders sein altes Schweden; daran war aber natürlich nicht zu denken. Nur Roger Hinsdale, John Howard und Hubert Perkins wurde die Genugtuung zu teil,[109] Irland, das mit Schottland und England das Vereinigte Königreich bildet, noch einen letzten Gruß senden zu können. Wenn sie morgen den Sankt-Georgskanal hinter sich hatten, sollten sie kein Festland, keine einzige Insel zu Gesicht bekommen, bevor sie in Amerika eintrafen, wo jeder von ihnen ein wenig von dem wiederfand, was er in Europa zurückgelassen hatte.

Übrigens sollte, wie der Leser sehen wird, noch eine gewisse Zeit vergehen, ehe die britischen Küsten unter den Horizont versanken.

Die jetzt noch wehende Brise, die es dem »Alert« ermöglicht hatte, seinen Ankerplatz in der Farmarbucht zu verlassen, erstarb, wie die Landwinde gewöhnlich, voraussichtlich schon nach kurzer Dauer, wenn das Schiff sich einige Seemeilen weit draußen befand.

Aus dem Sankt-Georgskanal herausgekommen, mußte der »Alert« einen Kurs nach Südwesten einschlagen, was der Kapitän Paxton jedenfalls nicht versäumt hätte, denn kam er dann nur hundert Seemeilen weit aufs offene Meer, so wäre dort gewiß ein günstigerer Wind zu erwarten gewesen. Harry Markel hegte dagegen andere Absichten; er wollte jenseit des genannten Kanals sofort nach Süden steuern.

Seinen verbrecherischen Zwecken diente es weit besser, sich während der Nacht so weit wie möglich vom Lande zu entfernen und damit den zahlreichen Schiffen aus dem Wege zu gehen, die hier verkehrten und aus Mangel an Wind mehr oder weniger zurückgehalten wurden.

Das Meer lag vollständig ruhig da. Nicht die kleinste Welle furchte seine Fläche, keine bespülte die Küste oder die Seiten des Fahrzeuges. Das Wasser des Irischen Meeres strömte geräuschlos in den Atlantischen Ozean.

Natürlich lag auch der » Alert« so unbeweglich fest, als befände er sich zwischen den Ufern eines Binnensees oder eines Flusses. Dank dem Schutze durch das Land, verspürte man nicht das geringste Schlingern. Horatio Patterson beglückwünschte sich darüber, da es ihm Zeit gewährte, sich zu akklimatisieren und den »Seemannsfuß« (oder -gang) anzugewöhnen.

Die Passagiere fügten sich also der Lage der Dinge in Geduld... was hätten sie auch dagegen tun können? Harry Markel und seinen Leuten flößte die Nähe des Landes freilich die größte Unruhe ein; immer war ja zu befürchten, daß ein Aviso des Staates am Ausgange des Sankt-Georgskanales lag und den Auftrag hatte, alle aus der Bai von Cork kommenden Schiffe zu untersuchen.[110]

Zu dieser Unruhe kam auch noch ein gewisser Ingrimm, und Harry Markel fragte sich, ob er dessen sichtbaren Ausbruch werde verhindern können. Corty und die anderen zeigten einen so abstoßenden Gesichtsausdruck, daß die Passagiere schließlich darüber erschrecken mußten.

John Carpenter und er versuchten vergebens, die Leute etwas zu besänftigen. Durch die Ungunst des Wetters ließ sich deren gereizte Stimmung nicht erklären. Wenn die Verzögerung unangenehm war, so konnten das wohl Patterson und seine jungen Begleiter empfinden, nicht aber Matrosen, die solche Launen und Widerwärtigkeiten des Meeres kaum noch berührten.

Harry Markel und John Carpenter gingen im Gespräch auf dem Deck hin und her und schließlich sagte John Carpenter:

»Eh... Harry, nun wird's bald finster, und was wir in der Farmarbucht getan haben, als wir uns die Besatzung des ›Alert‹ vom Halse schafften, sollten wir das nicht auch eine bis zwei Seemeilen von der Küste entfernt fertig bringen können? Mir scheint doch, in der Bai von Cork war die Sache doch weit riskanter...

– Ja, du vergißt aber, John, antwortete Harry Markel, daß wir dort nicht anders handeln konnten, da wir uns des Schiffes um jeden Preis bemächtigen mußten.

