Drittes Kapitel.

Im Nebel.

Doch nein, dazu sollte es nicht kommen. Der 10. Mai brach pünktlich an, ohne daß sich ein weiterer Zwischenfall ereignet hatte.

Als Morgan an diesem Tage an Bord ging, war man eben beschäftigt, den Dampfer mit dem Bug seewärts an der Landungsbrücke festzulegen, von der[25] aus er am Abend ins Meer hinaussteuern sollte. Morgan hatte frühzeitig auf seinem Posten sein wollen, er bemerkte jedoch beim ersten Schritt auf das Deck, daß dieser Übereiser völlig nutzlos war, denn vorläufig hatte sich noch kein Passagier eingefunden.

Morgan kannte die Nummer seiner Kabine, es war die Nummer 17. Dahin wurde auch sein wenig umfängliches Gepäck gebracht. Da er jetzt Muße hatte, benutzte er sie, sich überall umzusehen.

Ein Mann mit dreifachem Goldstreif an der Mütze, offenbar der Kapitän Pip, ging auf der Kommandobrücke zwischen Back- und Steuerbord hin und her und kaute dabei ebensoviel an seinem grauen Schnurrbart wie an seiner Zigarre. Klein von Gestalt, mit etwas eingeknickten Beinen, wie denen eines Dachshundes, und mit etwas groben, doch sympathischen Gesichtszügen, war er das richtige Ebenbild des »Lupus maritimus« oder wenigstens einer der zahlreichen Abarten dieser Familie der menschlichen Fauna.

Auf dem Verdeck besorgten die Matrosen wieder die nötige Ordnung, die durch das Anlegen an den Kai etwas gestört worden war, und machten alles zum baldigen Auslaufen des Schiffes zurecht.

Nachdem diese Arbeit beendigt war, verließ der Kapitän die Kommandobrücke und verschwand in seiner Kabine. Der zweite Offizier folgte seinem Beispiele, während die Mannschaft durch die Luke auf dem Vorderdeck langsam hinunterstieg. Nur ein Schiffsleutnant, derselbe, der Morgan bei dessen Eintreffen empfangen hatte, blieb an der Eintrittslücke der Bordwand des Hauptdecks stehen. Bald herrschte überall auf dem Fahrzeug tiefste Stille.

Unbeschäftigt, wie er war, begann Morgan, um die Zeit totzuschlagen, sich das Schiff in allen Teilen näher anzusehen.

Das Vorderteil enthielt die Mannschaftskammern und eine Küche, und darunter noch einen Raum für Reserveanker, Ketten und verschiedenes Tauwerk. Ja der Mitte befanden sich die Maschinen, und der hintere Teil war den Passagieren vorbehalten.

Hier, im Zwischendeck, lagen, vom Maschinenraume bis zum Heck, in mehreren Reihen siebzig Kabinen, darunter auch die Morgans. Sie war hinlänglich groß und weder besser noch schlechter ausgestattet als die andern. Darunter, zwischen dem eigentlichen Deck und der sogenannten Kuhbrücke oder dem Spardeck, herrschte der Tafelmeister in seinem Reiche, der Kambüse, und darüber befand sich auch der geräumige und recht prunkhaft ausgestattete Speisesaal. Ein[26] langer, vom Besanmaste durchbohrter Tisch nahm fast die ganze Länge des Saales in der Mitte eines Ovals von Polsterbänken ein, die sich längs der Wände hinzogen.

Der mit zahlreichen Fenstern versehene Saal erhielt sein Licht von der Kuchl (einem sich außerhalb darum hinziehenden Gange) her und endete mit einer Art Kreuzgang, auf den die Treppen von den Kabinen mündeten. Durch die Seitenteile dieses Ganges konnte man nach der Kuchl hinaustreten. Sein geradeaus verlaufender Teil trennte, bevor er auf dem Deck mündete, den Rauchsalon und gegenüber das Lesezimmer sowie die geräumige Kabine des Kapitäns an Steuerbord von den etwas beschränkteren Kabinen des zweiten Offiziers und des Leutnants an Backbord, die so lagen, daß die Offiziere das Deck bis zum Buge übersehen konnten.

Nach Beendigung seines Rundganges begab sich Morgan auf das Spardeck, als es auf einem fernen Turme gerade fünf schlug.

