Fünftes Kapitel.

Aufs hohe Meer.

Allmählich nahm das Leben am Bord seinen geordneten Gang an. Um acht Uhr gab es Tee mit Gebäck, dann rief die Glocke die Passagiere um zwölf Uhr zum zweiten Frühstück und abends um sieben zur Hauptmahlzeit.

Thompson hatte, wie man hieraus sieht, die französischen Gewohnheiten unter dem Vorwande angenommen, daß die zahlreichen englischen Mahlzeiten während der geplanten Ausflüge doch nicht eingehalten werden könnten, und deshalb hatte er sie an Bord der »Seamew« von Anfang an nicht eingeführt.[62]

Keiner einzigen war dabei Gnade widerfahren, nicht einmal dem jedem englischen Magen so teuern »five o' clock«. Mit Nachdruck pries er die Nützlichkeit dieser gastronomischen Revolution und behauptete, die Reiseteilnehmer dadurch nur an die Lebensweise gewöhnen zu wollen, die sie bei dem bevorstehenden Besuche der Inseln doch notgedrungen führen müßten. Eine wirklich menschenfreundliche Vorsorge, die gleichzeitig das Verdienst hatte... Kosten zu ersparen.

Das Leben auf einem Schiffe ist zwar immer etwas eintönig, langweilig aber niemals. Immer hat man ja wenigstens das in seiner Erscheinung stets wechselnde Meer vor sich, man begegnet andern Fahrzeugen und erblickt da und dort Land, das den geometrischen Horizont unterbricht.

Was das letztere betrifft, waren die Gäste der »Seamew« freilich etwas schlecht bestellt. Nur am ersten Tage hatte sich im Süden, von Dünsten halb verhüllt, die französische Küste bei Cherbourg gezeigt; weiterhin aber hatte sich kein fester Punkt mehr über die endlose Wasserfläche erhoben, deren beweglichen Mittelpunkt der Dampfer bildete.

Die Passagiere schienen sich diesen Umständen jedoch recht leidlich anzupassen. Auf und ab wandelnd und ungezwungen plaudernd, vertrieben sie sich die Zeit nach besten Kräften und verließen fast niemals das Spardeck, das ihnen als Salon und öffentlicher Versammlungsplatz diente.

Doch hier handelte es sich – wohl zu merken – nur um die nicht erkrankten Passagiere, deren Zahl sich leider nicht vergrößert hatte, seit die Zuhörerschaft Thompsons so plötzlich arg dezimiert worden war.

Der Dampfer hatte indes keineswegs mit ernstern Schwierigkeiten zu kämpfen. Im Munde eines Seemanns verdiente das Wetter fortwährend das Prädikat: Schön. Eine bescheidne »Landratte« hat freilich das Recht, hierüber andrer Ansicht zu sein. Die »Landratten« der »Seamew« straften diesen Satz auch nicht Lügen und genierten sich nicht im geringsten, über den steifen Wind zu schimpfen, der das Meer zwar nicht aufwühlte, es aber doch spritzend an den Schiffsrumpf klatschen ließ.

Gerechterweise muß man jedoch anerkennen, daß das Schiff diese Neckerei nicht ernst zu nehmen schien. Ob eine Welle von vorn oder von der Seite herandringen mochte, immer erwies es sich als ein gutes, ehrenhaftes Fahrzeug. Kapitän Pip hatte das wiederholt ausgesprochen, und die verschwisterte Seele in hergebrachter Haltung das Geständnis seiner vollen Zufriedenheit ebenso vernommen, wie vorher das seines Unwillens über den Nebel.[63]

Die nautischen Eigenschaften der »Seamew« konnten menschliche Wesen jedoch nicht daran hindern, seekrank zu werden, und der General-Unternehmer konnte das Licht seiner organisatorischen Talente nur vor einem sehr dünn gesäten Publikum leuchten lassen.

Zu den Widerstandsfähigsten gehörte immer Herr Saunders. Er lief von dem einen zum andern, gern gesehen von allen, die sich über sein witziges Temperament belustigten. Jedesmal, wenn Thompson und er einander kreuzten, wechselten beide einen Blick aus, der einem Degenstich gleichkam. Der General-Unternehmer hatte die abfällige Bemerkung vom ersten Reisetage nicht vergessen, sondern bewahrte davon immer noch ein Gefühl bittrer Kränkung. Saunders tat übrigens nichts, seinen etwas groben Ausfall abzuschwächen, im Gegenteil ergriff er begierig jede Gelegenheit, recht unangenehm zu werden. Wenn zu einer Mahlzeit nicht genau zur bestimmten Minute geläutet wurde, erschien er mit dem Programm in der Hand und überfiel Thompson mit den schwersten Vorwürfen. Der unglückliche General-Unternehmer überlegte sich deshalb schon, ob er nicht ein Mittel suchen sollte, sich des lästigen Passagiers bei der ersten Landung zu entledigen.

Saunders hatte sich vor allem an die Familie Hamilton angeschlossen. Zur Überwindung ihres passiven Widerstandes war ihm die Übereinstimmung im Geschmack und Verhalten ein erfolgreicher Helfer. Ohne jeden Grund zeigte sich Hamilton nämlich ebenso unliebenswürdig wie Saunders. Er gehörte zu den Leuten, die als Nörgler geboren werden und als solche sterben, zu denen, die überall etwas auszusetzen haben und erst dann kurze Zeit zufrieden sind, wenn sie eine Ursache sich zu beklagen entdeckt haben. Bei allen seinen Reklamationen hatte Saunders an ihm einen willigen Sekundanten: Hamilton war stets sein Echo. Wegen nichts und wieder nichts lasteten die beiden, ewig unzufriedenen Männer wie ein Alp auf dem bemitleidenswerten Thompson.