– Doch, wenn die Passagiere in ihren Kabinen eingeschlafen sind, Harry, was könnte uns da hindern, mit ihnen in gleicher Weise zu verfahren?

– Was uns daran hindern sollte, John?...

– Jawohl, erwiderte John Carpenter. Sie sind doch jetzt auf dem Schiffe, der ›Alert‹ hat die Bai verlassen... da wird doch kein Mensch mehr hierherkommen, sie zu besuchen.

– Kein Mensch? entgegnete Harry Markel. Wenn nun durch die Semaphore gemeldet worden wäre, daß unser Schiff wegen Mangels an Wind noch still liegt, weißt du dann wohl bestimmt, daß es nicht dem oder jenem ihrer Freunde oder Bekannten einfallen könnte, ihnen hier ein letztes Lebewohl zu sagen?... Was geschähe dann aber, wenn man sie nicht mehr an Bord fände?

– Na du wirst zugeben, Harry, daß das höchst unwahrscheinlich ist.«

Höchst unwahrscheinlich... ja freilich, doch möglich immerhin. Lag der »Alert« auch morgen noch in der Nähe des Landes, so konnte recht wohl ein Boot mit Lustfahrern an ihm anlegen. Die Genossen Harry Markels wollten solche Einwände aber nicht gelten lassen; wenn's nach ihnen ging, müßte[111] das entsetzliche Drama seine Lösung noch vor Ablauf der Nacht gefunden haben.

Der Abend kam heran mit erquickender Frische nach der erstickenden Hitze des Sommertags. Nach acht Uhr mußte die Sonne unter den wolkenlosen Horizont versinken und nichts ließ noch auf einen baldigen Umschlag im Zustande der Atmosphäre schließen.

Die jungen Leute ergingen sich noch auf dem Verdeck und keiner von ihnen beeilte sich, die gemeinschaftliche Kajüte aufzusuchen. Nur Patterson wünschte ihnen gute Nacht, als er sich in seine Kabine zurückzog, wo er mit gewohnter Sorgfalt für die Nacht Toilette machte. Nachdem er sich methodisch entkleidet hatte, hängte er alle Kleidungsstücke an den Platz, den sie während der ganzen Reise einnehmen sollten; dann setzte er noch ein schwarzes Seidenkäppchen auf und streckte sich auf seinem Lager aus.

»Du vortreffliche Frau Patterson – war vor dem Einschlummern sein letzter Gedanke – meine Vorsichtsmaßregeln werden dir gewiß manche Unruhe verursacht haben!... Ich habe aber nur als kluger und weiser Mann gehandelt, und nach der Heimkehr wird sich schon alles ausgleichen.«

Waren Luft und Meer jetzt auch eines so ruhig wie das andere, so unterlag der »Alert« doch der Wirkung der Strömung, die am Eingange zum Sankt-Georgskanal ziemlich kräftig auftritt. Die von der Seeseite heranwallende Flut drängte das Schiff noch weiter zur Küste hin. Außer daß Harry Markel fürchtete, dabei zuletzt aufzulaufen, wollte er sich auf keinen Fall weiter nach Norden dem Irischen Meer zu tragen lassen. Strandete der »Alert« aber nahe der Küste, so verschlimmerte das, obgleich er gewiß ohne Mühe wieder flott gemacht werden konnte, die Lage der Flüchtlinge sehr ernstlich, denn diese hätten dann ans Land gehen müssen, während die Polizei die Umgebung von Queenstown und Cork gewiß noch nach ihnen absuchte.

Außerdem befanden sich in Sicht des »Alert« noch viele – vielleicht hundert – Segelschiffe, die den Hafen jetzt nicht erreichen konnten. Wie sie heute Abend dalagen, würden sie auch am nächsten Morgen daliegen, da die meisten vor Anker gegangen waren, um der Flut in den Nachtstunden widerstehen zu können.

Gegen zehn Uhr war der Dreimaster nur noch eine halbe Seemeile von der Küste entfernt und dabei ein wenig nach Westen bis gegenüber Roberts-Cove getrieben worden.[112]

Harry Markel hielt es nun für dringend nötig, einen Anker fallen zu lassen, und er rief deshalb seine Leute zusammen.


Es schien, als ob sie den »Alert« mit besonderer Aufmerksamkeit beobachteten. (S. 118.)
Es schien, als ob sie den »Alert« mit besonderer Aufmerksamkeit beobachteten. (S. 118.)