Da hatte sich draußen aber alles recht unerwünscht verändert. Ein heraufziehender Nebel, der jetzt nur noch leicht war, verdunkelte die Atmosphäre. Schon waren die Linien der Häuser am Kai ziemlich verschwommen, die Bewegungen der Lastträger sahen unbestimmt aus, und auf dem Schiffe selbst schienen sich die beiden Masten in ungewisser Höhe zu verlieren.

Auf dem Dampfer herrschte noch dieselbe Ruhe wie bisher, nur der schwarze Rauch, der aus dem Schornstein emporwirbelte, verriet, daß hier nicht alles Leben erstorben war.

Robert Morgan setzte sich auf eine Bank auf dem Vorderteile des Spardecks, lehnte sich an eine Relingsstütze und sah erwartungsvoll über den Bordrand hinaus.

Fast gleichzeitig betrat Thompson das Fahrzeug. Er warf Morgan einen Gruß freundschaftlichen Wohlwollens zu und ging dann mit unruhigen, zum Himmel gerichteten Blicken ein Stück hin und her.

Der Nebel nahm noch weiter zu und wurde bald so dicht, daß er die Abfahrt ernstlich in Zweifel stellte. Die Häuser sah man schon gar nicht mehr, und auf den Kais schwebten nur wunderliche Schattengestalten hin. Auf dem Strom bildeten die Masten der nächstliegenden Schiffe im Nebel undeutliche Linien, und verhüllt vom gelblichen Dunste schlich das Wasser der Themse geräuschlos und unbemerkbar dem Meere zu. Alles war von Feuchtigkeit getränkt; man atmete sozusagen Wasser.[27]

Morgan schüttelte sich plötzlich vor Frost, er fühlte sich fast gänzlich durchnäßt und holte sich einen Kautschukmantel, unter dessen Schutze er seinen Beobachtungsposten wieder einnahm.

Gegen sechs Uhr tauchten vier Diener, unklar erkennbar, im Mittelgange auf, machten vor der Kabinentür des ersten Offiziers Halt und setzten sich in Erwartung ihrer zukünftigen Herren auf eine Bank zusammen.

Erst um halb sieben fand sich der erste Reiseteilnehmer ein. Robert Morgan glaubte das wenigstens, weil er Thompson eiligst davongehen und wie vom Nebel verhext verschwinden sah. Gleichzeitig kam Leben in die Stewards, ein Gewirre von Stimmen wurde laut und halberkennbare Gestalten schlüpften unten vor dem Spardeck vorüber.

Als ob der Ankömmlung ein Signal zum Antreten gegeben hätte, wälzte sich von dieser Minute an der Zug der Reisenden ununterbrochen heran, so daß Thompson immer zwischen dem Gange zum Salon und der Öffnung in der Bordwand wie ein Weberschiffchen hin- und herschnellen mußte. Die Touristen folgten ihm auf der Ferse. Ob Männer, Frauen oder Kinder? Das hätte man kaum bestimmt sagen können. Sie tauchten auf und verschwanden wieder wie geisterhafte Wesen, deren Gesicht Morgan nicht erkennen konnte.

Doch hätte er denn nicht auch selbst an Thompsons Seite sein, ihm seine Hilfe anbieten müssen, und hätte er nicht von diesem Augenblicke an seine Rolle als Dolmetscher aufnehmen sollen? Leider fehlte es ihm dazu an Mut. Plötzlich überfiel ihn, wie ein akutes und furchtbares Fieber, eine tiefe Niedergeschlagenheit, unter der ihm das Herz zu Eis erstarrte. Die Ursache dazu hätte er nicht nennen können, und übrigens dachte er auch gar nicht daran, sie sich klar zu machen.

Jedenfalls war es der Nebel, der seine Seele lähmte. Die düstre Wolke erstickte ihn, beengte ihn wie die Mauern eines Kerkers.

Bestürzt durch seine Verlassenheit, blieb er sitzen, während ihm vom Landgange, von den Kais, von ganz London das Geräusch geschäftigen Treibens ans Ohr schlug, das Leben und Treiben unsichtbarer Wesen, mit denen er nichts gemein hatte und nie gemein haben würde.

Inzwischen war der Dampfer »aufgewacht«. Durch das Skylicht des Salons drangen Lichtstrahlen in das Nebelmeer. Auf dem Deck wurde es geräuschvoller. Verschiedene Reisende, die nicht zu sehen waren, fragten laut nach ihrer Kabine. Matrosen eilten wie Schatten nach allen Seiten.[28]

Um sieben verlangte schon ein Reisender im Coffeeroom lachend einen Grog. Als es kurz darauf einige Augenblicke etwas ruhiger war, ertönte vom Deck her eine trockene, befehlerische Stimme.