Das Trio Hamilton, das sich durch die Angliederung von Saunders zum Quartett verwandelt hatte, hatte sich schließlich sogar zu einem Quintett erweitert. Der glückliche Bevorzugte war Tigg, dem der vornehme Baronet mit herablassender Freundlichkeit entgegenkam. Ihm gegenüber hatten Vater, Mutter und Tochter ihre Steisleinigkeit abgelegt. Vermutlich war das aber nicht aus freiem Entschlusse geschehen, wahrscheinlich hatten sie über Tigg das und jenes erfahren, und die mitanwesende Miß Margarett ließ da ja wohl manche Hypothesen zu.[64]

Wie dem aber auch sein mochte, jedenfalls lief der so behütete Tigg jetzt keinerlei Gefahr. Beß und Mary Blockhead waren ersetzt. Ja, wenn sie zur Stelle gewesen wären! Doch die Misses Blockhead waren ebensowenig wieder aufgetaucht wie deren Vater, Mutter und Bruder. Die interessante Familie laborierte noch immer an allen Qualen der Seekrankheit.

Zwei der gesunden Passagiere bildeten einen symmetrischen Gegensatz zu Saunders und Hamilton... Die beklagten sich niemals, sie schienen vollkommen befriedigt zu sein.

Van Piperboom – aus Rotterdam – war einer dieser Glücklichen. Der kluge Holländer verzichtete auf das, was hier nun einmal unerreichbar war, und suchte sich dafür möglichst gute Tage zu machen. Von Zeit zu Zeit, wie zur Gewissensberuhigung, wiederholte er nur seine berühmte Frage, die die meisten andern Passagiere jetzt schon auswendig wußten. Die übrige Zeit verbrachte er damit, zu essen, zu verdauen, zu rauchen und zu schlafen... alles so gründlich wie möglich. Sein ganzes Leben ging in diesen vier Wörtern auf. Von polizeiwidriger Gesundheit, schleppte er seinen mächtigen Körper von einem Sitzplatze zum andern, stets begleitet von einer gewaltigen Pfeife, aus der ungeheure Rauchwolken aufstiegen.

Johnson bildete das Gegenstück zu diesem Philosophen. Täglich zwei- oder dreimal sah man ihn auf dem Deck erscheinen. Hier lief er, ohne andre anzusehen, schnüffelnd, ausspuckend und fluchend hin und her oder rollte vielmehr dahin wie eine Tonne, um dann wieder im Kaffeesalon zu verschwinden, von wo aus man ihn bald einen Cocktail (versüßten Branntwein) oder Grog verlangen hörte. Wenn auch keine besonders angenehme, war er wenigstens keine lästige Persönlichkeit.

Mitten unter der Gesellschaft führte Robert Morgan eine friedliche Existenz. Zuweilen wechselte er einige Worte mit Saunders, zuweilen auch mit Roger de Sorgues, der seinem Landsmanne besonders wohlgewogen zu sein schien. Während Morgan bisher gezögert hatte, die von Thompson bezüglich seiner Person erfundene Sage zu zerstören, bemühte er sich doch, sie nicht über Gebühr auszunutzen. Er verhielt sich etwas verschlossen und gab sich nur keine Blöße.

Der Zufall hatte ihn bis jetzt nicht weiter mit der Familie Lindsay in Berührung gebracht. Des Morgens und des Abends tauschte man wohl einen Gruß aus. Das war aber auch alles. Trotz der sehr unbedeutenden Beziehung interessierte sich Morgan doch auch ferner für diese Familie und empfand sogar[65] etwas wie Eifersucht, als er bemerkte, daß Roger de Sorgues, den Thompson den amerikanischen Damen vorgestellt hatte, mit diesen in vertrautern Verkehr trat.

Fast immer allein und unbeschäftigt, blieb Morgan vom Morgen bis zum Abend auf dem Spardeck und überredete sich, eine Zerstreuung in dem Hin- und Herwandeln der Passagiere zu finden. Einige darunter interessierten ihn auch wirklich, und vor allem folgten seine Blicke, ohne daß er's dachte, der Familie Lindsay. Bemerkte er dann plötzlich selbst seine indiskrete Aufmerksamkeit, so wendete er die Augen sofort weg, doch nur, um sie drei Sekunden später wieder auf die ihn hypnotisierende Gruppe zu richten.

Dadurch, daß er sich soviel mit ihnen beschäftigte, wurde er, sich selbst und diesen unbewußt, zu einer Art Freund der beiden Schwestern. Er erriet schon ihre unausgesprochenen Gedanken und verstand ihre Worte, obwohl er diese nicht hörte. So lebte er aus der Ferne mit der lustigen Dolly, vorzüglich aber mit Alice, deren einnehmendes und ernsteres Wesen er unter ihrem reizenden Gesicht zu erkennen glaubte.

Während er sich aber ganz instinktiv mit den Begleiterinnen Jack Lindsays beschäftigte, bildete dieser für Morgan den Gegenstand eines bewußten Studiums. Der erste Eindruck, den er von dem Mann erhalten hatte, hatte sich nicht im mindesten geändert. Von Tag zu Tag wurde sein Urteil über ihn nur härter. Er verwunderte sich nicht wenig, daß Alice und Dolly eine Reise in Gesellschaft einer solchen Persönlichkeit hatten unternehmen können. Sahen sie denn wirklich nicht, was er doch sah?

Morgan würde freilich noch erstaunter gewesen sein, wenn er gewußt hätte, unter welchen Umständen diese Reise beschlossen worden war.

Die Zwillingsbrüder Jack und William Lindsay waren zwanzig Jahre alt gewesen, als ihr Vater starb, der ihnen ein beträchtliches Vermögen hinterließ. Obwohl von gleichem Alter, waren die beiden Brüder doch von Charakter sehr verschieden. William setzte die Tätigkeit seines Vaters fort und vermehrte dabei sein Vermögen in beträchtlichem Maße, Jack dagegen verschwendete sein Hab und Gut, und kaum nach vier Jahren war er damit so gut wie am Ende.