Als Louis Clodion, Roger Hinsdale und die anderen das hörten, kamen sie sofort herbeigelaufen.

»Sie wollen vor Anker gehen, Herr Kapitän? fragte Tony Renault.

– Ja... sogleich, antwortete Harry Markel. Die Flutströmung wird stärker, wir liegen zu nahe am Ufer und ich befürchte, daß wir stranden könnten.

– Danach rechnen Sie also nicht darauf, daß sich bald etwas Wind erhöbe? bemerkte Roger Hinsdale.

– Dazu ist keine Aussicht.

– Das fängt allmählich an, ärgerlich zu werden, ließ sich Niels Harboe vernehmen.

– Ja, recht ärgerlich.

– Auf dem offenen Meere wäre es immerhin eher möglich, daß Wind aufspränge, sagte Magnus Anders.

– Gewiß, und wir werden auch bereit sein, ihn uns zu nutze zu machen, denn der ›Alert‹ wird nur vor einem Anker liegen, antwortete Harry Markel.

– O, dann teilen Sie uns das wohl mit, Herr Kapitän, damit wir beim Aufwinden mit zufassen können? fragte Tony Renault.

– Gewiß, das versprech' ich Ihnen.

– Ja, ja, Sie sollen schon rechtzeitig geweckt werden!« murmelte John Carpenter ironisch.

Eine Viertelmeile von der Küste, die hier eine mehr westlich hinausragende Landspitze zeigte, sollte das Schiff nun festgelegt werden. Als dann der Anker den Grund gefaßt und seine Kette sich angespannt hatte, lag der »Alert« mit dem Hintersteven nach dem Lande zu.

Nachdem die Passagiere diesen Vorgang beobachtet hatten, zogen sie sich in ihre Kabinen zurück, wo alle bald tief in Schlummer fielen.

Was würde nun Harry Markel tun?... Würde er sich dem Verlangen seiner Leute fügen? Sollte das Gemetzel noch diese Nacht vor sich gehen oder erschien es wirklich nicht klüger, dazu günstigere Verhältnisse abzuwarten?

Gewiß, in erster Linie, weil der »Alert«, statt auf den Gewässern von Roberts-Cove so vereinsamt zu liegen wie in der Farmarbucht, sich hier inmitten zahlreicher Fahrzeuge befand, die die Windstille am westlichen Eingange des Sankt-Georgskanals festhielt. Die meisten hatten, ebenso wie der »Alert«, einen[115] Anker ausgeworfen, um sich gegen die nach der Küste zu laufende Flut zu halten. Zwei oder drei lagen von dem Dreimaster übrigens kaum eine halbe Kabellänge weit entfernt. Wie hätte man es da wagen können, die Passagiere über Bord zu werfen?... Wenn es auch leicht war, sie im Schlafe zu überfallen, so konnten sie doch recht wohl versuchen, sich zu verteidigen und um Hilfe zu rufen, und dann mußten ihre Rufe von den Wachtposten auf den nächsten Schiffen jedenfalls gehört werden.

Alles das stellte Harry Markel eindringlich John Carpenter, Corty und den übrigen elenden Gesellen vor, die es so eilig hatten, der Sache ein Ende zu machen, und diese mußten wohl oder übel nachgeben. Wäre der »Alert« freilich fünf bis sechs Seemeilen weit draußen gewesen, so hätten Horatio Patterson und die jungen Preisträger von der Antilian School heute unzweifelhaft ihr letzte Nacht erlebt.

Schon um fünf Uhr am nächsten Morgen schlenderten Louis Clodion, Roger Hinsdale und ihre Kameraden auf dem Deck umher, während der weniger ungeduldige und minder lebhafte Herr Patterson sich noch gravitätisch in seiner Kabine zu tun machte.

Weder Harry Markel noch der Obersteuermann war schon aufgestanden. Ihre gestrige Unterredung hatte sich bis Mitternacht ausgedehnt. Sie lauerten nur auf das Aufspringen einer Brise, die sich doch weder von der Land- noch von der Seeseite her erheben wollte. Hätte es nur genügend geweht, die obern Segel zu schwellen, so würden sie nicht gezögert haben, den Anker – mit der Vorsicht, die Passagiere nicht zu erwecken – aufzuwinden und sich aus der sie umgebenden Flottille zu entfernen. Als aber gegen vier Uhr Morgens nach Eintritt des Niedrigwassers sich die Flut schon wieder bemerkbar zu machen anfing, mußten sie auf jede Hoffnung verzichten, von Roberts-Cove bald wegzukommen. Darauf waren sie denn auch wieder, der eine in seine Kabine unter dem Deckhause, der andere in die seinige neben dem Volkslogis gegangen, um noch einige Stunden auszuschlafen.