»Ich glaube Sie doch ersucht zu haben, etwas aufmerksam zu sein!«

Morgan beugte sich nach unten. Da bewegte sich ein langer, dünner Schatten und hinter ihm zwei kaum sichtbare andre, vielleicht ein paar Frauen.

In diesem Augenblick zerteilte sich der Nebel, der eine Sekunde lang durch eine noch zahlreichere Gruppe gleichsam zurückgedrängt wurde. Morgan erkannte mit Gewißheit drei Frauen und einen Mann, die unter Führung Thompsons und vierer mit Gepäck beladner Seeleute eiligst dahinschritten.

Er beugte sich noch weiter hinaus, doch der Nebelvorhang schloß sich wieder... dicht, undurchdringlich. Die Unbekannten verschwanden unerkannt.

Mit dem halben Körper über die Bordwand hinausgelehnt, starrte Morgan mit weit offnen Augen hinunter. Für keinen einzigen dieser Leute tat er heute nur das Geringste.

Und was sollte er morgen für sie sein? Eine Art Faktotum, fast ein vorübergehend angenommener Diener. Einer, der den Kutscher spielt und den Wagen nicht bezahlt; einer, der das Zimmer behütet, es aber nicht selbst bewohnt, einer, der mit dem Hotelier verhandelt und ungewohnte Gerichte verlangt. Da bedauerte er lebhaft seinen Entschluß und sein Herz erfüllte sich mit Bitterkeit.

Allmählich kam die Nacht heran und vermehrte nur die trübe Nebelstimmung. Die Positionslichter der Schiffe blieben ebenso unsichtbar wie die Laternen Londons. In der wie von nasser Baumwolle beschwerten Luft erstarb sogar der Lärm der Riesenstadt, die nach und nach in Schlaf zu sinken schien.

Plötzlich rief da im Dunkel aus der Nähe der Schanzkleidungslücke her eine Stimme:

»Abel!«

Eine zweite Stimme rief denselben Namen und zwei andre wiederholten nacheinander:

»Abel!... Abel!... Abel!«

Dann folgte ein Gemurmel. Die vier Stimmen vereinigten sich zu Ausrufen der Bestürzung, der größten Angst.

Ein vierschrötiger Mann galoppierte an Morgan so nahe vorbei, daß er ihn fast streifte, und rief immer wieder:

»Abel!... Abel!«[29]

Sein Ton klang so verzweifelt und doch so komisch, er verriet deutlich eine so große Beschränktheit des Mannes, daß sich Morgan des Lächelns nicht enthalten konnte.

Dieser breitschulterige Reisende sollte also auch einer seiner spätern Herren sein.

Übrigens beruhigte sich bald alles. Man vernahm eine Knabenstimme, daneben krampfhaftes Schluchzen, und der dicke Mann rief:

»Da ist er!... Ich habe ihn!«

Nun begann wieder das allgemeine, unverständliche Gesumme von Stimmen, nur etwas schwächer. Der Zudrang von Reisenden nahm allmählich ab und hörte endlich ganz auf. Zuletzt war nur noch Thompson in dem hellerleuchteten Mittelgange sichtbar, doch auch er verschwand bald durch die Tür das Salons. Robert Morgan blieb auf seinem Platze zurück, nach ihm fragte, um ihn kümmerte sich ja niemand.

Halb acht Uhr waren die Matrosen ins Takelwerk gestiegen und hatten ein weißes Licht am vordern Maste, ein grünes an Steuerbord und ein rotes an Backbord angezündet. Das – vorschriftsmäßige – weiße Licht in Fahrt begriffener Dampfer am Stagseile des Mastes war vor Nebel allerdings nicht sichtbar.

So war alles zur Abfahrt bereit, wenn diese eben durch den Nebel nicht vorläufig verhindert wurde.

Doch nein, das sollte nicht der Fall sein.

Zehn Minuten vor acht Uhr sprang ein scharfer Wind in kurzen Stößen auf. Die Nebelwolken verdichteten sich schnell und es rieselte ein feiner, eisiger Regen hernieder. Die Lichter der Schiffe tauchten auf, zwar matt und trübe, aber doch endlich sichtbar.

Sofort erschien ein Mann auf dem Spardeck. Eine Goldborte glänzte. Man hörte feste Schritte. Der Kapitän bestieg die Kommandobrücke.

Durch die Nacht ertönte seine Stimme herunter:

»Alle Mann auf Deck! Zur Abfahrt fertig machen!«

Ein Geräusch von Tritten. Die Seeleute nahmen ihren Posten ein. Zwei nehmen, fast gerade unter Morgan, Platz, bereit, auf das erste Zeichen eine dort befestigte Trosse loszuwerfen.

Jetzt fragt eine Stimme:

»An der Maschine alles in Ordnung?«[30]

Gleich darauf läuft ein leises Zittern durch das Schiff, zischend strömt eine Dampfwolke aus, die Schraube macht einige Schläge, dann ruft eine dumpfe Stimme aus der Tiefe:

»Alles klar!«

Der Kapitän kommandiert von neuem:

»Nach Steuerbord abfallen!

– Nach Steuerbord abfallen!« wiederholt der unsichtbare zweite Offizier, der bei den Kranbalken steht.

Ein Tau peitscht das Wasser mit lautem, gurgelndem Geräusch. Der Kapitän kommandiert:

»Einen Schlag rückwärts!

– Einen Schlag rückwärts! antwortet eine Stimme aus dem Maschinenraume.

– Stopp!«

Alles wird wieder still.

»Ruder zurück!... Halbe Kraft! Vorwärts!«

Das Schiff erbebt wieder. Die Maschine setzt sich in Bewegung.

Noch einmal wird die Fahrt kurze Zeit unterbrochen; ein Boot stößt ans Schiff, nachdem es die am Lande befestigten Sorrtaue losgeworfen hat.

Sofort setzt sich das Fahrzeug wieder in Bewegung.

»Das Boot aufgehißt!« ruft die Stimme des Obersteuermanns.

Ein wirres Geräusch von Blöcken, die auf das Deck aufschlagen. Dann stimmen die Matrosen, um in gleichmäßigem Takte zu ziehen, ein Lied in Moll an:


Er hat zwei Mädels... 'was Schönres gibt's nicht!

Goth boy falloë! Goth boy falloë!

Er hat zwei Mädels... 'was Schönres gibt's nicht!

Hurra, nach Mexiko... o... o!


»Etwas schneller! ruft der Kapitän.

– Etwas schneller!« wiederholt der zweite Offizier (der Obersteuermann).

Schon hat man die letzten, auf dem Strom liegenden Schiffe hinter sich gelassen. Der Weg wird freier.

»Volldampf voraus! kommandiert der Kapitän.

– Volldampf voraus!« tönt es als Echo aus der Tiefe zurück.

Die Schraube dreht sich schneller. Das Wasser wird aufgewühlt.[31]

Das Schiff hat seine Fahrt angetreten. Die Reise hat begonnen.

Morgan sitzt noch still da, den Kopf auf den ausgestreckten Arm gelehnt. Noch immer rieselt der Staubregen herab. Er achtet nicht darauf, in seiner zunehmenden Traurigkeit bemerkt er es überhaupt nicht.

Vor ihm entrollt sich das Bild seiner ganzen Vergangenheit: seine Mutter, die er kaum deutlich erkennt, erscheint ihm, die Hochschule, wo er sich so glücklich gefühlt hat, und dann... ach, sein Vater! Nachher die unglücklichen Ereignisse, die seine ganze Existenz so tief erschüttert haben. Wer hätte ihm wohl jemals prophezeit, daß er sich eines Tags allein, ohne Freunde, ohne alle Mittel, zum Dolmetscher verwandelt auf einer Reise begriffen wiederfinden würde, deren trauriger Anfang im Nebel, im Dunkeln und im Regen vielleicht schon ihren Ausgang andeutete?

Wie lange ihn dieser Schwächeanfall in Fesseln schlagen würde, wußte er nicht, da schnellte er durch einen Tumult in die Höhe. Gebrumm, Aufschreie, Verwünschungen. Schwere Stiefel hämmern auf das Deck. Dann ein entsetzliches Scharren von Eisen gegen Eisen, eine ungeheure Masse schiebt sich an Backbord hin, um sofort wieder in der Finsternis zu verschwinden.

An den Fenstern zeigten sich erbleichte Gesichter; das Deck füllte sich mit zum Tode erschrocknen Passagieren. Doch die Stimme des Kapitäns beruhigte die allgemeine Aufregung.

Der Zwischenfall war ohne Bedeutung.

»Ja, für diesmal!« murmelte Robert für sich, als er das Spardeck wieder bestieg, während das Hauptdeck sich allmählich leerte.

