Neuntes Capitel.
Im Innern.

[108] Am nächsten Tage hab' ich, ohne von jemand in meinen Bewegungen gehindert zu werden, eine erste Besichtigung der Höhle in Back-Cup vornehmen können.

Doch welche Nacht hatte ich unter der Herrschaft fremdartiger Visionen verbracht und mit welcher Ungeduld den Tag herbeigesehnt!

Ich war tief in eine Grotte hineingeführt worden, die sich etwa hundert Schritte von der Uferstelle befand, wo der Tug angehalten hatte. Nach dieser zehn und zwölf Fuß in der Länge und Breite messenden und durch eine Glühlampe erhellten Grotte gelangte man durch eine Thür, die hinter mir verschlossen wurde.

Es war mir nicht erstaunlich, im Höhleninnern die Elektricität zur Beleuchtung verwendet zu sehen, da sie ja als Triebkraft für den unterseeischen Schlepper diente. Doch wo wurde sie erzeugt? Woher kam sie? Befand sich im Innern dieser ungeheuern Aushöhlung eine Anlage mit den nöthigen Maschinen, Dynamos und Accumulatoren?...[108]

Meine Zelle enthält einen Tisch, worauf Nahrungsmittel für mich stehen, ferner ein Bettgestell mit Bettzeug, einen Rohrlehnstuhl und einen Schrank mit Leibwäsche und Kleidungsstücken zum Wechseln. Im Schubkasten des Tisches befinden sich Papier, Tintenfaß und Federn. In der rechten Ecke steht ein Waschtisch mit den gewöhnlichen Geräthschaften. Alles ist sehr sauber.

Meine erste Mahlzeit besteht aus frischem Fleisch, conserviertem Fleisch und gutem Brot, nebst Ale und Whisky. Ich habe davon kaum etwas über die Lippen gebracht, so erschöpft fühlt' ich mich.

Und doch muß ich mich ermannen, muß die Ruhe des Kopfes und des Herzens wieder gewinnen und die Vernunft obendrein wachhalten. Ich will das Geheimniß dieser Handvoll Leute, die sich in den Eingeweiden des Eilandes verborgen halten, entdecken, und ich werde es entdecken...

Der Graf d'Artigas hat sich also unter dem Felsenpanzer von Back-Cup sozusagen eingerichtet. Die Höhle, die sonst kein Mensch kennt, dient ihm als gewöhnliche Wohnstätte, so lange die »Ebba« ihn nicht längs der Küste der Neuen Welt oder gar bis nach den Meeren der Alten Welt hinträgt. Hier ist der unbekannte Zufluchtsort, den er entdeckt hat und zu dem man durch einen unterseeischen Eingang gelangt, durch ein Wasserthor, das zwanzig bis dreißig Fuß unter der Meeresoberfläche liegen mag.

Warum hält er sich abseits von der übrigen Menschheit?... Was würde man aus der Vergangenheit dieses Mannes wohl lernen? – Wenn der Name d'Artigas und der Grafentitel, wie ich vermuthe, nur angenommen sind, welche Gründe mag er haben, seine Identität zu verschleiern? Ist es ein Verurtheilter, ein Verbannter, der dieses Exil jedem andern vorgezogen hätte?... Oder hab' ich nicht vielmehr mit einem Verbrecher in großem Stile zu thun, der Straflosigkeit für seine Schandthaten und Sicherheit vor gesetzlicher Verfolgung sucht, indem er sich in diese unentdeckbare unterirdische Höhle vergräbt?... Ich darf wohl Alles vermuthen, wenn es sich um den räthselhaften Fremdling handelt, und ich halte ihn auch für zu Allem fähig.