Die jungen Leute trafen also nur Corty auf dem Hinterdeck, während zwei Matrosen auf dem Vorderdeck Wache hielten.

An Corty richteten sie denn auch die unter den obwaltenden Umständen nächstliegende Frage:

»Nun... die Witterung?...

– Gar zu schön.[116]

– Und der Wind?

– Nicht genug, eine Kerze auszublasen!«

Draußen über dem Sankt-Georgskanäle stieg jetzt, wie aus einer Schicht warmer Dünste, der Sonnenball empor. Die Dunstmasse löste sich aber sehr schnell auf und das Meer glitzerte unter den ersten Strahlen des jungen Morgens.

Um sieben Uhr traf Harry Markel, als er die Tür seiner Kabine öffnete, mit Patterson zusammen, der eben aus seiner Kabine trat. Da hörte man dann ein verbindliches »Guten Morgen!«, das der eine mit wohlgesetzten Worten darbrachte, der andere aber nur mit einer leichten Verbeugung beantwortete.

Patterson ging nach dem Deckhause hinauf, wo er die ganze junge Welt antraf.

»Nun, meine lieben Preisträger, begann er, wird denn heute unser scharfer Bug die endlose Wasserwüste durchfurchen?

– Ich fürchte vielmehr, Herr Patterson, daß wir noch einen Tag verlieren werden, antwortete Roger Hinsdale, wobei er nach dem spiegelglatten Meere wies, das kaum unter einer schwachen Dünung zu atmen schien.

Diem perdidi, werde ich dann am Abend mit Titus ausrufen können.

– Gewiß, bemerkte dazu Louis Clodion. Titus meinte damit freilich, daß er an dem betreffenden Tage habe keine gute Tat ausführen können... wir drücken dadurch leider nur aus, daß es uns nicht vergönnt war abzufahren!«

Eben jetzt wurden Harry Markel und John Carpenter, die auf dem Vorderdeck beieinander standen, in ihrem Gespräche unterbrochen. Corty rief ihnen mit verhaltener Stimme zu:

»Vorsicht!... Achtung!

– Was gibt es denn? fragte der Obersteuermann.

– Seht nur dort hinaus, doch haltet euch verborgen«, antwortete Corty, der mit dem Finger nach einer hoch und steil aufragenden Stelle der Küste zeigte.

Da am Rande bewegte sich ein Trupp von etwa zwanzig Menschen. Sie gingen auf und ab und lugten einmal zurück nach dem Lande und dann nach dem vor ihnen liegenden Meere hinaus.

»Das sind Konstabler, sagte Corty.

– Ja... gewiß, bestätigte Harry Markel.

– Und was sie sachen, das kann man sich wohl denken, setzte der Obersteuermann hinzu.[117]

– Alle Mann unter Deck, befahl Harry Markel, und daß sich keiner sehen läßt!«

Die auf dem Vorderkastell beisammen stehenden Matrosen stiegen sofort herunter.

Harry Markel und die beiden anderen blieben auf dem Deck, traten aber dicht an die Schanzkleidung des Backbords heran, um nicht frei gesehen zu werden und doch die Polizisten im Auge behalten zu können.

Diese waren wirklich zur Aufspürung der Flüchtlinge ausgesandt. Nach erfolgloser Absuchung der Stadt und des Hafens hatten sie sich längs des Ufers zerstreut, und es schien, als ob sie den »Alert« mit besonderer Aufmerksamkeit beobachteten.

Immerhin war doch kaum anzunehmen, daß sie die Bande Harry Markels an Bord dieses Dreimasters vermuteten, dessen sich die Verbrecherrotte am Abend vorher in der Farmarbucht bemächtigt hatte. Vor Roberts-Cove lagen obendrein so viele Schiffe, daß es ganz unmöglich war, alle zu untersuchen. Freilich kamen hierbei nur die in Frage, die die Bai von Cork im Laufe der Nacht verlassen hatten, und den Konstablern mußte jedenfalls bekannt sein, daß der »Alert« zu diesen gehörte.

