III.

[35] Markus erwartete mich, wie ich es mir gedacht hatte, am Landungsplatz und kam mir mit ausgebreiteten Armen entgegen. Wir hielten uns innig umschlungen.

»Heinrich!... Mein lieber Heinrich! wiederholte er immer mit bewegter Stimme und feuchten Augen.

– Mein lieber Markus! sagte ich, lasse Dich nochmals umarmen!«

Nach den ersten, der Freude des Wiedersehens gewidmeten Augenblicken rief ich eifrig:

– Nun aber rasch! Gehen wir! – Du führst mich doch in Deine Wohnung, denke ich?

– Ja, ins Hotel Temesvár, das nur zehn Minuten von hier entfernt liegt, in der Prinz Milosch-Straße.... Aber vor allem muß ich Dich meinem künftigen Schwager vorstellen!«

Ich hatte dem Offizier, welcher etwas abseits stand, gar keine Beachtung geschenkt. Er war Hauptmann der Infanterie, trug die Uniform eines Grenzer-Regimentes und mochte höchstens achtundzwanzig Jahre alt sein. Seine schlanke, die Mittelgröße überragende Gestalt verlieh ihm ein stattliches Aussehen. Der Bart auf Lippe und Kinn war dunkelbraun; er hatte das stolze, aristokratische Auftreten des Magyaren, aber seine Augen blickten freundlich und sein Mund lachte; er machte einen sehr sympathischen Eindruck.[35]

»Hauptmann Haralan Roderich, stellte Markus vor. Ich drückte die Hand, die mir der Hauptmann reichte.

– Herr Vidal, sagte er, ich freue mich aufrichtig, Sie hier begrüßen zu können und Sie ahnen wohl kaum, welch große Freude Sie durch Ihre so sehnlich erwartete Ankunft meiner ganzen Familie bereiten!

– Auch Fräulein Myra? fragte ich.

– Das will ich glauben, rief mein Bruder, und ihr ist gewiß keine Schuld beizumessen, wenn die ›Dorothea‹ seit Deiner Abreise von Wien nicht ihre zehn Meilen per Stunde gemacht hat!«

Ich bemerke, daß Hauptmann Haralan sowie dessen Vater, Mutter und Schwester, welche sich auf ihren Reisen oft in Frankreich aufgehalten hatten, die französische Sprache vollkommen beherrschten. Anderseits konnten Markus und ich geläufig deutsch sprechen, dazu kamen noch einige flüchtige Kenntnisse der ungarischen Sprache, so daß wir von diesem Tage an und auch späterhin uns ohne Schwierigkeit in diesen verschiedenen Idiomen bewegen konnten, ja, sie oft vermengten.

Mein Gepäck wurde auf einen Wagen geladen, Hauptmann Haralan und Markus stiegen mit mir ein und wenige Minuten später hielten wir vor dem Hotel Temesvár.

Nachdem wir übereingekommen, daß ich meinen ersten Besuch bei der Familie Roderich am folgenden Tage abstatten würde, blieb ich mit meinem Bruder allein in meinem ziemlich gemütlichen Zimmer, das neben demjenigen lag, welches er seit seiner Ankunft in Ragz bewohnte.

Wir hatten uns viel zu sagen, bis uns die Mittagsstunde zu Tische rief.

»Mein lieber Markus, begann ich, nun sind wir doch wieder glücklich vereint!... Wie froh bin ich!... Wenn ich nicht irre, hat unsere diesmalige Trennung ein ganzes, langes Jahr gedauert?

– Ja, Heinrich, die Zeit ist mir sehr lang geworden, wenn auch die Nähe meiner lieben Myra mir das Warten der letzten Monate verschönt und verkürzt hat... Aber jetzt bist Du ja da, Gottlob, und die Trennung hat mich nicht vergessen lassen, daß Du mein großer Bruder bist!

– Und Dein bester, treuester Freund, Markus!

– Ich weiß es, Heinrich; und darum wirst Du es begreiflich finden, daß ich unmöglich meine Hochzeit ohne Dein Beisein feiern konnte. Du mußtest doch neben mir stehen!... Außerdem habe ich Deine Zustimmung zu erbitten![36]

– Meine Zustimmung?

– Gewiß! Ebenso wie ich sie von unserem Vater erbeten hätte, wenn er lebte. Aber ebenso wenig wie er, hast Du Grund, mir dieselbe zu versagen, und wenn Du sie erst kennen wirst....