Jetzt blieb ihm nichts andres übrig, als jedes, selbst jedes zweifelhafte Mittel zu ergreifen, um sich einigermaßen über Wasser zu halten. Man sprach denn auch bald mit halbverhüllten Worten von verdächtigen Manipulationen im Spiele, von betrügerischen Kniffen bei sportlichen Wettkämpfen und fragwürdigen Geschäften an der Börse. Wenn auch nicht geradezu in Verruf erklärt, haftete[66] an ihm doch ein gewisser Makel, der vorsichtige Familien bestimmte, ihn von sich fernzuhalten.

So lagen die Dinge, als William, damals sechsundzwanzig Jahre alt, Alice Clarck kennen und bald lieben lernte; er heiratete dann auch die achtzehnjährige, vom Hause aus sehr reiche Waise.

Leider sollte ihm ein unglückliches Schicksal beschieden sein. Sechs Monate – fast genau auf den Tag – nach seiner Verehelichung wurde er sterbend nach seinem Hause gebracht. Ein unerwarteter Unfall auf der Jagd machte die junge Frau urplötzlich zur Witwe.

Ehe er jedoch die Augen schloß, hatte William noch seine Angelegenheiten zu ordnen vermocht. Seinen Bruder kannte er ja mehr als genügend. Deshalb bestimmte er testamentarisch, daß sein gesamtes Vermögen seiner Gattin zufallen sollte, der nur die Verpflichtung auferlegt wurde, den elenden Jack durch eine ziemlich große Jahrespension zu unterstützen.

Für Jack war das ein niederschmetternder Schlag. Er schäumte vor Wut und verfluchte fast seinen Bruder. Gegen das Schicksal aufgebracht, ergrimmte er gegen all und jeden. Vom leichtfertigen Bösewicht wurde er zum rachgierigen Wilden.

Eine weitere Überlegung beruhigte ihn aber wieder. Statt sich an dem Hindernisse törichterweise den Schädel einzurennen, beschloß er, es durch eine planmäßige Belagerung zu überwinden. Ein brauchbar erscheinendes Mittel, die Verhältnisse zu seinem Vorteil zu verändern, bot sich ihm dar in der Unerfahrenheit seiner Schwägerin, die er nun selbst zu heiraten gedachte, wodurch ihm ja das Vermögen zugefallen wäre, dessen er sich ungerechterweise beraubt glaubte.

Diesem Plane entsprechend, änderte er auf der Stelle seine bisherige Lebensführung und bemühte sich, die Quellen übler Nachreden über sich zu verstopfen.

Seit dieser Zeit waren nun aber schon fünf Jahre verflossen, ohne daß Jack es gewagt hätte, seine Absichten zu offenbaren. Die kalte Zurückhaltung Alicens war ihm stets eine unübersteigliche Schranke gewesen. Da hielt er die Gelegenheit für günstig, als die junge Witwe – wie es die amerikanische Freiheit ihr ermöglichte – beschloß, mit ihrer Schwester eine Reise nach Europa zu unternehmen, während ihr gleichzeitig eine Ankündigung von Thompson and Co. zu Gesicht kam, die sie veranlaßte, auch an der von dem Reisebureau veranstalteten Gesellschaftsfahrt teilzunehmen. Kühner geworden, bot sich ihr Jack als Reisebegleiter an, was Alice nicht ohne Widerwillen endlich annahm. Jedenfalls[67] mußte sie sich dazu Gewalt antun. Jack schien sich ja aber seit langer Zeit gebessert und ein regelmäßigeres Leben geführt zu haben. Vielleicht war jetzt die Stunde gekommen, ihn selbst eine Familie gründen zu lassen.

Sein Anerbieten hätte sie aber bestimmt abgelehnt, wenn ihr die Pläne ihres Schwagers bekannt gewesen wären, wenn sie ihn hätte vollständig durchschauen und erkennen können, daß Jack derselbe wie früher geblieben, vielleicht gar noch schlechter geworden, daß er ein Mensch war, der zur Erreichung eines Vermögens vor nichts mehr, weder vor leichten Streichen und offenbaren Gemeinheiten, noch vor einer etwa drohenden gesetzlichen Ahndung zurückschreckte.

Übrigens hatte sich Jack seit der Abfahrt von New York noch keine Andeutung erlaubt auf das, was er unverfroren »seine Liebe« nannte, und auch an Bord der »Seamew« war er aus seiner klugen Zurückhaltung nicht herausgetreten. Schweigsam kettete er nur seine Person an die beiden Schwestern und hütete seine Gedanken in Erwartung einer günstigen Gelegenheit. Seine Stimmung verdüsterte sich etwas, als Roger de Sorgues den amerikanischen Damen vorgestellt worden war und sich durch seine Heiterkeit und sein weltmännisches Auftreten schnell deren Gunst erworben hatte. Es beruhigte ihn jedoch einigermaßen, als er sah, daß Roger sich bei weitem mehr mit Dolly als mit deren Schwester beschäftigte.

Um die andern Gäste der »Seamew« bekümmerte er sich gar nicht; für ihn waren sie so gut wie nicht vorhanden, und Morgans Anwesenheit übersah er mit völliger Mißachtung.

Alice war weniger hochmütig. Ihre weibliche Scharfsichtigkeit ließ sie das offenbare Mißverhältnis zwischen der untergeordneten Stellung des Dolmetschers und seiner ganzen Erscheinung erkennen, ebenso wie die kühle Höflichkeit, womit er jede Anfreundung gewisser Passagiere, und vorzüglich des Roger de Sorgues, aufnahm.

»Was halten Sie dort von Ihrem Herrn Landsmann? hatte sie eines Tages Roger gefragt, der an Morgan eben einige in gewohnter Weise aufgenommene Worte gerichtet hatte. Er scheint mir von wenig umgänglicher Natur zu sein.

