Siebentes Capitel.
Zwei Tage Seefahrt.

[82] Wenn es die Umstände erheischen, muß ich dem Grafen d'Artigas doch vielleicht zugestehen, daß ich der Ingenieur Simon Hart bin. Wer weiß, ob man mir dann nicht mehr Rücksicht erweist, als wenn ich der Wärter Gaydon bleibe. Das will jedoch überlegt sein. Noch immer beherrscht mich der Gedanke, daß der Eigenthümer der »Ebba«, als er den französischen Erfinder entführen ließ, das in der Absicht that, sich dessen Geheimniß anzueignen und der einzige Besitzer des Fulgurator Roch zu werden, für den weder die Alte, noch die Neue Welt den ungeheuern, widersinnigen Preis anlegen wollte, der dafür verlangt wurde. Im Fall sich Thomas Roch nun doch einmal verrathen sollte, wäre es freilich besser, wenn ich noch immer um ihn sein könnte, mir meine früheren Obliegenheiten verblieben und ich mit der Fürsorge betraut wäre, die sein Zustand erforderte. Ja, ich muß nur die Möglichkeit erhalten, alles zu sehen, alles zu hören... wer weiß es vorher?... vielleicht endlich zu erfahren, was mir im Healthful-House zu wissen versagt blieb.

Wohin steuert nun die Goelette?

Wer ist im Grunde dieser Graf d'Artigas?

Die erste Frage wird ohne Zweifel in wenigen Tagen entschieden sein, bei der Schnelligkeit, mit der diese Lustjacht unter der Wirkung eines Antriebsmechanismus dahinfährt, dessen Natur ich schon noch erkennen werde.

Was die zweite Frage angeht, ist es minder gewiß, ob ich sie je werde aufhellen können.

Meiner Ansicht nach muß dieser räthselhafte Mann ein schwerwiegendes Interesse daran haben, seine Herkunft zu verschleiern, und ich fürchte, es wird mich kein Zeichen darauf führen, seine Nationalität festzustellen. Wenn der Graf d'Artigas geläufig englisch spricht – wovon ich mich bei seinem Besuche im Pavillon Nummer siebzehn ja überzeugen konnte – so klingt dabei doch ein rauher, vibrierender Tonfall hindurch, der den nordischen Völkern nicht eigen ist. Das erinnert mich an nichts von Allem, was ich auf meinen Reisen durch[82] beide Welten gehört habe, höchstens an die charakteristische Härte der Sprachen im Malaien-Archipel. Und wirklich, bei seinem warmen, fast olivenfarbigen Teint, der ins Kupferfarbne hinüberspielt, dem gekräuselten, ebenholzschwarzen Haar, dem aus tiefem Augapfel kommenden Blicke, der einem Wurfspieße ähnlich aus unbeweglicher Pupille hervorschießt, bei seinem hohen Wuchs, den eckigen Schultern und seiner ausgesprochen muskulösen Gestalt, die auf große Körperkräfte schließen läßt, wäre es nicht unmöglich, daß der Graf d'Artigas einer jener Rassen des äußersten Ostens angehörte.

Mir gilt der Name d'Artigas nur als ein angenommener, und mit dem Titel eines Grafen wird es nicht anders sein. Wenn seine Goelette einen norwegischen Namen führt, so ist er doch unbedingt nicht von skandinavischer Abstammung. Er hat von den Leuten aus dem Norden Europas nichts an sich, weder ihren ruhigen Gesichtsausdruck und ihr blondes Haar, noch den sanften Blick, der aus ihren mattblauen Augen leuchtet.

Doch wer er auch sei, dieser Mann hat Thomas Roch – und mich mit – aufheben lassen, und er kann dabei nur in verbrecherischer Absicht gehandelt haben.

Hat er aber nun zu Gunsten einer fremden Macht oder nur im eignen Interesse gehandelt?... Hat er allein aus der Erfindung Thomas Roch's Nutzen ziehen wollen?... Das ist eine dritte Frage, auf die ich noch nicht zu antworten vermag. Doch wer weiß, ob ich diese, nach Allem, was ich in der Folge sehen und hören werde, nicht zu lösen im Stande bin, ehe ich entfliehen kann, vorausgesetzt, daß mir eine Flucht je möglich wird...