– Ich kenne sie ja schon aus Deinen Briefen und weiß, daß Du glücklich bist!

– O, mehr als Du ahnen kannst! Aber Du wirst sie ja selbst sehen, Du wirst Dir ein Urteil bilden und sie auch lieb gewinnen, dessen bin ich sicher! Ich gebe Dir eine gute, die beste Schwester!

– Ich nehme sie nur zu gerne an, mein lieber Markus, denn ich bin überzeugt, daß Deine Wahl nur eine vortreffliche sein kann. Aber warum kann ich Dr. Roderich nicht heute schon meinen Besuch machen?

– Es geht nicht!... Morgen!... Wir wußten nämlich nicht, daß das Schiff so frühzeitig ankommen würde und erwarteten Dich erst gegen Abend. Es ist nur unserer übergroßen Vorsicht zu danken, daß wir bei Deiner Ankunft am Kai waren. Haralan und ich – zu unserem Glück! Wenn das meine liebe Myra geahnt hätte!... Wie wird es ihr leid tun!... Aber jedenfalls wirst Du erst morgen erwartet. Frau Roderich und ihre Tochter haben über den heutigen Abend bereits verfügt und werden Dich morgen mit Entschuldigungen überschütten!

– Gut, Markus, antwortete ich, und nachdem wir uns für einige Stunden allein angehören, nützen wir dieselben aus; wir haben uns genug zu erzählen, Vergangenes und Zukünftiges zu besprechen. Nach der Trennung eines ganzen Jahres haben sich zwei Bruder wohl so manches anzuvertrauen.«

Und Markus berichtete seine Reiseerlebnisse von dem Augenblicke an, wo er Paris verlassen hatte; jede seiner Ruhestationen war durch glänzende Erfolge gekennzeichnet: er schilderte seinen Aufenthalt in Wien, in Preßburg, wo die Künstlerwelt ihn mit offenen Armen als einen der ihrigen aufgenommen. Eigentlich lehrte mich seine Erzählung nichts Neues! Ein Porträt, das mit dem Namen »Markus Vidal« gezeichnet war, konnte nichts anderes als ein sehr begehrtes Meisterwerk sein, das gleicherweise von reichen Österreichern und wohlhabenden Magyaren gesucht wurde.

»Ich konnte den Anforderungen nicht mehr genügen, lieber Heinrich. Es regnete nur Anfragen, Bestellungen und selbst Preisüberbietungen. Was[37] sagst Du dazu? Ein wackerer Preßburger Bürger hat sogar folgenden Ausspruch getan: ›Markus Vidal weiß die Ähnlichkeit besser zu treffen als die Natur!‹ – Und es ist gar nicht ausgeschlossen, fügte mein Bruder lachend hinzu, daß ich eines schönen Tages von hier entführt werde, damit ich den allerhöchsten Hof in Wien porträtiere!

– Sei vorsichtig, Markus! Hüte Dich! Es wäre doch sehr peinlich für Dich, solltest Du jetzt Ragz verlassen müssen, um Dich an den Wiener Hof zu begeben.

– Ich würde natürlich die Einladung ablehnen, mein Freund, selbstverständlich in der allerrespektvollsten Weise! Jetzt darf man mir überhaupt von keinem Porträt sprechen... ich habe soeben mein letztes beendet.

– Das ihre, nicht wahr?

– Ja, und es ist bei Gott nicht das schlechteste, das ich gemalt!

– Wer weiß? widersprach ich; wenn der Maler mehr mit dem Modell beschäftigt ist als mit dem Porträt...

– Nun, Du wirst ja sehen, Heinrich!... Ich versichere Dich: es ist ähnlicher als die Natur selbst!... Das scheint mein besonderes Talent zu sein.... Es ist ja wahr, während meine liebe Myra mir saß, konnte ich meine Blicke nicht von ihr wenden. Aber sie blieb sehr ernst; nicht dem Bräutigam, sondern dem Künstler sollten diese Stunden gewidmet sein.... Und mein Pinsel hastete über die Leinwand.... Mit welcher Begeisterung!... Manchmal wollte mir scheinen, als ob das Bild unter meinen Händen lebendig würde....

– Ruhe, Pygmalion! Ruhe! Sage mir lieber, auf welche Weise Du mit der Familie Roderich bekannt geworden bist?

– Es stand so im Buche des Schicksals geschrieben!

– Daran zweifle ich nicht, aber wieso...

– Mehrere Familien in Ragz hatten mir gleich nach meiner Ankunft hier die Ehre erwiesen, mich einzuladen. Nichts konnte mir angenehmer sein, denn die Abende in einer fremden Stadt scheinen immer endlos lang. Ich stürzte mich daher in das gesellschaftliche Leben, fand immer die liebenswürdigste Aufnahme und an einem solchen Abend hatte ich Gelegenheit, meine Bekanntschaft mit Hauptmann Haralan zu erneuern.

– Zu erneuern?... fragte ich erstaunt.[38]

– Ja, Heinrich; ich hatte ihn schon in Budapest begegnet. Er ist ein ganz ausgezeichneter Offizier, zu den schönsten Zukunftshoffnungen berechtigt und dabei einer der liebenswürdigsten Menschen, welcher gewiß einen der vortrefflichsten Helden eines Matthias Corvinus abgegeben hätte, wenn...

– Wenn er zu jener Zeit auf die Welt gekommen wäre, fiel ich ihm lachend in die Rede.

– Du hast es erraten, gab er, ebenso gut gelaunt, zurück. Kurz und gut wir haben uns hier alle Tage gesehen und unsere anfänglich oberflächliche Bekanntschaft hat sich nach und nach in eine enge Freundschaft verwandelt. Er wollte mich in seine Familie einführen, was ich um so dankbarer annahm, als ich schon Myra bei verschiedenen Unterhaltungsabenden getroffen hatte und...

– Und, fuhr ich fort, nachdem die Schwester dem Bruder an Liebenswürdigkeit in keiner Weise nachstand, sind Deine Besuche bei Dr. Roderich immer häufiger geworden....

– Jawohl, Heinrich, seit drei Monaten ist auch nicht ein Abend vergangen, den ich nicht bei dieser lieben Familie verbracht hätte. Aber... vielleicht glaubst Du, ich übertreibe, wenn ich Dir von Myra erzähle?

– Aber nein, gewiß nicht, mein Freund! Du übertreibst nicht. Ich bin überzeugt, daß es überhaupt unmöglich ist, zu übertreiben, wenn von ihr die Rede ist. Soll ich Dir ganz offen meine Meinung sagen! Ich finde, Du bist noch viel zu gemäßigt!

– Lieber Heinrich, Du weißt nicht, wie ich sie liebe.

– Ich sehe es! Jedenfalls bin ich sehr glücklich, daß Du Dir Deine Braut aus der ehrenwertesten aller Familien ausgesucht hast!

– Und aus der geachtetsten! erwiderte Markus. Dr. Roderich ist ein sehr gesuchter Arzt und seine Kollegen schätzen ihn über alles. Außerdem ist er der beste Mensch und wohl wert, der Vater...

– Einer solchen Tochter zu sein, ergänzte ich, ebenso ist Frau Roderich gleich würdig, deren Mutter zu sein.

– O, das ist eine vortreffliche Frau! rief Markus. Sie wird auch verehrt von den ihrigen! Sie ist fromm, wohltätig, beschäftigt sich mit Werken der Nächstenliebe...[39]

– Und ist mit einem Wort eine Vollkommenheit! Das wird eine Schwiegermutter sein, wie man in ganz Frankreich keine zweite findet, nicht wahr, Markus?


Mein Pinsel hastete über die Leinwand.... (S. 38.)
Mein Pinsel hastete über die Leinwand.... (S. 38.)

– Scherze immerhin... Aber ich mache Dich aufmerksam, mein lieber Heinrich, daß wir hier nicht in Frankreich sind, sondern in Ungarn, im Lande der Magyaren, wo sich die Sitten mehr in ihrer ursprünglichen Reinheit bewahrt haben und von der althergebrachten Strenge beeinflußt werden; wo der Familiencharakter ein ganz patriarchalischer ist...


Wir blieben während einiger Minuten auf der Brücke stehen... (S. 47.)
Wir blieben während einiger Minuten auf der Brücke stehen... (S. 47.)

– Nun denn, zukünftiger Patriarch – denn Du wirst es auch eines Tages werden –!...

– Du lieber Himmel, Heinrich, das ist auch eine soziale Stellung, so gut wie jede andere!

– Du hast recht, würdiger Nachfolger Methusalems, Noahs, Abrahams, Isaaks und Jakobs! – Aber eigentlich hat Deine Geschichte nichts Außergewöhnliches an sich. Du dankst dem Hauptmann Haralan die Einführung in die Familie, man hat Dich sehr herzlich aufgenommen, was mich nicht in Erstaunen setzt, denn ich kenne meinen lieben Bruder. Du hast Fräulein Myra nicht sehen können, ohne von ihren physischen und moralischen Eigenschaften und Vollkommenheiten bezaubert zu werden...

– Du sprichst gut, Bruder!

– Die moralischen Eigenschaften fesselten den Bräutigam, die physischen den Künstler und diese werden ebensowenig von Deiner Leinwand verschwinden, wie jene aus Deinem Herzen.... Nun, was sagst Du zu diesem herrlichen Satz?

– Er ist geschmacklos, aber richtig!

– Ebenso richtig ist auch Dein Urteil, und, um zum Schlusse zu kommen: ebensowenig wie Markus Vidal mit Fräulein Myra Roderich lange verkehren konnte. ohne dem Zauber ihrer Erscheinung zu erliegen, ebenso hat Fräulein Myra Roderich schon nach kurzer Bekanntschaft Markus Vidal in...

– Das habe ich nicht gesagt, Heinrich!

– Aber ich sage es, mein Lieber, und wäre es nur aus dem Grunde, der Wahrheit zum Siege zu verhelfen!... Und Herr und Frau Roderich, welche wohl merkten, was sich vor ihren Augen abspielte, haben Dir keine Schwierigkeiten in den Weg gelegt. Und Markus hat ohne langes Besinnen dem Hauptmann Haralan sein Herz erschlossen und Hauptmann Haralan war nicht allzu erstaunt und unglücklich über die Wendung der Dinge; er hat mit seinen Eltern die Angelegenheit besprochen und diese haben die Meinung ihrer Tochter erforscht. Darauf hat Markus Vidal feierlich um die Hand seiner Angebeteten angehalten, die ihm bewilligt wurde, und nun endet Dein kleiner Roman wie jeder andere dieser Art....

– Das heißt, Du nennst es das Ende, mein lieber Heinrich, unterbrach mich Markus; meiner Ansicht nach ist das Ende der Anfang.[43]

– Du hast ganz recht, Markus; es ist mit mir schon so weit gekommen, daß ich die Bedeutung der Worte nicht mehr richtig unterscheide.... Für welchen Tag ist die Hochzeit festgesetzt?

– Wir erwarteten Deine Ankunft, um den Tag zu bestimmen.

– Nun, ich bin ja hier! Also wann Ihr wollt! Vielleicht in sechs Wochen... sechs Monaten... sechs Jahren?...

– Mein lieber Heinrich, Du wirst vielleicht die Liebenswürdigkeit haben, Dr. Roderich mitzuteilen – ich rechne bestimmt darauf – daß die Zeit eines Ingenieurs ein sehr kostbares Gut ist, mit dem man nicht verschwenderisch umgehen kann, und daß für den Fall, daß Dein Aufenthalt in Ragz unnötigerweise verlängert werden müßte, in den Bahnen des gesamten Sonnensystems leicht schwere Entgleisungen stattfinden könnten, wenn es so lange der Kontrolle Deiner gelehrten Berechnungen entzogen würde!

– Kurz gesagt, ich würde Schuld tragen an sämtlichen Erdbeben, Überschwemmungen, Springfluten und anderen Weltkatastrophen?

– Du hast mich verstanden... Man kann daher die Trauung nicht länger hinausschieben als...

– Als bis übermorgen oder vielleicht noch besser, bis heute abends, nicht wahr?... Beruhige Dich, lieber Markus, ich werde alle stichhaltigen Gründe vorbringen, wenn auch meine wissenschaftlichen Berechnungen nicht gerade von absoluter Notwendigkeit für den Fortbestand des Weltalls sind! Auf diese Weise kann ich dann doch noch einen Monat bei Dir und Deiner Frau zubringen!

– Das wäre herrlich!

– Aber sage mir, lieber Markus, was sind eigentlich Deine Pläne? Hast Du vielleicht die Absicht, Ragz gleich nach der Hochzeit zu verlassen?

– Das ist noch unbestimmt, erwiederte Markus, wir haben ja Zeit, diese Frage zu erörtern. Ich lebe jetzt nur für die Gegenwart. Was die Zukunft anbelangt, so schließt sie vorderhand mit meiner Hochzeit ab. Darüber hinaus existiert nichts für mich.

– Es gibt keine Vergangenheit, rief ich, es gibt keine Zukunft; es gibt allein eine Gegenwart! Über dieses Thema existiert ein italienischer Reim, den alle Liebenden den ewigen Sternen erzählen.«[44]

Unser Gespräch wurde in dieser heiteren Weise fortgesetzt, bis es Essenszeit war. Nach Tisch, während wir unsere Zigarren rauchten, machten wir einen Spaziergang längs des Kais, welcher sich das linke Donauufer entlang hinzieht.

Ich konnte nicht verlangen, daß mir dieser erste, nächtliche Spaziergang ein richtiges Bild der Stadt liefern werde, tröstete mich aber mit dem Gedanken, daß ich am nächsten Morgen und die folgenden Tage Zeit genug finden würde, die Stadt genau zu besichtigen, wahrscheinlich in Gesellschaft des Hauptmanns Haralan und meines Bruders.

Selbstredend war der Gegenstand des Gespräches nicht geändert worden, es drehten sich unsere Reden wieder um Myra Roderich.

Ich weiß nicht mehr, welches Wort mir jene Mitteilung in Erinnerung brachte, die mir der Polizeileutnant am Vorabende meiner Abreise in Paris gemacht hatte. Nichts in den Äußerungen meines Bruders ließ erraten, daß sein Glück jemals, und wäre es noch so vorübergehend gewesen, getrübt worden sei. Aber wenn Markus auch jetzt keinen Rivalen zu fürchten brauchte, so hatte dieser Rivale nichtsdestoweniger existiert, nachdem sich der Sohn Otto Storitz' um Myra Roderichs Hand beworben. Dies war nur sehr natürlich, nachdem das junge Mädchen schön war und außerdem in den glänzendsten Vermögensverhältnissen lebte.

Naturgemäß kamen mir jene Worte in den Sinn, die ich in dem Augenblick vernommen, als ich das Schiff verlassen wollte. Ich trachtete mir einzureden, daß ich das Opfer meiner Einbildung sei. Aber angenommen, sie seien wirklich ausgesprochen worden – welche Folgerungen konnte ich daraus ziehen, nachdem ich nicht wußte, wem sie zuzuschreiben waren? Am liebsten hätte ich sie dem unsympathischen Deutschen aufgebürdet, welcher sich in Budapest eingeschifft hatte. Aber diese Idee mußte ich fallen lassen, da der Betreffende das Schiff bereits in Vukovár verlassen hatte. So blieb mir nur die eine Möglichkeit übrig, den Vorfall für einen unpassenden Scherz anzunehmen.

Ohne meinem Bruder davon Mitteilung zu machen, hielt ich es für meine Pflicht, ihm mit wenigen Worten anzudeuten, was ich kürzlich in bezug auf Wilhelm Storitz erfahren hatte.

Markus antwortete zunächst nur durch eine sehr ausdrucksvolle, verächtliche Handbewegung, dann sagte er:[45]

»Ja, Haralan hat mir von dem Menschen erzählt. Er ist, wie ich glaube, der einzige Sohn des Gelehrten Otto Storitz, der in Deutschland im Rufe eines Zauberers stand, ganz ungerechtfertigerweise übrigens, denn er hatte sich tiefe Kenntnisse in den Naturwissenschaften erworben; außerdem dankt man ihm wichtige Entdeckungen in der Physik und Chemie. Aber die Bewerbung seines Sohnes wurde abgewiesen.

– Noch bevor die Deinige angenommen wurde, nicht wahr?

– Vier oder fünf Monate vorher, wenn ich nicht irre, sagte mein Bruder.

– Die beiden Tatsachen stehen also in gar keinem Zusammenhange?

– Nein.

– Hat Fräulein Myra von dieser Absicht Wilhelm Storitz' jemals etwas erfahren?

– Ich glaube nicht.

– Und hat er seither keine Schritte unternommen?...

– Niemals. Er wird wohl verstanden haben, daß er nichts mehr zu erwarten hat.

– Warum nicht? Hat er keinen guten Ruf?

– Nein. Wilhelm Storitz gilt als eine Art Original; er führt eine ziemlich geheimnisvolle Existenz und lebt ganz zurückgezogen...

– In Ragz?

– Ja, in Ragz, in einem einsam gelegenen Hause am Tököly-Wall, in das niemand Einlaß erlangt. Man hält ihn mit einem Wort für einen nicht ganz normalen Menschen. Auch ist er ein Deutscher und dieser letztere Grund genügte, um die Weigerung Dr. Roderichs zu motivieren, denn der Ungar liebt die Vertreter der teutonischen Rasse nicht sonderlich.

– Bist Du ihm je begegnet?

– Mehrmals, und eines Tages hat mich Hauptmann Roderich im Museum auf ihn aufmerksam gemacht, ohne daß er uns jedoch zu bemerken schien.

– Befindet er sich augenblicklich in Ragz?

– Das kann ich Dir nicht mit Bestimmtheit sagen, aber ich glaube, man hat ihn schon seit zwei oder drei Wochen nicht gesehen.

– Es wäre besser, wenn er die Stadt verlassen hätte.[46]

– Genug! sagte Markus. Lassen wir den Mann in Ruhe; wenn es jemals eine Frau Wilhelm Storitz geben sollte, so kannst Du gewiß sein, daß es nicht Myra Roderich sein wird, weil...

– Ja, unterbrach ich ihn, weil Myra Roderich Frau Markus Vidal sein wird!«

Unser Spaziergang hatte uns immer längs des Kais bis zu der Schiffbrücke geführt, die das ungarische Ufer der Donau mit dem serbischen verbindet. Ich verfolgte einen bestimmten Zweck, indem ich immer noch vorwärts schritt. Seit einiger Zeit glaubte ich bemerkt zu haben, daß wir von einem Menschen gefolgt wurden, welcher sich ziemlich nahe an uns hielt, so daß es den Anschein hatte, als wolle er unser Gespräch belauschen. Ich mußte mich überzeugen, ob diese Vermutung richtig war.

Wir blieben während einiger Minuten auf der Brücke stehen und bewunderten den majestätischen Strom, in dessen bewegten Wassern sich in dieser herrlichen Nacht die vielen Tausende von Himmelsgestirnen widerspiegelten und in den Wellen tanzenden Fischen mit leuchtenden Schuppen glichen. Ich benützte den kurzen Aufenthalt, um den Kai zu überwachen, auf dem wir hergekommen. In einiger Entfernung beobachtete ich einen Mann von mittelgroßer Gestalt. welcher. nach seinem schwerfälligen Gange zu schließen, schon ziemlich alt sein mußte.

Übrigens blieb mir nicht viel Zeit zum Nachdenken. Markus hatte so viele Fragen zu stellen, ich mußte ihm Auskunft geben, über meine eigenen Angelegenheiten berichten, von unseren gemeinsamen Freunden erzählen und besonders von der Künstlerwelt, mit welcher ich sehr häufig zusammen kam. Wir sprachen viel von Paris, wo er nach seiner Hochzeit den ständigen Wohnsitz zu nehmen gedachte. Myra war sehr begeistert von dem Plane, so schien es; sie freute sich, Paris, das sie schon kannte, wiederzusehen, am Arme des Gatten wiederzusehen.

Ich teilte Markus mit, daß ich im Besitze sämtlicher Papiere sei, um die er mich in seinem letzten Briefe gebeten. Er brauchte sich nicht zu sorgen: die Dokumente, die zur großen Reise für die Lebensdauer erforderlich sind, waren in Ordnung; nichts fehlte.

Immer kehrte das Gespräch zu dem Sterne erster Größe, der strahlenden Myra, zurück – so wie sich die Spitze der Magnetnadel immer dem Pole zukehrt. Markus wurde nicht müde, von ihr zu erzählen und ich[47] wurde nicht müde, ihm zuzuhören. Schon so lange hatte er mir alles sagen wollen.... Aber ich mußte der Vernünftige sein, sonst hätte unser Gespräch bis zum Morgengrauen gewährt.

Wir traten den Rückweg ins Hotel an. Ehe ich eintrat, warf ich noch einen forschenden Blick zurück nach der Richtung, aus der wir gekommen. Der Kai war vollständig menschenleer. Der Verfolger war verschwunden – falls es ein Verfolger und nicht einzig die Ausgeburt meiner Phantasie war.

Um halb elf Uhr waren Markus und ich in unseren Zimmern im Hotel Temesvár. Ich legte mich zu Bette und schlief augenblicklich ein....

Plötzlich fuhr ich in die Höhe.... Träumte ich?... War es ein Alp?...

Jene schrecklichen Worte, die ich an Bord der »Dorothea« zu vernehmen geglaubt, die Markus und Myra Roderich bedrohten, sie hatten mich aus meinem halben Schlummer aufgeschreckt – ich hatte sie soeben wieder vernommen!!...

Quelle:
Jules Verne: Wilhelm Storitzߣ Geheimnis. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band XCVIII, Wien, Pest, Leipzig 1911, S. 35-41,43-48.
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