– Ja, er ist etwas stolz und beharrt darauf, sich seiner Stellung anzupassen, antwortete der Franzose, ohne seine offenbare Sympathie für den diskreten Landsmann zu verhehlen.[68]

– Er muß sonst bestimmt eine weit höhere einnehmen, da er hier eine so sichre und würdige Zurückhaltung bewahrt,« erwiderte Alice einfach.

Morgan sollte aber doch bald genötigt sein, seine Zurückhaltung aufzugeben. Die Stunde nahte schon, wo er den von ihm übernommenen Verpflichtungen nachkommen mußte. Die gegenwärtige Ruhe hatte ihn seine wirkliche Stellung bisher fast vergessen lassen. Der unbedeutendste Vorfall mußte ihn aber doch daran erinnern, und dazu sollte es kommen, ehe die »Seamew« zum ersten Male Land angelaufen hatte.

Seit das Schiff über den Ärmelkanal hinausgekommen war, hatte es beständig einen westsüdwestlichen Kurs eingehalten, etwas weniger nach Süden, als es nötig gewesen wäre, um auf die Hauptgruppe der Azoren zu treffen. Der Kapitän Pip steuerte nämlich absichtlich auf deren westlichste Inseln zu, da er seine Passagiere zuerst deren Anblick genießen lassen wollte. Der Gestaltung der Umstände nach schien es freilich nicht so, als ob sie von dieser Aufmerksamkeit Thompsons einen besonderen Vorteil haben sollten.

Einzelne Worte, die ihm hierüber zu Ohren kamen, erregten die Neugier Rogers.

»Können Sie mir wohl sagen, Herr Professor, fragte er Morgan vier Tage nach der Abfahrt, welches die ersten Inseln sind, die die »Seamew« in Sicht bekommen wird?«

Morgan wurde etwas verlegen, darauf wußte er keine Antwort.

»Na na, schon gut, sagte Roger, darüber wird uns ja der Kapitän Auskunft geben. Die Azoren, glaube ich, gehören ja wohl den Portugiesen? fuhr er nach einer kurzen Pause fort.

– Hm, ja, stammelte Morgan, das glaube ich eben falls.

– Ich muß Ihnen gestehen, Herr Professor, daß ich von allem, was diesen Archipel betrifft, so gut wie gar nichts weiß, sagte Roger. Glauben Sie überhaupt, daß er uns etwas wirklich Interessantes zu bieten haben wird?

– O, gewiß! versicherte Morgan.

– Und welcher Art dürfte das wohl sein? Vielleicht Naturmerkwürdigkeiten?

– Ja, das versteht sich, beeilte sich Morgan zuzustimmen.

– Und wohl auch sehenswerte Bauwerke?

– Ja freilich, Baudenkmäler auch.«

Roger sah den Dolmetscher etwas erstaunt an. Um seine Lippen spielte ein schalkhaft-spöttisches Lächeln, und noch einmal begann er zu fragen:[69]

»Ein letztes Wort, mein Herr Professor. Dem Programm nach sollen wir drei Inseln, Fayal, Terceira und San Miguel besuchen. Gehören zu der Gruppe nicht auch noch andere? Mistreß Lindsay wünschte zu erfahren, aus wie vielen Inseln diese bestände, und ich habe ihr das nicht sagen können.«

Morgan fühlte sich wie auf die Folter gespannt. Er erkannte etwas spät, daß er ganz und gar nichts von dem wußte, worüber er den Passagieren seinen Obliegenheiten gemäß Auskunft zu erteilen hätte.

»Im ganzen aus fünf, erklärte er aufs Geratewohl.

– Besten Dank, Herr Professor!« sagte endlich Roger etwas höhnisch, während er sich von seinem Landsmanne verabschiedete.

Kaum allein, lief dieser spornstreichs nach seiner Koje. Vor der Abreise aus London hatte er sich vorsichtigerweise eine Sammlung Bücher beschafft, die ihn über die im Laufe der Reise zu berührenden Länder belehren konnten, und jetzt ärgerte er sich, diese törichterweise nicht vorher zu Rate gezogen zu haben.

Nun durchflog er den Baedeker für die Azoren. Ach, wie hatte er sich geirrt, dem Archipel nur fünf Inseln zuzuteilen, er zählte deren ja volle neun. Morgan fühlte sich tief gedemütigt und wurde hochrot, obwohl niemand seine Beschämung sehen konnte. Jetzt beeilte er sich, die verlorne Zeit einzubringen. Ganze Tage lang steckte er die Nase in die Bücher, und sein Kabinenfensterchen war schon lange vor dem Dunkelwerden erleuchtet. Roger bemerkte das und machte sich darüber nicht wenig lustig.

»Aha, ein fleißiger, aber unglücklicher Schüler, mein guter Freund da drin, sagte er lachend. Nun ja, der ist ebensogut Professor, wie ich Papst bin!«

Am Morgen des siebenten Tages, d. h. am 17. Mai früh acht Uhr, suchten Saunders und Hamilton den Agenten Thompson auf, und der erste machte ihm trocknen Tones die Bemerkung, daß die »Seamew« laut Programm in der letzten Nacht hätte vor Horta, der Hauptstadt der Insel Fayal, vor Anker gehen müssen. Thompson entschuldigte sich so gut wie möglich und erklärte die Abweichung vom Programme mit dem Zustande des Meeres, da doch nicht vorauszusehen gewesen sei, daß man hier mit völlig widrigem Winde und mit so schweren Wellen zu kämpfen haben würde. Die beiden Reisegenossen verzichteten auf eine weitere Erörterung der Sache. Sie hatten die vorgekommene Unregelmäßigkeit festgenagelt, das genügte ihnen für den Augenblick. So zogen sie sich denn mit würdiger Miene zurück, und der Baronet ergoß seine Galle in den Schoß seiner Familie.[70]

Man hätte übrigens fast glauben können, daß das Schiff selbst und die Elemente sich von der Unzufriedenheit eines so hochstehenden Reisenden getroffen fühlten. Der Wind, der schon von den ersten Tagesstunden an eine Neigung zum Abflauen gezeigt hatte, nahm allmählich noch weiter ab, und gleichzeitig beruhigte sich damit natürlich auch der Seegang. Der Dampfer kam schneller vorwärts und der Ausschlagswinkel seiner Bewegungen wurde entsprechend kleiner. Bald hatte sich der Wind, wenn er auch die Richtung von vorne beibehielt, zu einer leichten Brise verwandelt, und die Insassen der »Seamew« glaubten sich zurückversetzt auf das friedliche Gewässer der Themse.