Nun kam es also darauf an, ob sie nach dem Strande heruntergehen, dort etwa ein Fischerboot requirieren und sich an Bord führen lassen würden.

Harry Markel und seine Gefährten erwarteten mit begreiflicher Angst die nächste Entwicklung der Dinge.

Auch die Aufmerksamkeit der Passagiere war durch das Erscheinen des Konstablertrupps erregt worden, den sie als solchen ja an der Uniform erkannten. Jedenfalls handelte es sich hier nicht um einen harmlosen Spaziergang an dem hohen Ufer. Die Polizisten waren offenbar in einer Nachsuchung in der Umgebung von Cork und Queenstown begriffen und beobachteten jetzt das Küstengewässer. Vielleicht wollten sie eine verdächtige Landung verhindern, einem Schmuggelversuche oder etwas ähnlichem zuvorkommen.

»Wahrhaftig, das sind Konstabler, erklärte Axel Wickborn.

– Und sie haben sogar Revolver bei sich«, versicherte Hubert Perkins, der die Gestalten mit dem Feldstecher vor den Augen besichtigt hatte.

Die Entfernung, die den Dreimaster noch von dem Steilufer trennte, betrug höchstens zweihundert Toisen. Konnte man also von Bord aus deutlich[118] erkennen, was auf dem Lande vorging, so konnte man auch von da aus alles sehen, was auf dem Schiffe geschah.

Das verursachte Harry Markel natürlich eine sehr begründete Unruhe, eine Unruhe, die sich gelegt hätte, wenn das Schiff nur um eine viertel Seemeile weiter draußen verankert gewesen wäre. Jetzt konnte der Führer der Polizisten die drei Männer auf dem Deck mit dem Fernrohr wohl gut genug erkennen, und wenn das geschah, dann lagen die Folgen davon ja auf der Hand.

Der »Alert« konnte sich nicht von der Stelle bewegen und die steigende Flut trieb ihn, wenn's unglücklich ging, nur noch näher ans Land. Flüchteten sie in eines der Boote und versuchten sie, damit irgendwo ans Ufer zu kommen, so wären Harry Markel und seine Gefährten doch zweifellos abgefangen worden. So zeigten sie sich lieber überhaupt nicht, indem die einen sich im Volkslogis aufhielten und die andern – immer mit der Vorsicht, bei den Passagieren keinen Argwohn zu erregen – sich hinter der Schanzkleidung verbargen.

Doch wie hätten die jungen Leute überhaupt auf den Gedanken kommen können, daß sie den Flüchtlingen aus dem Gefängnisse in Queenstown in die Hände gefallen wären?

Tony Renault behauptete denn auch scherzend, es sei hier von gar keiner Razzia der Polizei die Rede.

»Die wackeren Konstabler sind nur hier hinausgeschickt worden, um sich zu überzeugen, ob der ›Alert‹ habe in See stecken können, und um dann unsere Familien davon zu unterrichten.

– Du machst noch Witze darüber? antwortete John Howard, der die Sache weit ernster nahm.

– O nein, John, gewiß nicht! Wir wollen doch den Kapitän Paxton darum fragen.«

Alle begaben sich darauf nach dem Vorderdeck des Schiffes.

Harry Markel, John Carpenter und Corty sahen sie nicht ohne unbehagliches Gefühl herantreten. Konnte man ihnen befehlen, in der Deckhütte zu bleiben – warum das?... Und etwa ihre Fragen unbeantwortet lassen... ja warum?

Da ergriff Louis Clodion schon das Wort.

»Sehen Sie dort auf der Uferhöhe den Trupp Leute, Herr Kapitän Paxton?[119]

– Jawohl, bestätigte Harry Markel, ich begreife nur nicht, was sie da zu suchen haben.

– Und sieht es nicht aus, als ob sie gerade den ›Alert‹ beobachteten? ließ sich Albertus Leuwen vernehmen.

– Den ›Alert‹ nicht mehr als die anderen Schiffe, erwiderte John Carpenter.

– Doch sind das nicht Konstabler? fragte Roger Hinsdale.

– Ja, das glaub' ich auch, sagte Harry Markel ruhig.

– Sollten sie in der Aufsuchung von Verbrechern begriffen sein? setzte Louis Clodion hinzu.