Da drängt sich mir wieder die Frage auf, für die ich noch keine genügende Beantwortung gefunden habe, nämlich die, weshalb eigentlich Thomas Roch unter den bekannten Umständen aus dem Healthful-House entführt worden sei. Hofft der Graf d'Artigas darauf, ihm sein Geheimniß bezüglich des Fulgurators zu entreißen und es vielleicht zur Vertheidigung von Back-Cup zu benutzen, wenn sein Versteck durch einen Zufall an den Tag käme?...[109]

In einem solchen Falle könnte man aber das Eiland, das der Tug allein nicht hinreichend zu verproviantieren vermöchte, einfach aushungern. Die Goelette andrerseits hätte gar keine Aussicht, eine etwaige Einschließung zu durchbrechen, und außerdem würde nach jedem Hafen über sie berichtet werden. Wozu könnte die Erfindung Thomas Roch's in den Händen des Grafen d'Artigas also nützen?... Das durchschaue ich nicht.

Gegen sieben Uhr morgens spring' ich aus dem Bett. Bin ich auch ein Gefangner innerhalb der Wände dieser Höhle, so bin ich doch nicht eingeschlossen in meiner Zelle. Nichts hindert mich, sie zu verlassen... ich trete hinaus...

Bis auf dreißig Meter vor mir dehnt sich ein felsiger Vorplatz aus, eine Art Kai, der sich nach rechts und nach links hin fortsetzt.

Mehrere Matrosen von der »Ebba« sind beschäftigt, Ballen auszuladen, den Frachtraum des Tug zu entleeren, der an einem kleinen Steindamm kaum über das Wasser hervorragend still liegt.

Eine Halbdämmerung, an die sich meine Augen nach und nach gewöhnen, erhellt die Höhlung, die im Mitteltheile ihrer Wölbung eine Oeffnung hat.

»Hier also, sag' ich mir, entweichen jene Dämpfe oder vielmehr die Rauchwolken, die uns das Eiland schon auf drei bis vier Seemeilen hin erkennbar machten.«

Gleichzeitig durchschwirrt mein Gehirn eine ganze logische Reihe von Erwägungen.

»Back-Cup ist also gar kein Vulcan, wie man angenommen hat und ich selbst geglaubt habe. Die Dampfmassen und Flammen, die hier vor mehreren Jahren beobachtet wurden, waren nur künstliche gewesen.

Das Donnergrollen, das die bermudischen Fischer in Furcht jagte, hatte keinen Aufruhr unterirdischer Kräfte als Ursache. Alle Erscheinungen waren nur gemachte!... Sie zeigten sich blos nach dem Belieben des Herrn dieses Eilands, dessen, der seine am Ufer siedelnden Bewohner vertrieben sehen wollte... Er hat seine Absicht erreicht... dieser Graf d'Artigas... er ist der einzige Beherrscher von Back-Cup geworden. Nur durch den Lärm der Detonationen, nur dadurch, daß er durch diesen falschen Krater den Rauch der Varecs und Sargassos abziehen ließ, die die Strömungen ihm zuführten, hat er den Glauben an das Vorhandensein eines Vulcans, an seine neu erwachte Thätigkeit und das nahe Bevorstehen eines Ausbruchs zu erwecken gewußt, zu dem es niemals gekommen ist!«[110]

So muß der ganze Hergang gewesen sein; thatsächlich hat auch Back-Cup seit dem Abzuge der bermudischen Fischer nie aufgehört, dicke Rauchwirbel über seinem Gipfel zu unterhalten.

Inzwischen wird es im Innern heller, das Tageslicht dringt desto mehr durch den falschen Krater ein, je höher die Sonne am Himmel emporsteigt. Es wird mir also möglich sein, die Raumverhältnisse dieser Höhle hinreichend genau abzuschätzen. Ich setze hier die Resultate her, zu denen ich dabei gekommen bin. Aeußerlich hat das fast kreisförmige Eiland Back-Cup einen Umfang von zwölfhundert Metern und bedeckt also eine Fläche von fünfzigtausend Quadratmetern oder fünf Hektaren. Seine Wände haben am untern Theile eine Dicke, die zwischen dreißig und hundert Metern schwanken mag.

Es folgt daraus, daß diese Höhle, nur unter Abzug der Wandstärke, die ganze Felsmasse von Back-Cup, so weit es aus dem Meer emporragt, durchsetzt. Was den unterseeischen Tunnel angeht, der die Verbindung mit der Außenwelt herstellt, so schätze ich seine Länge auf etwa vierzig Meter.

Die Zahlen ermöglichen es, sich eine Vorstellung von der Flächenausdehnung der Höhle zu bilden. So bedeutend sie aber auch sein mag, möchte ich daran erinnern, daß in der Alten und Neuen Welt noch weit größere vorkommen, die zum Theil auch sehr genau erforscht worden sind.

Thatsächlich finden sich in Krain, in Northumberland, Derbyshire, in Piemont, auf Morea und den Balearen, in Ungarn und in Californien Höhlen von einem Umfang, der den der Höhle auf Back-Cup weit übertrifft. Dasselbe gilt für die bei Han-sur-Lesse in Belgien, in den Vereinigten Staaten für die aus vielen Abtheilungen bestehende Mammuthöhle in Kentucky, die nicht weniger als zweihundertsechsundzwanzig Wölbungen, sieben Flüsse, acht Wasserfälle, zweiunddreißig Schächte von unerforschter Tiefe und ferner im Innern einen See von fünf bis sechs Lieues (drei bis dreieinhalb geogr. Meilen) Länge enthält und bis zu deren Ende die Forscher noch nicht einmal vorgedrungen sind.


Mehrere Matrosen von der »Ebba« sind beschäftigt, Ballen auszuladen. (S. 110.)
Mehrere Matrosen von der »Ebba« sind beschäftigt, Ballen auszuladen. (S. 110.)

Ich kenne diese Höhlenstadt Kentuckys, die ich, wie Tausende von Touristen, selbst besucht habe. Die Haupthöhle davon möge mir zum Vergleich mit Back-Cup dienen. In der Mammuthöhle wird die Wölbung wie hier von Pfeilern verschiedner Gestalt und Höhe getragen, die ihr das Aussehen einer gothischen Kathedrale mit Haupt- und Nebenschiffen, nebst Seitenkapellen geben, obwohl dem Ganzen die Regelmäßigkeit kirchlicher Bauwerke natürlich abgeht. Der einzige Unterschied ist der, daß die Decke der Höhlen von Kentucky dreihundert[111] Meter hoch liegt, während die auf Back-Cup nur hundert Meter und zwar an der Stelle erreicht, die von der Mittelöffnung durchbrochen ist, durch welche Rauch und Flammen abziehen.

Eine andre, erwähnenswerthe und sehr unterscheidende Eigenthümlichkeit liegt darin, daß die allermeisten Höhlen, deren Namen ich angeführt habe, leicht zugänglich sind und deshalb bald aufgefunden werden mußten.

So verhält es sich aber nicht mit Back-Cup. Auf den Seekarten dieser Gegend steht es wohl als ein zu den Bermudas gehöriges Eiland verzeichnet,[112] wer hätte aber ahnen sollen, daß sich eine so große Höhle im Innern des Felsblocks verberge? Um das zu wissen, mußte man hineindringen, und um hinein zu gelangen, mußte man über ein unterseeisches Fahrzeug verfügen, wie über den Schlepper, den der Graf d'Artigas besaß.


Bei meinem Vorüberkommen lassen sie mich ganz unbeachtet. (S. 116.)
Bei meinem Vorüberkommen lassen sie mich ganz unbeachtet. (S. 116.)

Die Besichtigung des Meerestheils, der bis ins Innre des Bergstocks hineinreicht, zeigt mir, daß er nur von recht beschränkter Größe ist und kaum dreihundert bis dreihundertfünfzig Meter Umfang haben mag. Eigentlich bildet er also nur eine, von senkrechten Felswänden umschlossne Lagune, die aber für[113] die Manöver des Tug völlig ausreicht, da ihre Tiefe, wie ich sagte, nicht unter vierzig Meter ist.