Die Folgen dieser günstigen Veränderung traten denn auch bald zutage. Die unglücklichen, seit sechs Tagen fast unsichtbar gebliebenen Passagiere erschienen einer nach dem andern wieder auf dem Verdecke... freilich wachsbleich im Gesichte und mit erschlafften Zügen... beklagenswerte Ruinen alle miteinander.

Ohne diese Wiederauferstehung sonderlich zu beachten, überflog Robert Morgan, an eine Relingstütze gelehnt, mit forschendem Blicke den Horizont und suchte vergeblich, das nächste Land zu erkennen.

»Entschuldigen Sie, Herr Professor, erklang da plötzlich eine Stimme hinter ihm, sind wir jetzt nicht hier an der Stelle, die einstmals der später versunkne Kontinent Atlantis eingenommen haben soll?«

Als Morgan sich umdrehte, sah er sich Roger de Sorgues, und Alice und Dolly Lindsay gegenüberstehen.

Wenn Roger aber etwa gehofft hatte, seinen Landsmann auf den Leim zu führen, sollte er sich arg getäuscht haben. Die frühere Lektion hatte ihre Früchte getragen: Morgan war jetzt gepanzert gegen derartige Angriffe.

»Ganz richtig, Herr de Sorgues, sagte er.

– Diese Landfeste hat es also wirklich gegeben? fragte darauf Alice.

– Ja, wer kann das wissen? antwortete Morgan. Ob Sage oder Wahrheit, jedenfalls herrscht eine große Ungewißheit bezüglich des einstigen Vorhandenseins dieses Festlandes.

– Gibt es vielleicht, fragte Alice weiter, dennoch Anhaltspunkte, die dafür sprechen?

– Gewiß, mehrere, erklärte Morgan, der nun vortrug, was er aus seinem Bücherschatz gelernt hatte. Ohne von der Meropis zu reden, von der aus Midas, nach Theopompos von Chios, Kenntnis von dem armen und alten Silea erlangt hatte, ist mindestens noch die Schilderung des göttlichen Plato erhalten. Durch[71] Plato wurde die Überlieferung zum Berichte, die Legende zur Geschichte. Ihm ist es zu verdanken, daß es in der Kette der Erinnerung an keinem Gliede fehlt. Er knüpfte Jahr an Jahr, Jahrhundert an Jahrhundert bis zurück ins graueste Altertum. Die Tatsachen, die Plato aufzählt, entnahm er Kritias, der sie wieder, als er sieben Jahre zählte, aus dem Munde seines damals neunzigjährigen Urgroßvaters Dropidas erfahren hatte. Dropidas wieder erzählte da nichts andres, als was er viele Male von seinem vertrauten Freunde Solon, einem der sieben Weisen Griechenlands und Gesetzgeber von Athen, gehört hatte. Solon aber erzählte ihm, wie er von den Priestern der damals schon achthundert Jahre alten ägyptischen Stadt Saïs gehört hätte, daß deren Denkmäler Inschriften enthielten in bezug auf blutige Kriege, die zwischen einer alten, noch tausend Jahre vor Saïs gegründeten, griechischen Stadt und den zahllosen Scharen geführt worden seien, die von einer sehr großen, jenseits der Säulen des Herkules gelegenen Insel gekommen wären. Wenn diese Überlieferung zuverlässig ist, hätte die verschwundene Rasse der Atlanten also acht-bis zehntausend Jahre vor Christus gelebt, und hier, wo wir jetzt schwimmen, würde ihre Heimat gelegen haben.

– Wie konnte aber, warf Alice nach kurzem Stillschweigen ein, ein so umfänglicher Kontinent überhaupt gänzlich verschwinden?«

Morgan zuckte statt einer Antwort mit den Achseln.

»Und von dem großen Lande wäre nichts, nicht ein Stein übrig geblieben?

– O... doch, versicherte Morgan. Zahlreiche Pics, Berge und Vulkane überragen la die Meeresfläche noch heute. Die Azoren, Madeira, die Kanarischen Inseln und die des Grünen Vorgebirges sind gewiß solche Überreste. Das andre ist verschlungen worden. Auf den einst angebauten Ebenen ist das Schiff an Stelle des Pflugs getreten. Alles sonst, mit Ausnahme der stolzen Gipfel, ist in unergründliche Tiefen versanken, alles verschwunden unter den Fluten... Städte und Einzelgebäude ebenso wie die Menschen, von denen keiner verschont geblieben war, andern von der entsetzlichen Katastrophe zu berichten.«

Das letztere war nicht im Baedeker zu lesen. Morgan hatte seiner Phantasie die Sporen gegeben, er kombinierte frisch darauf los.


Die Tafel war von oben bis unten voll besetzt. (S. 74.)
Die Tafel war von oben bis unten voll besetzt. (S. 74.)