Die »Ebba« setzt in der uns bekannten unerklärlichen Weise ihre Fahrt weiter fort. Ich kann auf dem Verdeck ungehindert umher gehen, ohne aber jemals nach den Mannschaftsräumen eindringen zu dürfen, deren Treppenkappe vor dem Fockmast aufragt.

Zwei- oder dreimal wollte ich zwar bis nach dem Lager des Bugsprits vordringen, von wo aus ich, mich vorbeugend, den Vordersteven der Goelette hätte die Wogen zertheilen sehen können. Offenbar auf erhaltenen Befehl widersetzten sich die Matrosen der Wache aber allemal meinem Vorhaben und einer davon sagte mir in heftigem Tone und rauhem Englisch:

»Zurück!... Zurück!... Sie sind hier im Wege!«

Im Wege?... Inwiefern denn?... Ich sehe doch niemand irgendwie beschäftigt.[83]

Sollte man durchschaut haben, daß es mir daran lag, zu erkennen, in welcher Weise die Goelette ihren Antrieb erhielt?... Das wäre möglich, und der Kapitän Spade, der Zeuge jenes Zwischenfalls war, hat wohl errathen müssen, daß ich mir über diese Art der Navigation Rechenschaft zu geben suchte. Selbst der einfachste Krankenhauswärter hätte ja erstaunt sein müssen, daß ein Fahrzeug ohne Segel und ohne Schraube eine solche Geschwindigkeit entwickelte. Kurz, aus einem oder dem andern Grunde wurde mir das Betreten des vordersten Theiles der »Ebba« verwehrt.

Gegen zehn Uhr springt etwas Wind auf, eine recht günstige Brise aus Nordwest, und der Kapitän Spade ertheilt dem Obersteuermann Effrondat seine Anordnungen.

Dieser läßt unverzüglich das Gaffelsegel und die Fock- und Klüversegel beisetzen. Auch auf einem Kriegsschiffe wäre dieses Manöver nicht regelrechter und unter bessrer Disciplin ausgeführt worden.

Die »Ebba« neigt sich ein wenig über Steuerbord und ihre Fahrgeschwindigkeit nimmt weiter zu. Der Motor arbeitet indessen weiter, denn die Segel spannen sich nicht so prall, wie es hätte der Fall sein müssen, wenn die Goelette von ihnen allein fortgetrieben worden wäre. Immerhin nützen sie merklich bei der Brise, die jetzt noch mehr aufgefrischt ist.

Der Himmel sieht schön aus; aus West heranziehende Wolken zerstreuen sich, sobald sie höher nach dem Zenith emporsteigen, und das Meer erglänzt vom Widerschein der Sonnenstrahlen.

Mich verlangt es nun, so genau wie möglich den Curs zu verfolgen, den wir einhalten. Ich bin genug auf dem Meere gefahren, um die Schnelligkeit eines Schiffes abschätzen zu können, und meiner Ansicht nach liegt die der »Ebba« jetzt zwischen elf bis zwölf Seemeilen. Die Richtung bleibt immer die nämliche, davon kann ich mich leicht überzeugen, indem ich näher an das Compaßhäuschen vor dem Manne am Steuer herantrete. Wenn das Vordertheil der »Ebba« dem Wärter Gaydon versperrt bleibt, so ist das doch mit dem Hintertheil nicht der Fall. Sehr häufig habe ich einen flüchtigen Blick auf die Scheibe der Boussole werfen können, die unabänderlich nach Osten oder genauer nach Ost-südost weist.

Unter solchen Verhältnissen segeln wir also über diesen Theil des Atlantischen Oceans, der nach Westen hin von der Küste der Vereinigten Staaten begrenzt ist.[84]

Ich nehme meine Erinnerungen zusammen. Welches sind die Inseln oder Inselgruppen, die in dieser Richtung vor den Ländern der Alten Welt vorkommen?

Nordcarolina, das die Goelette vor achtundvierzig Stunden verlassen hat, wird vom fünfunddreißigsten Breitengrade durchschnitten und dieser Breitengrad muß in seiner Fortsetzung nach Osten wenn ich nicht ganz irre, die afrikanische Küste, etwa in der Höhe von Marokko treffen. In dieser Linie liegt aber die Gruppe der Azoren, gegen dreitausend Seemeilen von Amerika entfernt. Wäre es anzunehmen, daß die »Ebba« diesen Archipel anlaufen wollte, daß ihr Heimathafen auf einer der Inseln läge, die ein Besitzthum Portugals sind?... Nein, diese Hypothese ist auszuschließen.

Vor den Azoren befindet sich übrigens, in der Linie des fünfunddreißigsten Breitengrades und in der Entfernung von nur zwölfhundert Seemeilen, die Gruppe der Bermudas. Sie gehören England, und es erscheint mir recht annehmbar, daß der Graf d'Artigas, wenn er im Auftrage einer europäischen Macht gehandelt hat, das in dem des Vereinigten Königreichs von Großbritannien und Irland that. Freilich bleibt immer noch der Fall übrig, daß er bei der Sache nur sein eignes Interesse im Auge hatte.

Im Laufe dieses Tages nahm der Graf d'Artigas drei- oder viermal auf dem Hintertheile Platz. Von dort aus schien sein Auge scharf verschiedne Punkte des Horizonts abzusuchen. Wenn ein Segel oder eine Rauchsäule auf hohem Meere sichtbar wurde, betrachtete er sie lange mit Hilfe eines großen Marinefernrohrs. Ich füge hier hinzu, daß er sich nicht dazu herabgelassen hat, meine Anwesenheit auf dem Verdeck zu bemerken.

Von Zeit zu Zeit tritt der Kapitän Spade an ihn heran und Beide wechseln dann einige Worte in einer Sprache, die ich nicht verstehen und nicht einmal erkennen kann.

Mit dem Ingenieur Serkö, der bei dem Eigenthümer der »Ebba« einen großen Stein im Brette haben muß, unterhält er sich offenbar am liebsten. Zu welchem Zwecke befindet sich aber dieser Ingenieur, der sprachseliger, weniger mürrisch und nicht so verschlossen ist, wie alle Uebrigen, überhaupt hier auf der Goelette?... Ist es ein besondrer Freund des Grafen d'Artigas?... Schweift er mit ihm über die Meere und theilt er mit ihm das beneidenswerthe Leben eines reichen Jachtbesitzers? In Wahrheit ist dieser Mann der Einzige, der mir, wenn auch nicht gerade Theilnahme, doch einiges Interesse entgegen zu bringen scheint.[85]

Thomas Roch hab' ich den ganzen Vormittag über nicht zu Gesicht bekommen. Jedenfalls ist er in Folge des Anfalls vom Vorabende, der noch nicht ganz verlaufen sein wird, in seiner Cabine eingeschlossen.

Darüber erhalte ich sogar Gewißheit, als mir gegen drei Uhr nachmittags der Graf d'Artigas, der schon die Treppe hinunter gehen wollte, ein Zeichen gab, zu ihm zu kommen.

Ich weiß zwar nicht, was dieser Graf d'Artigas von mir will, dagegen weiß ich sehr gut, was ich ihm sagen werde.

»Dauern die Anfälle, denen Thomas Roch zuweilen unterliegt, gewöhnlich lange an? fragt er mich.

– Zuweilen achtundvierzig Stunden, lautet meine Antwort.

– Und was ist dabei zu thun?...

– O, kaum etwas andres, als ihn in Ruhe zu lassen, bis er einschläft. Nach einer Nacht ungestörten Schlummers ist der Anfall beendet und Thomas Roch verfällt wieder seiner gewohnten halben Bewußtlosigkeit.

– Gut, Wärter Gaydon; Sie werden ihm auch, wenn es nöthig ist, ganz wie im Healthsul-House Ihre Pflege angedeihen lassen.

– Meine Pflege...?

– Ja, an Bord der Goelette... zunächst bis wir angekommen sind.

– Wo...?

– Da, wo wir morgen im Laufe des Nachmittags sein werden,« begnügt sich der Graf d'Artigas zu antworten.

Morgen?... deul' ich für mich. Es handelt sich also nicht darum, bis zur afrikanischen Küste, ja nicht einmal bis zu den Azoren zu gehen?... Da bliebe also nur die Vermuthung übrig, daß die »Ebba« bei einer der Bermudas-Inseln anlegen wollte.

Schon setzt der Graf d'Artigas den Fuß auf die erste Stufe der Cajütentreppe, da rede ich ihn nun selbst an.

»Herr Graf, sage ich, ich möchte wohl wissen... ja, ich habe ein Recht darauf, zu wissen, wohin ich komme... und...

– Hier, Wärter Gaydon, haben Sie gar keine Rechte und haben nur zu antworten, wenn man Sie fragt.

– Ich protestiere...

– Protestieren Sie nur!« erwidert mir die befehlerische, hochmüthige Persönlichkeit und wirft mir nur einen grimmigen Blick zu.[86]

Während er nun unter der Treppenkappe verschwindet, läßt er mich bei dem Ingenieur Serkö stehen.

»An Ihrer Stelle, Gaydon, würd' ich mich ins Unvermeidliche fügen, sagt dieser lächelnd. Wenn man einmal zwischen Zahnrädern steckt...

– So darf man doch schreien, vermuth' ich...

– Wozu, wenn niemand in der Nähe ist, Sie zu hören?...

– Man wird mich später hören, Herr Ingenieur!

– Später?... O, das liegt in weiter Ferne!... Uebrigens rufen, schreien Sie nur, soviel es Ihnen beliebt!«

Mit diesem ironischen Rathschlage überläßt mich der Ingenieur Serkö meinen Gedanken.

Es war vier Uhr, als ein großes Schiff sechs Seemeilen im Osten gemeldet wurde, das fast gerade auf uns zukam. Es bewegt sich schnell vorwärts und nimmt zusehends an Größe zu. Aus seinen zwei Schornsteinen steigen schwarze Rauchwirbel empor. Es ist ein Kriegsschiff, denn es flattert ein langer Wimpel am Top seines Großmastes, und obgleich es an der Spitze der Gaffel keine Flagge trägt, glaub' ich darin doch einen Kreuzer der Bundesflotte zu erkennen.

Ich frage mich, ob ihm die »Ebba« den herkömmlichen Salut erweisen wird, wenn sie ihm gegenüber segelt.

Nein, eben jetzt fällt die Goelette um ein Viertel ab, offenbar in der Absicht, sich von dem andern Schiffe zu entfernen.

Dieses Manöver setzt mich bei einer so verdächtigen Jacht nicht in Erstaunen. Was mich aber hoch überrascht, ist die Art und Weise, wie der Kapitän Spade manövriert.

Nachdem er sich auf das Vordertheil nahe der Winde begeben hatte, bleibt er vor einem kleinen Signalapparate stehen, der etwa denen gleicht, die für Uebermittlung von Befehlen nach dem Maschinenraum gebräuchlich sind. Als er nur auf einen Knopf dieses Apparates gedrückt hatte, fiel die »Ebba um ein Viertel nach Südost ab, während einige von der Mannschaft die Schoten der Segel langsam nachschießen ließen.

Offenbar ist dem Führer der – oder »irgend welcher« – Maschine »irgend ein« Befehl zugegangen, der der Goelette unter der Wirkung »irgend eines« Motors diese unerklärliche Cursabweichung aufnöthigt.

Als nächste Folge dieses Manövers entfernt sich die »Ebba« in schräger Richtung von dem Kreuzer, der seine bisherige Richtung beibehalten hat. Welche[87] Ursache hätte ein Kriegsschiff aber, eine Lustjacht, die doch keinerlei Verdacht erwecken konnte, aus ihrem Curs abzudrängen?

Ganz anders gestaltet sich aber das Verhalten der »Ebba«, als gegen sechs Uhr abends ein andres Schiff durch die Krahnbalken des Backbords sichtbar wird. Jetzt nimmt der Kapitän Spade, statt ihm auszuweichen, und nach Ertheilung eines weitern Befehls – so erscheint es mir – durch den genannten Apparat, wieder die frühere Richtung nach Osten, was ihn in das Fahrwasser jenes Schiffes bringen muß.

Eine Stunde später liegen die beiden Fahrzeuge, durch eine Wasserstrecke von drei bis vier Seemeilen getrennt, einander längsseitig gegenüber.

Der Wind hat sich jetzt vollständig gelegt. Das für lange Fahrt gebaute andre Schiff, ein dreimastiges Handelsfahrzeug, ist damit beschäftigt, seine obern Segel einzuziehen. Auf ein Wiedererwachen des Windes vor Anbruch des nächsten Tages ist nicht zu rechnen, und morgen muß der Dreimaster bei diesem ruhigen Meere jedenfalls noch an seiner Stelle liegen. Die von ihrem geheimnißvollen Mechanismus angetriebene »Ebba« nähert sich jenem weiter.

Selbstverständlich hat der Kapitän Spade das Einziehen der Segel angeordnet und das geschieht unter Leitung des Obersteuermanns Effrondat mit der Schnelligkeit, die man an Bord von Lustjachten oft mit Bewunderung beobachtet.