Selbstverständlich gehört diese Krypte, ihrer Lage und ihrem Aufbau nach, zu denen, die ihre Entstehung dem Einbruche des Seewassers verdanken. Gleichzeitig neptunischen und plutonischen Ursprungs sind die Höhlen von Croton und Morgate an der Bai von Douarnenez in Frankreich, von Bonifacio an der Küste von Corsica, die von Thorgatten an der norwegischen Küste, deren Höhe sogar auf fünfhundert Meter angegeben wird, und endlich die von Griechenland, die Grotten von Gibraltar in Spanien und von Touranne in Cochinchina. Alles in allem weist die Natur ihrer Wände darauf hin, daß sie das Erzeugniß einer zweifachen geologischen Thätigkeit sind.

Das Eiland Back-Cup besteht zum größten Theile aus Kalkstein. Vom Rande der Lagune aus steigen die Felsen erst in sanfter Neigung nach den Wänden zu an und lassen dazwischen Strecken von sehr feinkörnigem Sande, die da und dort von den bläulichen, starren und dichten Büscheln des Steinklees unterbrochen sind. Ferner finden sich hier große Ablagerungen von Tang und Sargasso, theils schon dürr, theils noch naß und dann den scharfen Geruch nach Seewasser aushauchend, den sie verbreiten, wenn die Strömung sie erst durch den Tunnel getrieben und dann an den Ufern der Lagune ausgeworfen hatte. Sie bilden übrigens nicht das einzige Brennmaterial, das für die vielfachen Zwecke auf Back-Cup Verwendung findet, denn ich bemerke auch einen mächtigen Vorrath von Steinkohle, der durch den Tug und die Goelette herangeschafft sein mag. Ich wiederhole aber, daß es die Einäscherung der Pflanzengebilde war, wovon der durch den Krater austretende Rauch früher und noch jetzt herrührte.

Bei der Fortsetzung meines Spaziergangs unterscheide ich auf der Nordseite von der Lagune Wohnstätten dieser Colonie von Troglodyten... nun ja, verdienen sie nicht diesen Namen? Der Theil der Höhle, der hier »Bee-Hive«, d. h. der »Bienenstock« genannt wird, rechtfertigt seinen Namen vollkommen. Da sind von Menschenhand nämlich mehrere Reihen tiefer Löcher in dem Kalkfelsen der Wände ausgescharrt, und darin wohnen diese menschlichen Wespen.

An der Ostseite zeigt sich die Anordnung der Höhle ganz anders. Hier streben, drehen, verzweigen sich Hunderte von natürlichen Pfeilern, die die Rippen der Wölbung stützen. Es ist ein wirklicher Wald von steinernen Bäumen der sich bis zu den äußersten Grenzen der Höhle ausdehnt. Durch die Pfeiler[114] verlaufen eine Menge vielfach gewundner Pfade, auf denen man bis zum Hintergrunde von Back-Cup gelangen kann.

Nach den Zellen von Bee-Hive zu urtheilen, muß sich die Zahl der Leute und Begleiter des Grafen d'Artigas auf achtzig bis hundert belaufen.

Vor einer, von den andern mehr getrennt liegenden Zelle steht der Graf, dem sich eben der Kapitän Spade und der Ingenieur Serkö zugesellt haben. Nach dem Austausch weniger Worte begeben sich alle drei nach dem Ufer hinunter und bleiben auf dem kleinen Hafendamm, neben dem der Tug liegt, stehen.

Eben jetzt befördern etwa ein Dutzend Leute, die die Waaren vorher aus dem Schlepper geholt hatten, diese in einem Boote nach der andern Seite der Lagune, wo breite, in der Seitenwand ausgehöhlte Vertiefungen die Lagerräume von Back-Cup bilden.

Die Mündung des Tunnels unter dem Wasser der Lagune ist nicht sichtbar. Ich habe ja auch beobachtet, daß der von seewärts kommende Schlepper, um hinein zu gelangen, sich mehrere Meter unter die Wasserfläche versenken mußte. Bei der Grotte von Back-Cup liegt es also nicht so, wie bei denen von Staffa oder Morgate, wo der Eingang, selbst bei Hochwasser, stets frei ist. Ob es noch einen andern Weg nach dem Uferlande, einen natürlichen oder künstlichen Gang giebt, das werd' ich auszuforschen suchen, denn es ist für mich von Wichtigkeit, darüber klar zu sein.

Das Back-Cup-Eiland verdient seinen Namen in der That. Es ist wirklich eine umgekehrte Tasse, und zwar nicht nur der äußern, sondern – was man noch nicht wußte – auch der innern Gestaltung nach.

Ich erwähnte bereits, daß Bee-Hive den Theil der Höhle einnimmt, der sich nördlich von der Lagune, das heißt von der Tunnelöffnung aus links befindet. An der entgegengesetzten Seite sind Magazine eingerichtet, worin Vorräthe aller Art, Waarenballen, Fässer mit Wein oder Branntwein, Biertonnen, Conservebüchsen und Colli mit dem verschiedensten Inhalt lagern, deren Signaturen ihre Herkunft von vielerlei Orten erkennen lassen. Man hätte sagen mögen, daß hier das Frachtgut von zwanzig Schiffen aufgestapelt wäre. Etwas weiterhin erhebt sich ein ziemlich bedeutendes Bauwerk, das von hoher Planke umgeben und dessen Bestimmung leicht genug zu erkennen ist. Von einem dasselbe überragenden Ständer laufen starke Kupferdrähte aus, die mit ihrem Strome die großen, von der Wölbung herabhängenden Bogenlampen speisen und auch die[115] Glühlampen in jeder Zelle des Bienenkorbs versorgen. Eine erkleckliche Menge solcher Beleuchtungskörper ist ferner zwischen den Pfeilern der Höhle angebracht und ermöglicht es, letztere bis zu ihrem tiefsten Hintergrund zu erhellen.

Jetzt leg' ich mir die Frage vor, ob man mich in Back-Cup frei umhergehen lassen werde. Ich hoffe es. Was hätte auch der Graf d'Artigas für einen Grund, meine Freiheit zu beschränken und mir das Durchstreifen seines geheimnißvollen Gebiets zu untersagen?... Ich bin ja doch innerhalb der Wände dieses Eilands eingeschlossen. Verlassen kann man es nur durch den Tunnel. Wie sollte man aber durch dieses stets geschlossne Wasserthor gelangen?...

Doch angenommen, ich hätte den Tunnel auf irgend eine Weise passieren können, so hätte mein Verschwinden ja sehr bald bemerkt werden müssen, der Tug hätte eine Anzahl Leute nach dem Ufergelände befördert, dieses wäre bis in seine verborgensten Schlupfwinkel durchsucht worden, und dabei hätte man mich wieder eingefangen, nach Bee-Hive zurückgebracht und diesmal mich sicherlich jeder Freiheit der Bewegung beraubt.

Ich muß also jeden Gedanken an eine Flucht zurückweisen, so lange sich mir wenigstens keine verläßliche Aussicht auf ein Gelingen derselben bietet. Findet sich aber zufällig eine günstige Gelegenheit, so werde ich sie mir nicht entgehen lassen.

Während ich so längs der Zellenreihen hinging, konnte ich mir auch einige der Leute des Grafen d'Artigas ansehen, die sich mit ihm zu dem einförmigen Leben in Back-Cup entschlossen haben. Ich wiederhole, daß deren Anzahl, nach der der Zellen beurtheilt, sich auf etwa hundert belaufen mag.