Übrigens lohnte ihm ein glücklicher Erfolg, seine Zuhörer schienen tief ergriffen zu sein. Lag das Unglück auch zehntausend Jahre zurück, so war es den noch über alle Maßen furchtbar und ohne seinesgleichen auf der Erde.[72] Alle drei blickten auf die Wasserwüste hinunter und dachten an die Geheimnisse, die der Abgrund verbergen mochte. Da unten waren dereinst Ernten gereist, hatten sich Blumen erschlossen und die Sonnenstrahlen über Gebieten geleuchtet, die jetzt in ewige Finsternis gehüllt waren. Da unten hatten Vögel gezwitschert, hatten Menschen geatmet, Frauen geliebt und junge Mädchen und Mütter geweint. Und über diesem Geheimnisse des Lebens, der Leidenschaft und des Schmerzes lag jetzt, wie über einem ungeheuern Grabe, das undurchdringliche Leichentuch des Weltmeers ausgebreitet.[73]

»Bitte um Entschuldigung, mein Herr, ließ sich jetzt eine Stimme vernehmen, ich habe von dem, was Sie eben erklärten, nur das Ende gehört. Wenn ich Sie recht verstanden habe, hätte sich an dieser Stelle ein entsetzliches Unglück zugetragen. Da ist es doch etwas auffällig, werter Herr, daß man in den Zeitungen kein Wort davon gelesen hat!«

Als sich die Plaudernden völlig verblüfft über diese Bemerkung umwandten, sahen sie den liebenswürdigen Mr. Blockhead, von seiner Familie begleitet, vor sich stehen. Ach, wie blaß sahen die Gesichter aus, wie stark war die interessante Familie abgemagert!

Roger unterzog sich der Beantwortung jener Worte.

»Ach, Sie sind es, lieber Herr! Endlich wiedergenesen! Meinen Glückwunsch! Doch wie, Sie haben in den Tageszeitungen keine Mitteilung über die hier vorgekommene Katastrophe gefunden? Ich kann Ihnen aber versichern, daß davon lange Zeit die Rede gewesen ist.«

Da ertönte die Glocke, die zum Frühstück rief, und schnitt damit eine Antwort Blockheads ab.

»Ah, das ist ein Ton, den ich gern höre!« rief er nur noch.

Schnell trabte er sofort dem Speisesaal zu, und Mrs. Georgina nebst ihrem Sohne Abel eilten ihm nach. Doch seltsam! Miß Beß und Miß Mary zeigten gar nicht eine solche Eile, die nach so langer Fastenzeit nur natürlich erschienen wäre. Nein, sie hatten sich vereint nach dem Hinterdeck begeben. Von da sah man sie mit dem glücklich wieder eroberten Tigg zurückkehren. Auch die Hamiltons machten sich jetzt lächelnd und mit zusammengekniffnen Lippen auf den Weg zum Salon.

Tigg aber ähnelte einem modernen Paris jetzt so sehr, daß sich gewiß die Göttinnen neuern Stils um ihn gestritten hätten. Das Sprichwort sagt ja, daß im Reiche der Blinden der Einäugige König sei, und Miß Margarett war hier wirklich die Venus des himmlischen Trios. Der Miß Mary wäre dann die Rolle der Juno und der Miß Beß, schon wegen ihrer kriegerischen Gestalt, die der Minerva zugefallen. Augenblicklich zeigte es sich deutlich, daß hier, entgegen der allgemein anerkannten Überlieferung, Minerva und Juno triumphierten, Venus aber sah grün vor Wut aus.

Zum ersten Male seit langer Zeit war die Tafel von oben bis unten voll besetzt, und Thompson hatte recht gemischte Gefühle angesichts der großen Zahl von Tischgästen.[74]

Gegen Ende der Mahlzeit richtete Blockhead quer über die Tafel hinweg an ihn folgende Worte:

»Ich habe soeben gehört, werter Herr Thompson, daß diese Seegegend der Schauplatz eines furchtbaren Naturereignisses gewesen sein soll, bei dem ein großes Landgebiet völlig versunken wäre. Ich halte es deshalb für angezeigt, unter uns zugunsten der Opfer dieser Katastrophe eine Subskription zu eröffnen, zu der ich gern ein Pfund Sterling zeichnen würde.«

Thompson sah nicht danach aus, als ob er ihn verstände.

»Von welcher Katastrophe sprechen Sie denn, lieber Herr Blockhead? – Zum Kuckuck, ich habe von einer solchen ja keine Silbe gehört!

– Nun, um eine Erfindung von mir handelt es sich nicht, erwiderte Blockhead etwas spitzig. Ich habe die Sache aus dem Munde des Herrn Professors erfahren, und der andre Herr aus Frankreich, der neben ihm sitzt, hat mir bestätigt, daß jenes Unglück in den Zeitungen erwähnt worden ist.

– Ja ja, das stimmt! rief Roger, als er bemerkte, daß von ihm die Rede war. Das ist ganz richtig! Nur hat sich die Katastrophe nicht in der jüngsten Zeit ereignet, es sind schon einige Jahre darüber hingegangen. Es war... erlauben Sie... wohl etwa vor zwei Jahren?... Nein doch, vor weit längerer Zeit. Es war... ja, jetzt erinnere ich mich... es war genau vor achttausend Jahren, wo die Atlantis unter die Fluten versank. Das habe ich, mein Wort darauf, in der Zeitung des alten Athen gelesen!«

Die ganze Tafelrunde brach in ein schallendes Gelächter aus, nur Blockhead stand mit aufgesperrtem Munde da. Vielleicht wollte er böse werden, man hatte ihm ja einen gar so argen Streich gespielt, doch da unterdrückte eine vom Verdeck herabschallende Stimme noch rechtzeitig alles Gelächter und seinen Zorn zugleich.

»Land vor Backbord!« rief ein Matrose.

In einem Augenblicke hatte sich der Salon geleert. Nur der Kapitän Pip blieb an seinem Platze und aß ruhig weiter.

»Die haben alle, wie es scheint, noch niemals ein Land gesehen, nicht wahr?« fragte er einen Nachbar, der getreu bei ihm ausgehalten hatte.