Als es anfängt, Nacht zu werden, befinden sich die beiden Fahrzeuge nur noch etwa anderthalb Meilen von einander entfernt.

Da wendet sich der Kapitän Spade mir zu, tritt am Steuerbord an mich heran und veranlaßt mich ohne viele Umstände, nach meiner Cabine hinunter zu gehen.


Der Kapitän Spade hat das Einziehen der Segel angeordnet. (S. 88.)
Der Kapitän Spade hat das Einziehen der Segel angeordnet. (S. 88.)

Mir bleibt nichts übrig, als zu gehorchen. Bevor ich jedoch das Verdeck verlasse, bemerke ich, daß der Obersteuermann die Positionslichter nicht anzünden läßt, obwohl die des Dreimasters – ein grünes an Steuerbord und ein rothes an Backbord – bereits brennen.

Ich hege keinen Zweifel, daß die Goelette im Fahrwasser jenes Schiffes unbemerkt vorüberzukommen beabsichtigt.

Ihre Fahrt hat sie, ohne Veränderung der Richtung, etwas verlangsamt.

Ich glaube, daß die »Ebba« seit gestern um zweihundert Seemeilen weiter nach Osten zu gelangt ist.

Meine Cabine hab' ich unter dem Eindruck eines unklaren Vorgefühls betreten. Mein Abendessen steht auf dem Tische, doch beunruhigt – ich weißnicht wodurch – rühr' ich es kaum an, sondern strecke mich nieder zum Schlafe, der sich heute gar nicht einstellen will.

Dieser unbehagliche Zustand dauert zwei Stunden an. Die Ruhe wird durch nichts gestört, als durch das leise Erzittern der Goelette, das Murmeln des Wassers, das an ihren Seitenwänden hinstreicht, und gelegentlich durch leichte Stöße, wenn sie auf dem friedlichen Meere vorn auf und ab schwankt.

Mein Gehirn aber, das von der Erinnerung an Alles, was sich in den letzten beiden Tagen ereignet hat, erfüllt ist, kann sich nicht beruhigen. Morgen im Laufe des Nachmittags sollen wir unser Ziel erreicht haben... morgen soll ich meine Wärterstellung bei Thomas Roch auf festem Lande wieder einnehmen, »wenn es nöthig ist,« hat der Graf d'Artigas gesagt.

Wenn ich, als man mich im Grunde des Schiffsraums eingesperrt hatte, das erste Mal bemerkte, daß die Goelette sich über den Pamplicosund hin in Bewegung setzte, so fühl' ich in diesem Augenblick – es mag ungefähr zehn Uhr abends sein – daß sie eben angehalten hat.

Wozu dieses Verweilen?... Als mir der Kapitän Spade befahl, das Verdeck zu verlassen, hatten wir kein Land in Sicht. In dieser Richtung verzeichnen die Karten nur die Bermudas-Inseln, und als es finster wurde, hätten wir wenigstens fünfzig bis sechzig Seemeilen weiter sein müssen, wenn die Wachen sie hätten sollen signalisieren können.

Uebrigens ist nicht nur die Fahrt der »Ebba« unterbrochen, sie liegt vielmehr fast vollständig still. Kaum macht sich ein leises und sehr gleichmäßiges Wiegen von einem Bord zum andern fühlbar. Die Dünung muß sehr schwach sein und kein Windhauch streicht über das weite Meer.

Meine Gedanken schweifen nun nach dem Handelsschiffe hinüber, das anderthalb Meilen von uns lag, als ich in meine Cabine zurückkehrte. Wenn die Goelette weiter darauf zugesteuert ist, muß sie es nun erreicht haben, und jetzt, wo sie auf einer Stelle hält, können die beiden Fahrzeuge nicht mehr als eine oder zwei Kabellängen von einander entfernt liegen. Der Dreimaster, den schon mit Sonnenuntergang die Windstille überraschte, kann nicht nach Westen abgetrieben sein. Nein, er ist noch an derselben Stelle, und wenn die Nacht klar wäre, würde ich ihn durch die Lichtpforte sehen können.