Bei meinem Vorüberkommen lassen sie mich ganz unbeachtet. Eine genauere Betrachtung verräth mir, daß sie aus allen Ecken und Winkeln der Erde herrühren dürften. Ich erkenne an ihnen kein Zeichen gemeinsamer Abstammung, nicht einmal allgemeine Spuren, die sie zu Nordamerikanern, Europäern oder zu Asiaten stempeln könnten. Ihre Hautfarbe wechselt von Weiß durch Kupferbraun bis zum Schwarz... doch eher zum Schwarz des Indischen Archipels, als zu dem Afrikas. In der Mehrzahl scheinen sie malaiischen Rassen anzugehören, denn dieser Typus tritt noch an den meisten hervor. Ich füge hinzu, daß der Graf d'Artigas unzweifelhaft jener Sonderrasse der niederländischen Inseln im Stillen Ocean entstammt, daß der Ingenieur Serkö Levantiner und der Kapitän Spade ein Abkömmling Spaniens oder des spanischen Amerikas ist.

Sind diese Bewohner Back-Cups aber auch nicht durch das Band gemeinsamen Rassenursprungs verbunden, so sind sie es doch ganz bestimmt durch das[116] gleicher Neigungen und Begierden. Welch entsetzliche Physiognomien, welch rohe Gesichter, welch wilde Typen! Es sind gewaltthätige Naturen, die ihre Leidenschaften nie zu zügeln wußten und die wohl vor keiner Greuelthat zurückschrecken. Und warum – dieser Gedanke kommt mir eben – sollten sie nicht infolge einer langen Reihe von Verbrechen, von Diebstählen, Brandstiftungen und gemeinsam ausgeführten Mordthaten darauf verfallen sein, sich in diese Höhle zu flüchten, wo sie einer unbedingten Straflosigkeit sicher sein dürften?... Der Graf d'Artigas wäre dann also nur das Haupt einer Verbrecherbande, deren zwei Lieutenants Spade und Serkö bildeten, und Back-Cup wäre der Schlupfwinkel von Seeräubern!...

Dieser Gedanke heftet sich immer fester in mein Gehirn ein, und ich würde sehr erstaunen, wenn die Zukunft zeigte, daß ich mich damit doch getäuscht hätte. Was ich übrigens bei Gelegenheit meines ersten Rundgangs wahrnehme, ist ganz geeignet, meine Ansicht zu stützen und die schlimmsten Voraussetzungen zu rechtfertigen.

Doch wer die Leute auch sein und welche Umstände sie hier zusammengeführt haben mögen, auf jeden Fall erkennt man, daß die Genossen des Grafen sich seiner Oberherrschaft rückhaltlos unterworfen haben. Hält sie aber eine strenge Disciplin unter seiner eisernen Hand, so ist als Ausgleichung wahrscheinlich anzunehmen, daß dieser Art der Sklaverei, die sie auf sich genommen haben, auch gewisse Vortheile gegenüberstehen... doch welche?...

Nachdem ich den Theil der Uferstrecke, unter der der Tunnel mündet, begangen habe, gelange ich nach der andern Seite der Lagune. Wie ich es schon vorher erkannt hatte, befindet sich hier die Niederlage der Waaren, die die Goelette von ihren Fahrten mitgebracht hatte. Die geräumigen, in den Wänden ausgebrochnen Höhlungen können eine beträchtliche Zahl von Ballen aufnehmen und enthalten diese auch.

Weiterhin liegt die elektrische Kraftstation. Beim Passieren ihrer Fenster bemerke ich mancherlei, erst neuerdings erfundne Maschinen und Apparate, die wenig Platz einnehmen und höchst vervollkommnet sind. Da ist nichts von Dampfmaschinen, die die Verwendung von Steinkohle nöthig machen und einen complicierten Mechanismus erfordern. Nein, wie ich es geahnt, sind es galvanische Batterien von außerordentlicher Leistungsfähigkeit, die den Strom für die Lampen der Höhle und für die Dynamos des Tug liefern. Derselbe Strom dient jedenfalls auch häuslichen Zwecken, zur Heizung von Bee-Hive ebenso, wie[117] zum Kochen der Speisen. Für jetzt kann ich nur sehen, daß er in einer benachbarten Aushöhlung zur Erhitzung von Destillierkolben und zur Gewinnung von Süßwasser gebraucht wird. Die Insassen von Back-Cup sind nicht genöthigt, zum Getränk die reichlichen Niederschläge zu sammeln, die auf das Eiland fallen. Einige Schritte von der elektrischen Kraftstation befindet sich eine große Cisterne, die ich, wenn sie auch deren Umfang nicht erreicht, mit denen vergleichen kann, die ich auf den Bermudas gesehen habe.