Die Passagiere waren nach dem Spardeck hinausgeeilt und bemühten sich, die Blicke nach Südost gerichtet, das gemeldete Land zu erkennen. Es dauerte aber noch eine volle Viertelstunde, ehe ihre für so etwas nicht geübten Augen einen Streifen am Horizonte erkennen konnten, der wie eine dort lagernde Wolke aussah.[75]

»Dem von uns eingehaltnen Kurse nach, sagte Morgan zu seinen nächsten Nachbarn, muß das Corvo, das heißt, die nördlichste und zugleich westlichste Insel der Gruppe, sein.

Die Inselgruppe der Azoren besteht aus drei scharf getrennten Teilen. Der mittelste umfaßt fünf Inseln: Fayal, Terceira, San Jorge, Pico und Graciosa; zu dem im Nordwesten gehören die beiden Inseln Corvo und Flores, und zu dem im Südosten ebenfalls zwei: San Miguel und Santa Maria. Außerdem gibt es hier noch das Labyrinth der las Desertas genannten Risse. Die sehr ungleich großen, fünfzehnhundertfünfzig Kilometer vom nächsten Festlande entfernten Inseln, die über eine Strecke von mehr als hundert Seemeilen verstreut liegen, enthalten zusammen kaum achtundvierzigtausend Quadratkilometer Land und beherbergen hundertsiebzigtausend Einwohner. Sie sind durch so breite Meeresarme voneinander getrennt, daß man nur selten eine von der andern aus sehen kann.

Die Entdeckung dieses Archipels wird, wie das gewöhnlich der Fall ist, verschiedenen Nationen zugeschrieben. Wie es um diese, von leerer Eitelkeit diktierten Behauptungen auch stehen mag, jedenfalls waren es zuerst portugiesische Ansiedler, die sich hier, zwischen vierzehnhundertsiebenundzwanzig und vierzehnhundertsechzig niederließen, und von denen die Inseln ihren Namen nach einer damals sehr häufig hier vorkommenden Vogelart erhielten, die die ersten Ansiedler irrtümlicherweise als zu den Gabelweihen oder zu den Habichten gehörend angesehen hatten.«

Diese ausführlichen Mitteilungen gab Morgan auf Thompsons besondern Wunsch, und zwar mit schmeichelhaftem Erfolge. Kaum hatte er den Mund geöffnet, als sich um ihn auch schon die meisten Passagiere sammelten, alle begierig, dem französischen Professor zu lauschen. Sie zogen dadurch auch noch die übrigen herbei, und bald bildete Morgan den Mittelpunkt eines großen Zuhörerkreises. Dieser konnte sich des improvisierten Vortrages nicht entschlagen, dergleichen gehörte ja zu seinen übernommenen Verpflichtungen. In die erste Reihe der Zuhörer hatte der jetzt wieder milde gestimmte Blockhead seinen Sprößling vorgeschoben. – »Achte gut auf die Worte des Herrn Professors, ermahnte er den Knaben, und merke dir hübsch, was er sagt!« – Ein andrer hier am wenigsten erwarteter Zuhörer war Van Piperboom – aus Rotterdam – denn welches Interesse konnte er an den Erklärungen nehmen, die seinen niederländischen Ohren doch ganz unverständlich blieben?... Doch, das war sein[76] eignes Geheimnis. Jedenfalls war er da, ebenfalls in der innersten Reihe und lauschte mit gespannten Ohren und offenem Munde, sichtlich bemüht, kein Wort zu verlieren. Ob er etwas verstand oder nicht... er wollte für sein Geld jedenfalls etwas haben.

Eine Stunde später verlor die Insel Corvo das Aussehen einer Wolke. Sie stieg nun, freilich in der Entfernung von fünfundzwanzig Seemeilen noch undeutlich, mehr und mehr aus dem Wasser auf. Gleichzeitig zeigte sich noch ein andres Land am Horizonte.

»Flores,« verkündigte Morgan.

Das Schiff fuhr schnell dahin. Nach und nach wurden auch Einzelheiten deutlicher sichtbar, und bald konnte man eine hohe, steil abfallende Uferwand erkennen, die sich dreihundert Meter über die Meeresfläche erhob. Die »Seamew« näherte sich ihr bis auf drei Seemeilen, dann wechselte der Kapitän den Kurs nach Süden und steuerte längs der Küste hin.

Die trostlos öde Uferwand setzte sich in gleicher Höhe weiter fort. Ihrem Fuße waren unzählige Felsen vorgelagert, woran sich die Wellen in schäumender Brandung brachen... ein schreckliches, wildes Bild. Auf die Reisegesellschaft auf der »Seamew« machte es fast einen beängstigenden Eindruck, und niemand wollte Morgans Aussage so recht glauben, wonach die wenig einladend aussehende Insel fast tausend menschliche Wesen beherbergen und ernähren sollte. Außer einigen Talmulden mit dürftigem Grün, sah man hier nur Kennzeichen von erschreckender Verwilderung... nichts von Leben auf den schwarzen Basalten, oder auf den unfruchtbaren Felsblöcken, die von der Hand einer unermeßlich großen Macht hier durcheinandergeschüttelt lagen.

»Das ist das Werk zahlreicher, verderblicher Erdbeben,« bemerkte Morgan.

Auf dieses Wort hin entstand plötzlich eine Bewegung in der Menge; mit den Ellbogen sich Platz erzwingend, drängte sich flammenden Blickes Johnson in die Mitte des Kreises und pflanzte sich herausfordernd vor dem Dolmetscher der »Seamew« auf.

»Was haben Sie da eben gesagt, Herr! rief er. Haben Sie nicht eben von Erderschütterungen gesprochen? Solche kommen also auf den Azoren vor?

– Wenigstens sind solche vorgekommen, antwortete Morgan.

– Nun, aber jetzt...?

– Jetzt, sagte Morgan, sind auf Flores und Corvo keine mehr beobachtet worden, während man das bezüglich der andern Inseln, vor allem, was San Jorge und San Miguel betrifft, nicht so sicher behaupten kann.«[77]

Als Johnson diese Antwort vernahm, geriet er in helle Wut.