Dabei fällt mir ein, daß sich hier vielleicht eine Gelegenheit böte, die ich auszunützen vermöchte. Warum sollte ich nicht versuchen zu entfliehen, da mir jede Hoffnung auf Wiedererlangung meiner Freiheit abgeschnitten erscheint?[91]

Schwimmen kann ich freilich nicht; doch wenn ich mich mit einer der Rettungsbojen der Goelette ins Meer stürze, sollte es mir unmöglich sein, den Dreimaster zu erreichen, wenn es nur gelingt, die Wachsamkeit der Matrosen auf dem Vorderdeck zu täuschen?

Zuerst würde es sich also darum handeln, meine Cabine zu verlassen, die Treppenleiter hinaufzuklimmen. Ich höre kein Geräusch im Schlafraume der Mannschaft von der »Ebba«... jedenfalls schlafen jetzt die Leute... also, frisch gewagt!

Im Begriff, die Thür zu öffnen, finde ich aber, daß sie von außen verriegelt ist, und das war ja wohl zu erwarten.

Ich muß also meinen Plan aufgeben, der übrigens ebensoviel Aussichten für sich wie gegen sich hatte.

Das beste wär' es, zu schlafen, denn wenn auch nicht körperlich, bin ich doch geistig sehr abgespannt. Fortwährend von Anfechtungen, von einander widersprechenden Gedanken heimgesucht, wär' es schön, im Schlafe alles vergessen zu können...

Ich muß wohl eingeschlummert sein, denn ich erwache eben durch ein Geräusch... ein ungewöhnliches Geräusch, das ich an Bord der Goelette bisher noch nicht vernommen habe.

Schon begann der Tag die Glasscheibe meiner nach Osten zu liegenden Lichtpforte etwas zu erhellen. Ich sehe nach der Uhr; sie zeigt auf halb fünf Uhr früh.

Meine erste Sorge ist es, mich zu fragen, ob die »Ebba« ihre Fahrt wieder aufgenommen hat.

Nein, jedenfalls nicht... weder mit ihren Segeln, noch mit ihrem Motor. Dennoch machen sich gewisse Stöße bemerkbar, worüber ich mich nicht täuschen kann. Obendrein scheint das Meer jetzt vor Sonnenaufgang noch so ruhig zu sein, wie am Abend vorher. Wäre die »Ebba« auch in den Stunden, wo ich schlief, weiter gefahren, so liegt sie jetzt wenigstens wieder still.

Das Geräusch, wovon ich spreche, rührt vom Hin- und Herlaufen von Menschen her, die schwere Lasten zu tragen scheinen. Gleichzeitig macht sich der nämliche Lärm im Schiffsraume unter dem Fußboden meiner Cabine bemerkbar, zu dem die große Luke hinter dem Fockmast den Eingang bildet. Ich überzeuge mich auch, daß die Goelette äußerlich längs ihrer Flanken an dem die Schwimmlinie überragenden Theile ihres Rumpfes von irgend etwas gestreift wird.[92]

Vielleicht sind Boote an sie herangekommen und die Leute beschäftigt, Waaren zu löschen oder zu laden...

Und doch ist es gar nicht möglich, daß wir schon an unserm Bestimmungsorte wären. Der Graf d'Artigas hat gesagt, daß die »Ebba« dort erst nach vierundzwanzig Stunden eintreffen werde, und, ich wiederhole, gestern Abend befand sie sich noch fünfzig bis sechzig Seemeilen vor dem nächstgelegnen Lande, den Bermudas-Inseln. Daß sie nach Westen umgekehrt wäre und in der Nähe der amerikanischen Küste läge, ist ebenso unannehmbar, da die Entfernung bis dahin viel zu groß ist. Ferner hab' ich Ursache zu glauben, daß die Goelette die Nacht über an Ort und Stelle liegen geblieben ist. Vor dem Einschlafen hatt' ich mich überzeugt, daß sie anhielt, und in diesem Augenblicke weiß ich ebenso bestimmt, daß sie nicht in Fahrt ist.

Ich warte also, daß man mir gestatte, wieder zum Verdeck hinauf zu gehen. Meine Cabinenthür ist, wie ich finde, noch immer von außen verschlossen. Es ist jedoch kaum anzunehmen, daß man mich hindern werde, die Cabine zu verlassen, wenn es erst heller Tag ist.

So verrinnt eine Stunde. Das frühe Morgenlicht dringt durch das runde Fenster. Ich sehe hinaus. Ein leichter Nebel bedeckt das Meer, er muß sich aber in den ersten Sonnenstrahlen bald auflösen.

Da ich jedoch auf eine halbe Seemeile hinaus alles erkennen kann und doch den Dreimaster nicht sehe, muß das daran liegen, daß dieser sich backbord von der »Ebba« befindet, wohin ich keinen Ausblick habe.

Eben läßt sich ein knarrendes Geräusch hören; der Schlüssel dreht sich im Schlosse. Ich stoße an die Thür, die nun aufgeht, klettre die eiserne Leiter hinauf und betrete das Verdeck, als die Leute die Luke am Vordertheile gerade wieder schließen.

Ich suche nach dem Grafen d'Artigas. Er ist nicht da und hat seine Cabine wohl noch nicht verlassen.

Der Kapitän Spade und der Ingenieur Serkö überwachen die sichre Lagerung einiger Ballen, die jedenfalls aus dem Raume herausgeholt und nach dem Hinterdeck geschafft worden waren. Das würde das geräuschvolle Hin- und Hergehen erklären, das ich beim Erwachen hörte. Wenn die Mannschaft aber schon begonnen hat, Frachtstücke heraufzuschaffen, so müssen wir sehr bald am Ziele sein.

Wir befinden uns also nicht mehr weit von einem Hafen, und nach einigen Stunden wird die Goelette darin vor Anker gehen.[93]

Nun... und der Segler, der an der Backbordseite von uns lag?... Er muß noch an der nämlichen Stelle sein, da seit gestern Abend Windstille herrschte.

Meine Blicke fliegen nach dieser Richtung hinaus...

Der Dreimaster ist verschwunden, das Meer verlassen und überhaupt kein Schiff draußen auf hoher See, kein Segel am Horizonte, weder nach Norden, noch nach Süden hin zu sehen.

Ich überlege mir die Sache hin und her, dennoch kann ich mir davon schließlich nur eine, auch blos unter Vorbehalt annehmbare Erklärung geben. Die »Ebba« müßte nämlich während meines Schlafs ihre Fahrt wieder aufgenommen und den durch die Windstille an seine Stelle gebannten Dreimaster hinter sich gelassen haben, dann könnte er von der Goelette aus nicht mehr gesehen werden.

Uebrigens hüte ich mich weislich, den Kapitän Spade oder den Ingenieur Serkö hierüber zu fragen; sie würdigten mich doch keiner Antwort.

Gerade jetzt begiebt sich der Kapitän Spade nach dem Signalapparate und drückt auf einen der Knöpfe der obern Platte. Fast sofort erhält die »Ebba« einen stärkern Antrieb und nimmt, bei noch immer eingebundnen Segeln, ihre gewöhnliche Geschwindigkeit wieder an, wobei sie immer den Curs nach Osten einhält.

Zwei Stunden später wird der Graf d'Artigas in der Treppenkappe der Cajüte sichtbar und begiebt sich nach seinem gewohnten Platze in der Nähe des Hackbords. Der Ingenieur Serkö und der Kapitän Spade beginnen mit ihm ein leise geführtes Gespräch.

Alle drei nehmen die Marinefernrohre vor die Augen und suchen den Horizont von Südost bis Nordost ab.

Natürlich richten sich meine Blicke ebenfalls dahin, da ich aber kein Fernrohr habe, kann ich nichts sehen.

Nach dem Mittagsessen sind wir alle wieder auf dem Verdeck, mit Ausnahme Thomas Roch's, der seine Cabine noch nicht verlassen hat.

Gegen halb zwei Uhr wird von einer der auf dem Kreuzholze des Fockmasts auslugenden Wachen Land in Sicht gemeldet. Da die »Ebba« mit außerordentlicher Schnelligkeit dahintreibt, muß auch ich bald die ersten Linien einer Küste auftauchen sehen.

Zwei Stunden später erhebt sich in der That die gegen acht Seemeilen lange Silhouette eines Landes. Mit der Annäherung der Goelette treten seine[94] Umrisse immer schärfer hervor. Es sind die eines Berges oder wenigstens eines hoch aufragenden Landes. Ueber dem Gipfel desselben schwebt eine Rauchwolke, die langsam zum Himmel aufsteigt.

Ein Vulcan in dieser Gegend?... Dann wäre das doch...

Quelle:
Jules Verne: Vor der Flagge des Vaterlands. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXIX, Wien, Pest, Leipzig 1897, S. 82-89,91-95.
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