– Von Verbrechern? entfuhr es dem Obersteuermanne.

– Jawohl, fuhr Louis Clodion fort. Haben Sie denn nicht davon gehört, daß die Seeräuberrotte vom Halifax, die man auf dem Großen Ozean gefangen hatte, nach Irland, und zwar nach Queenstown, geschafft worden war, um hier abgeurteilt zu werden, und daß es den Burschen gelungen ist, aus dem Gefängnisse zu entweichen?

– Davon wissen wir nichts, versicherte John Carpenter im natürlichsten und gleichgültigsten Tone.

– Nun wir, bemerkte dazu Hubert Perkins, wir haben bei unserer vorgestrigen Ankunft und seit wir das Paketboot verließen, fast von nichts anderem sprechen hören.

– Das kann wohl sein, fiel jetzt Harry Markel ein, wir aber, wir haben weder gestern noch vorgestern das Schiff auch nur einen Augenblick verlassen und deshalb von dieser Neuigkeit nichts erfahren.

– Es kann Ihnen aber doch nicht unbekannt geblieben sein, fragte Louis Clodion weiter, daß die gesamte Mannschaft des ›Halifax‹ nach Europa gebracht worden war?

– Nein, gewiß nicht, gab John Carpenter zu, der nicht ununterrichteter als gerade nötig erscheinen wollte. Freilich wußten wir noch nicht, daß jene Leute aus dem Gefängnisse in Queenstown geflüchtet waren.

– Und doch ist das eine Tatsache, versicherte Roger Hinsdale,... gerade am Vortage, wo sie abgeurteilt...

– Und verurteilt werden sollten! rief Tony Renault. Hoffentlich entdeckt die Polizei aber baldigst ihre Fährte...


Es war der »Jemmapes«. (S. 126.)
Es war der »Jemmapes«. (S. 126.)

– Und hoffentlich, setzte Louis Clodion hinzu, erhalten sie dann die ihren abscheulichen Untaten entsprechende Strafe![120]

– Ja ja, da haben Sie recht!« begnügte sich Harry Markel zu antworten.

Die Befürchtungen, die auf Harry Markel und seinen Gefährten lasteten, sollten übrigens bald ein Ende nehmen. Nach einviertelstündigem Aufenthalt am Rande der Uferhöhe zogen die Polizisten in südwestlicher Richtung an der Küste weiter. Bald waren alle verschwunden und Corty murmelte tief aufatmend:

»Endlich!... Ich war auch nahe daran, zu ersticken!

– Einverstanden, stimmte John Carpenter ein, doch wenn die Konstabler gekommen waren, so war doch der Wind noch immer beim Teufel zum Besuch geblieben, und wenn er sich nicht einstellt, ehe es dunkel wird, so müssen wir um jeden Preis von hier fort.

– Das wird auch geschehen, nicht wahr, Harry? fragte Corty. Unsere Boote nehmen den ›Alert‹ ins Schlepptau, die Passagiere werden es nicht abschlagen, sich an die Ruder zu setzen, um uns zu unterstützen...

– Gut, erklärte der Obersteuermann; hat uns der Ebbestrom erst drei bis vier Meilen vom Ufer weggetragen, dann sind wir ja nicht mehr so sehr gefährdet wie hier...

– Und, schloß Corty das Gespräch, wir können ausführen, was uns noch zu tun bleibt.«

In diesem Augenblicke ließ sich ein Aufschrei vernehmen, der von einem der jungen Leute herrührte. Über die Reling gebeugt, zeigten dieser und seine Kameraden nach einem Gegenstande, der drei Kabellängen weit vom Schiff schwamm.

»Herr Gott... ein toter Mensch!« rief Horatio Patterson.

Er hätte auch sagen können, ein ertrunkener Mensch, der durch ein großes Messer schwer verwundet worden war, bevor er ins Meer fiel, und dessen Kleidung sich noch jetzt vom Blute gerötet zeigte.

Es war der Leichnam eines der am vorgestrigen Abend an Bord des »Alert« ermordeten Matrosen, der jetzt einmal nach der Oberfläche auftauchte, bald aber wieder in die Tiefe des Meeres versinken mußte.[123]

Quelle:
Jules Verne: Reisestipendien. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXXXIII–LXXXIV, Wien, Pest, Leipzig 1904, S. 108-113,115-121,123-124.
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