Das Wetter schlug von neuem um. Der Regen, der nach und nach heftiger geworden war, hörte wie mit einem Schlage auf.

Schnell trat eine sichtbare Veränderung ein. Die Wolken jagten förmlich am Himmel hin, glänzend flimmerten daran die Sterne und die niedrigen Ufer des Stromes wurden erkennbar.

Robert Morgan sah nach der Uhr; es war jetzt ein Viertel auf zehn.

Die Lichter von Greenwich waren längst in der Ferne verschwunden. Hinter dem Backbord schimmerten am Horizonte noch die von Woolwich, und weit draußen blitzte das Leuchtfeuer von Stoneneß. Als dieses passiert war, sah man das von Broadneß. Um zehn Uhr kam der Dampfer an den Leuchtfeuern von Tilburyneß vorüber und zwanzig Minuten später wurde die Coalhouse-Spitze umschifft.
[32]

Morgan konnte sie ungestört betrachten. (S. 33.)
Morgan konnte sie ungestört betrachten. (S. 33.)

Morgan bemerkte jetzt, daß das Spardeck noch einen zweiten Nachtwandler hatte. Zehn Schritte von sich entfernt, sah er eine Zigarette glimmen. Er setzte seine Promenade noch ein Stück weit gleichgültig fort, dann trat er, ohne Willen dahin geführt, an das Oberlichtfenster des großen Salons.

Im Schiffe drin herrschte tiefes Schweigen. Die Passagiere hatten einer nach dem andern ihre Kabine aufgesucht. Der große Salon war leer.

Nur eine Dame, Morgan gegenüber, las noch, halb ausgestreckt auf einem Divan liegend, in einem Buche. Er konnte sie ungestört betrachten, konnte die[33] hell beleuchteten zarten Züge erkennen, die blonden Haare und die dunkeln Augen sehen, ebenso wie den schlanken Wuchs und den kleinen Fuß, der aus einem eleganten Unterkleide hervorlugte. Er bewunderte die Grazie ihrer Haltung und die Schönheit der Hand, die die Blätter des Buches umwendete. Wahrlich, das war eine reizende Reisegenossin, und kurze Zeit verlor er sich völlig in ihre Betrachtung.

Der Raucher machte da aber eine Bewegung, hustete und stieß mit dem Fuße auf. Beschämt über seine Indiskretion, entfernte sich Morgan von dem Oberlichtfenster und setzte seinen Spaziergang wieder fort.

Immer weiter folgte ein Leuchtturm dem andern. Zehn Minuten nach elf Uhr befand sich das Schiff gegenüber der Signalstation. In der Ferne sah man schon die Lichter von Nore und Great-Nore, zwei Wachtposten ähnlich, verloren im Ozeane.

Morgan beschloß nun, sich zur Ruhe zu begeben. Er verließ das Spardeck, ging die nach den Kabinen führende Treppe hinunter und im Gange weiter, doch gleich einem Träumer, ohne Aufmerksamkeit auf alles, was ihn umgab.

Worüber grübelte er wohl? Über das traurige Selbstgespräch von vorhin? Oder dachte er vielleicht an das liebliche Bild, das er eben bewundert hatte? Bei einem Manne von achtundzwanzig Jahren hat ja die Traurigkeit flüchtige Füße.

Zu klarerem Bewußtsein kam er indes erst, als er die Hand auf die Tür seiner Kabine legte; da bemerkte er, daß er nicht allein war.

Gleichzeitig wurden nämlich zwei andre Türen geöffnet. In die der seinigen zunächstgelegne Kabine trat eine Dame ein, und in die nächstfolgende ein Herr. Die beiden Passagiere warfen einander einen vertrauten Gruß zu, dann drehte sich aber die Nachbarin Morgans noch einmal um und streifte diesen mit einem flüchtigen Blicke, der ihm jedoch genügte, die schöne Erscheinung aus dem großen Salon wiederzuerkennen.

Er stieß nun seine Tür auf.

Als er sie hinter sich schloß, stieg das Schiff, in den Fugen knarrend, ein gutes Stück empor und sank dann wieder in einen tosenden Schaumstrudel zurück. Und in dem Augenblicke, wo sich die erste Woge herangewälzt hatte, ging es auch wie ein Pfeifen durch die Takelage vom ersten Atemzuge des offnen Meeres.[34]

Quelle:
Michel Verne: Das Reisebüro Thompson und Comp. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band XCI–XCII, Wien, Pest, Leipzig 1909, S. 25-35.
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