Dort handelte es sich um die Deckung des Bedarfs einer Bevölkerung von zehntausend Seelen... hier nur um die von hundert...

Ich weiß noch nicht, wie ich sie bezeichnen soll. Gewiß haben ihr Anführer und sie selbst zwingende Gründe, im Innern dieses Eilands zu hausen, doch welcher Art mögen diese Gründe sein?... Wenn sich religiöse Eiferer in die Mauern ihrer Klöster flüchten, um sich von der übrigen Menschheit abzuschließen, so ist das ja erklärlich. Die Untergebnen des Grafen d'Artigas haben aber keineswegs das Aussehen von Benedictinern oder von Karthäusern!

In weitrer Fortsetzung meines Spaziergangs durch den Pfeilerwald komm' ich nun zur Grenze der Höhle. Niemand hat mich aufgehalten oder angesprochen, ja niemand hat sich überhaupt um mich gekümmert. Dieser Theil von Back-Cup ist höchst merkwürdig und hält einen Vergleich mit dem aus, was die Höhlen von Kentucky oder den Balearen nur an Naturwundern bieten. Eine Thätigkeit der Menschenhand ist hier natürlich nirgends zu erkennen. Ueberall sieht man nur die Arbeit der Natur, und mit Erstaunen, gemischt mit Entsetzen, denkt man an die tellurischen Kräfte, die so wunderbare Bauwerke zustandezubringen vermochten. Auf den jenseit der Lagune gelegnen Theil fallen die Lichtstrahlen durch die Mittelöffnung nur in sehr schräger Richtung. Des Abends von den elektrischen Lampen erhellt, muß er jedoch einen zauberhaften Anblick bieten. Trotz meiner Bemühungen hab' ich übrigens nirgends einen Gang entdeckt, der mit der Außenwelt in Verbindung stände.

Zu bemerken wäre noch, daß das Eiland zahlreichen Vögeln, Regenpfeifern, Möven und Seeschwalben, Zuflucht gewährt. Das sind die gewohnten Gäste der Bermudas. Hier – so scheint es – hat man ihnen niemals nachgestellt, sondern ihrer Vermehrung ruhig zugesehen, und so zeigen sie sich auch in der Nähe der Menschen gar nicht scheu und schreckhaft.

Back-Cup besitzt jedoch auch noch andre Thiere, als jene Seevögel. Seitlich von Bee-Hive befinden sich eingefriedigte Plätze für Kühe, Schweine, Schafe und[118] Geflügel. Die Ernährung ist also ebenso gesichert, wie für Abwechslung in derselben gesorgt, wozu auch noch die Ausbeute der Fischerei zwischen den Klippen draußen und in der Lagune des Innern selbst beiträgt. Fische verschiedner Art giebt es hier in erstaunlicher Menge.

Um sich zu überzeugen, daß es den Bewohnern von Back-Cup an nichts nothwendigem fehlt, braucht man sie nur anzusehen. Es sind kraftstrotzende Leute, vom Hauche der heißen Zonen tief gebräunte Seebären mit reichem und von den Meerwinden fast überoxygeniertem Blute. Kinder und Greise giebt es hier nicht, nur Männer im Alter von dreißig bis fünfzig Jahren.

Warum haben sie sich aber zu einer solchen Lebensweise bestimmen lassen, und kommen sie nie mals aus dieser seltsamen Zufluchtsstätte auf Back-Cup weg?

Vielleicht werd' ich das bald durchschauen.

Quelle:
Jules Verne: Vor der Flagge des Vaterlands. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXIX, Wien, Pest, Leipzig 1897, S. 108-119.
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