»Das ist eine Erzgemeinheit! platzte er, an Thompson gewendet, heraus. Zum Teufel, so etwas verheimlicht man doch nicht vor den Leuten! Das mußte auf dem Reiseprogramm doch angegeben sein! Nun, mein Herr, Ihnen steht es ja frei, sich, wo Sie wollen, ans Land zu begeben, und ebenso allen, die töricht genug sind, Ihnen zu folgen. Merken Sie sich aber genau: Ich... ich wer... de... kei... nen Fuß... ans... Land set... zen!«

Nachdem er diese Erklärung mit Nachdruck hervorgepoltert hatte, entfernte sich Johnson ebenso brutal, wie er gekommen war, und bald hörte man seine Stimme aus dem Kaffeesalon herausdonnern.

Eine halbe Stunde später erreichte der Dampfer die Südspitze der verlassenen Insel. Hier wird die steile Uferwand niedriger und die Küste läuft in eine flache Landzunge aus, die Morgan als die Peisqueirospitze bezeichnete. Der Kapitän ließ die »Seamew« nun um zwei Viertel nach Westen abfallen und näherte sich auf geradem Wege der Insel Flores, die durch eine kaum zehn Seemeilen breite Meerenge von Corvo getrennt liegt.

Seit man es zuerst erblickt hatte, war Flores außerordentlich größer geworden. Man konnte jetzt seine allgemeine Gestaltung deutlich überschauen, vorzüglich seinen Gipfel, den neunhundertzweiundvierzig Meter hohen »Morro Grande« nebst seiner Umgebung von ansehnlichen Bergen, und davor eine etagenweise bis zum Meere abfallende Reihe lieblicher Hügel. Flores, das größer als seine Nachbarin ist, umfaßt, bei fünfzehn Meilen Länge und neun Meilen Breite, etwa hundertachtundvierzig Quadratkilometer und hat mindestens eine Bevölkerung von neuntausend Seelen. Auch sein Aussehen macht entschieden einen angenehmeren Eindruck. Die bis an den Ozean herabreichenden Hügel sind mit einem dichten grünen, stellenweise von Baumgruppen durchbrochenen Teppich bedeckt. Auf ihrem obern Teil glänzen fette Weiden in der Sonne. Darunter liegen noch von Lavamauern umschlossene und gegen Abspülung geschützte Felder. Die Passagiere freuten sich auch sichtlich über dieses einladende Bild.

Als der Kapitän Pip nur noch eine kurze Strecke von der Albernasspitze, dem nordwestlichen Vorsprunge der Insel, entfernt war, ließ er scharf nach Osten steuern. Die »Seamew« glitt dabei durch den die Zwillingsinseln scheidenden Kanal und lief nahe bei dem lachenden Flores hin, während Corvo am Horizonte mehr und mehr emportauchte. Bald wurde dann ein Kurs nach Südosten und zuletzt nach Süden eingeschlagen. Am Nachmittag gegen vier Uhr befand[78] sich die »Seamew« der Hauptstadt Santa Cruz gerade gegenüber, so daß deren von der Sonne erleuchtete Häuser leicht zu unterscheiden waren. Die Geschwindigkeit der Fahrt wurde dann gesteigert, und die »Seamew« bewegte sich, die beiden ersten Azoren hinter sich lassend, mit Volldampf auf Fayal zu.

Von Santa Cruz bis Horta, der Hauptstadt von Fayal, beträgt die Entfernung ungefähr hundertdreißig Seemeilen, die etwa in elf Stunden bequem zurückzulegen sind. Vor sieben Uhr waren die Gipfel von Flores schon kaum noch sichtbar und bald verschwanden sie gänzlich im Dunkel der Nacht.

Da für den nächsten Tag ein reiches Programm entworfen war, wurde das Deck an diesem Abend frühzeitig leer. Auch Morgan wollte es eben verlassen, als Roger de Sorgues an ihn herantrat, um nach einigen Worten ihm freundschaftlich gute Nacht zu wünschen.

»Doch erlauben Sie, lieber Landsmann, sagte er, als beide schon voneinandergehen wollten, halten Sie es für indiskret, wenn ich frage, in welchem Lyzeum Frankreichs Sie eine Professur bekleidet haben?«

Ohne in Verlegenheit zu geraten, fing Morgan an zu lachen.

»O, nur in der Einbildung unsres Herrn Thompson, antwortete er heiter. Ausschließlich ihm verdanke ich die Ernennung zu dieser Würde, ohne daß ich – das können Sie mir glauben – ihn irgendwie dazu veranlaßt hatte.«

Allein zurückbleibend, sah Roger dem andern sinnend nach.

»Nicht Professor, das hat er zugestanden. Nur zeitweilig Dolmetscher, das liegt auf der Hand. Er geht mir im Kopf herum, der junge Mann.«

Vorläufig suchte er sich der Gedanken an die Sache zu entschlagen und ging als letzter vom Deck hinunter. Das Problem reizte ihn aber doch noch immer, und als er sich auf seinem Lager ausgestreckt hatte, murmelte er unwillkürlich:

»Nein, der Gedanke verläßt mich doch nicht, daß ich den Mann schon einmal gesehen habe. Doch wo – tausend Teufel! – wo denn?«[79]

Quelle:
Michel Verne: Das Reisebüro Thompson und Comp. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band XCI–XCII, Wien, Pest, Leipzig 1909, S. 62-80.
Lizenz:

Buchempfehlung

Brachvogel, Albert Emil

Narziß. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen

Narziß. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen

Albert Brachvogel zeichnet in seinem Trauerspiel den Weg des schönen Sohnes des Flussgottes nach, der von beiden Geschlechtern umworben und begehrt wird, doch in seiner Selbstliebe allein seinem Spiegelbild verfällt.

68 Seiten, 8.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.

428 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon