Sechstes Kapitel.

Flitterwochen.

[80] Als Morgan am nächsten Tage das Deck betrat, lag das Schiff im Hafen von Horta, der Hauptstadt der Insel Fayal, bewegungslos vor Anker. Der Horizont war an allen Seiten von Land begrenzt.

Im Westen erhob sich, von ihren zwei Forts bewacht, amphitheatralisch die hübsche Stadt, in der ein Glockenturm ihrer Kirchen immer den andern überragte, und deren größte Höhe ein umfängliches Bauwerk, ein vormaliges Jesuitenkloster, einnahm.

Nach Norden reichte die Aussicht bis zur Ponta Espalamaca, die sich an der einen Seite der Reede hinzog; im Süden bis zu zwei Felsbergen, die die andre Seite abschlossen, bis zum Monte Queimado (dem »Ausgebrannten Berg«), an den sich die Hafenmole anschließt, und zur Ponta da Guia (der Führerspitze), einem alten Vulkan, in dessen tiefen Krater, den »Kessel der Hölle«, das Meer Eingang gefunden hat und der den Fischern bei stürmischem Wetter als Zufluchtsort dient.

Im Nordosten reichte der Blick unbehindert bis hinaus zu der Nordspitze der ziemlich zwanzig Seemeilen entfernten Insel San Jorge.

Im Osten endlich erhob sich die ungeheure Masse des Pico (Pics). Unter diesem Namen faßt man auch oft Insel und Berg zusammen, die im Grunde auch nur eins sind, denn aus den Fluten erheben sich die Küsten ziemlich schroff und werden allmählich, in ununterbrochner Steigung und in einer Höhe von zweitausenddreihundert Metern, selbst zum Berggipfel.

Den Gipfel konnte Robert Morgan jetzt nicht sehen; er war in zwölfhundert Meter Höhe durch einen Nebelschleier verhüllt, eine Dunstmasse, die vom Winde unaufhörlich hin- und hergeworfen wurde. Während unten der Passatwind in nordöstlicher Richtung wehte, flatterten in der Höhe abgerissene und ihre Form immer verändernde Wolkensetzen umher und verloren sich endlich, vom Gegenpassat aus Südwesten vertrieben, in entgegengesetzter Richtung.

Unterhalb dieses undurchdringlichen Schleiers, auf der regelmäßig bis zum Meere abfallenden Seite, umrahmten Wiesen, Felder und kleine Gehölze zahlreiche Quintas, wohin die reichern Bewohner Funchals vor der Hitze und den Moskitos des Sommers flüchten.[80]

Morgan war in die Bewunderung des herrlichen Panoramas versunken, als ihn die Stimme Thompsons aus seiner Betrachtung herausriß.

»Ah, guten Morgen, Herr Professor. Ein interessantes Land hier... das will ich meinen!... Wenn es Ihnen gefällig ist, Herr Professor, würde ich heute Ihre Dienste in Anspruch nehmen. Die Passagiere sollen, wie Sie wohl schon wissen, dem Programme gemäß um acht Uhr ans Land gehen, und das macht noch einige Vorbereitungen nötig.«


Beim Vorüberkommen der Kolonne.. (S. 86.)
Beim Vorüberkommen der Kolonne.. (S. 86.)

Der so höflichen Aufforderung folgend, verließ Morgan bald darauf in Begleitung Thompsons den Dampfer. Auf einem Wege längs des Ufers erreichten beide in kurzer Zeit die ersten Häuser von Horta. Da blieb Thompson bald stehen und wies mit der Hand nach einem ziemlich großen Gebäude mit einer Aufschrift in portugiesischer Sprache, die Morgan sofort übersetzte.

»Ein Hotel, sagte er, das Hotel zur Jungfrau Maria.

– Gut, mag es heißen, wie es will. Wir wollen hineingehen, Herr Morgan, und den Besitzer zu sprechen suchen.«

Dieser schien offenbar nicht an einem Überfluß von Reisenden zu leiden. Der Mann war ja noch gar nicht aufgestanden. So verlief denn eine Viertelstunde, ehe er notdürftig angekleidet und noch mit schlaftrunknen Augen vor den beiden Fremden erschien.

Da entspann sich zwischen ihm und Thompson folgendes Gespräch, wobei Morgan Fragen und Antworten übersetzte:

»Können Sie uns ein Frühstück servieren?

– Aber ich bitte Sie, um diese Stunde?...

– O nein, erst um elf Uhr.

– Gewiß. Da war es aber doch unnötig, mich so früh zu stören.

– Erlauben Sie, wir sind unser ziemlich viele.

– Zwei Personen, das sehe ich ja.

– Ganz recht, wir beide, doch auch noch dreiundsechzig andre Personen.

– Diavolo, stieß der Wirt, sich den Kopf krauend, hervor.

– Nun... also...? fragte Thompson drängender.

– Gut, gut! antwortete der Wirt schnell entschlossen, Sie werden um elf Ihre fünfundsechzig Frühstücksportionen haben.

– Zu welchem Preise?«[83]

Der Hotelier dachte einen Augenblick nach.

»Sie werden, sagte er dann, Eier, Schinken, Fisch, Hühnerbraten und eine Nachspeise für dreiundzwanzig Milreis bekommen, Wein und Kaffee inbegriffen.«

Dreiundzwanzig Milreis, d. h. etwa zwei Francs das Kuvert, das war ja zwar ein erstaunlich billiger Preis, Thompson schien aber doch andrer Meinung zu sein, denn unter Vermittlung durch seinen Dolmetscher begann er recht hartnäckig zu feilschen. Endlich kam eine Vereinbarung zu dem Preise von siebzehn Milreis, d. s. etwa hundert Francs nach französischem Gelde, als Bezahlung für die ganze Reisegesellschaft zustande.

Nach Erledigung dieser Frage folgte eine weitere Verhandlung bezüglich der Beschaffung der nötigen Transportmittel, und nach zehnminütiger Hin- und Widerrede verpflichtete sich der Gastwirt, gegen eine Entschädigung von dreißig Milreis (180 Francs) den Touristen am nächsten Morgen fünfundsechzig Reittiere, Pferde und Maulesel, diese in der Mehrzahl, zur Verfügung zu stellen. An Wagen war nicht zu denken, davon gab es auf der Insel keinen einzigen.

Als Zeuge und Mitwirkender bei diesen Unterhandlungen erkannte Morgan mit einer mit Beunruhigung gemischten Verwunderung, daß Thompson im Vertrauen auf seinen guten Stern vor Antritt der Fahrt rein für gar nichts gesorgt hatte.

»Das kann ja gelegentlich eine hübsche Geschichte werden!« sagte er für sich.

Nachdem hier alles abgemacht war, beeilten sich Thompson und Morgan, die Passagiere aufzusuchen, die auf ihren General-Unternehmer mindestens schon seit einer halben Stunde warteten.

Sie waren wirklich alle zur Stelle... eine dichtgedrängte Masse, die auf dem Kai plaudernd lebhaft gestikulierte. Alle, außer einem. Wie er erklärt hatte, war Elias Johnson an Bord zurückgeblieben... er bekräftigte durch sein strenges Fernbleiben seine Furcht vor den schrecklichen Erdbeben.

Unter der Gruppe der Passagiere herrschte offenbar eine recht üble Laune, sie verschwand jedoch von selbst beim Erscheinen Thompsons und seines Begleiters. Saunders allein glaubte seinem Unmute Luft machen zu müssen, tat das aber mit der äußersten Diskretion. Er zog nur schweigend seine Uhr hervor und wies mit dem Finger so darauf, daß Thompson schon aus einiger Entfernung erkennen mußte, daß der große Zeiger jetzt schon auf etwas über halb neun wies. Das war alles.[84]

Thompson gab sich den Anschein, nichts zu sehen. Beweglich, stets liebenswürdig, trocknete er sich nur die Stirn ab und bemühte sich, in den Passagieren eine Vorstellung von seiner aufreibenden Tätigkeit für sie zu erwecken. Allmählich bildete sich unter seiner Leitung aus der Masse der Passagiere eine sich immer mehr verlängernde Reihe. Der vorherige Wirrwarr ordnete sich zu einem in Gliedern marschierenden Regimente.

Die an diese Art zu reisen gewöhnten Engländer fügten sich willig der mehr militärischen Einreihung, die sie so natürlich fanden, daß sie fast von selbst zu sechzehn Gliedern von je vier Mann zusammentraten. Nur Roger de Sorgues kam die Sache etwas sonderlich vor und er hatte Mühe, ein Lächeln darüber zu unterdrücken.

An der Spitze der Kolonne befand sich im ersten Gliede Lady Heilbuth mit Sir Hamilton an ihrer Seite. Diese Ehre mußte man den beiden wohl zugestehen. Das schien auch die persönliche Ansicht des Baronets zu sein, der seine Befriedigung darüber deutlich zu erkennen gab. Die andern Glieder hatten sich nach eigner Wahl oder durch blinden Zufall zusammengefunden. Roger war es leicht gelungen, sich dem der Familie Lindsay einzureihen.

Thompson hatte sich der Reihe natürlich nicht angeschlossen. An der Seite der Truppe lief er, da und dort die Richtunghaltung verbessernd und jede Neigung, die Ordnung zu stören, mit mildem Ernste zügelnd, fleißig hin und her wie ein gestrenger Hauptmann oder – wohl richtiger – wie ein Feldwebel, der eine Abteilung disziplinierter Bauern zu führen hätte.

Auf ein Signal setzte sich das Ganze in Bewegung. In guter Ordnung marschierte die Truppe erst längs des Ufers hin und kam dann am Hotel zur Jungfrau Maria vorüber, dessen Besitzer ihr von seiner Tür aus mit befriedigtem Blicke folgen konnte. Hundert Schritte weiter hin schwenkte die Kolonne auf eine Aufforderung Morgans hin nach links ab und betrat nun die eigentliche Stadt Horta. Wie viel weniger einladend in der Nähe als aus der Ferne sah aber dieses Horta aus! Es bestand fast ausschließlich aus einer einzigen, sich am Ende gabelförmig teilenden Straße. Steil, eng, unregelmäßig verlaufend und schlecht gepflastert obendrein, bildete diese Straße gerade keine angenehme Promenade. Zur jetzigen Tagesstunde brütete die Sonne darin schon recht heiß von einem Ende bis zum andern, brannte empfindlich auf Nacken und Rücken und rief bald klagende Bemerkungen hervor, die unter dem strengen Blicke Thompsons nur widerwillig verstummten.[85]

Die Häuser, mit denen die Straße von Horta besetzt ist, bieten zu wenig Interesse, für die körperlichen Beschwerden geistig zu entschädigen. Sehr roh und, um den nicht so seltnen Erderschütterungen besser zu widerstehen, aus großen, dicken Lavablöcken errichtet, würden sie nur den allerbanalsten Eindruck machen ohne die Originalität, die ihnen ein außerordentlicher... Schmutz verleiht. Das Erdgeschoß dieser Häuser enthält durchweg Läden und Niederlagsräume oder Ställe und Schuppen. Die darüber gelegenen, als Wohnung dienenden Stockwerke aber sind – dank der Wärme und der Nähe der Viehställe – durch die widerlichsten Gerüche und die lästigsten Insekten verpestet.

Jedes Haus hat einen geräumigen Balkon und eine durch dichtes Gitterwerk abgeschlossene Veranda. In dieser geschützt, verweilen die eingebornen Frauen den Tag über lange Zeit, um die Straße zu überblicken, Nachbarn und Vorübergehende zu beobachten und das Tun und Lassen aller, die der Zufall ihnen vor Augen führt, tüchtig durchzuhecheln. Jetzt, in früher Tagesstunde, waren die Balkons jedoch leer, da ihre Insassen der Gewohnheit huldigen, die dem Schlafe geweihten Stunden unglaublich lange auszudehnen.

Beim Vorüberkommen der Kolonne sahen sich die wenigen Fußgänger erstaunt an, die Krämer und Handwerker traten aus ihren Türen und fragten sich kopfschüttelnd, was dieser Aufzug wohl zu bedeuten habe. War die Insel vielleicht gar überfallen worden, wie zur Zeit des Usurpators Don Miguel? Alles in allem erreichte der Zug einen wirklichen Erfolg, worüber Thompson mit Recht stolz war.

Sir Hamilton war das aber noch weit mehr. Wie er so hoch und steif aufgerichtet, den Blick immer auf einen Punkt fünfzehn Schritte voraus gefesselt, dahinschritt, schrien sozusagen alle Poren seiner Haut: »Ja, das bin ich!« Diese stolze Haltung hätte ihm beinahe einen recht übeln Streich gespielt: Da er bei der Richtung seiner Blicke nicht auf die eignen Füße sah, stolperte der vornehme Baronet auf dem sehr unebnen Pflaster und fiel, so lang er war, zu Boden. Ein gewöhnlicher Herr hätte sich ja nicht besonders viel aus dem Unfall gemacht. Während Sir Hamilton dabei aber mit heilen Gliedern weggekommen war, hatte unglücklicherweise ein sehr notwendiges Zubehör seiner Toilette schwer Schaden gelitten: Sir Hamiltons Lorgnon war bei dem Sturze zerbrochen. Grausames Geschick! Welches Vergnügen konnte der Mann hierauf noch genießen, da er vom stark Kurzsichtigen zum halb Blinden geworden war?

Der immer aufmerksame Reiseunternehmer Thompson hatte jedoch alles beobachtet. Er beeilte sich, den Baronet auf einen Uhrenladen hinzuweisen, an[86] dessen Schaufenster man auch einige, übrigens recht minderwertige optische Artikel sah, und unter Morgans Vermittlung wurde mit dem Ladeninhaber bald ein Geschäft abgeschlossen. Für zwei Milreis (ungefähr 12 Francs) übernahm es der Händler, das Instrument bis zum nächsten Morgen zu reparieren.

Im Weiterziehen wurden dann Kirchen und Klöster besucht, die kein besondres Interesse boten. Von Kirchen zu Klöstern und von Klöstern zu Kirchen gehend, erreichte die Gesellschaft endlich die die Stadt beherrschende Höhe, und schwitzend und keuchend, doch immer in guter Ordnung, machte sie vor dem alten, mit der Vorderseite nach dem Meere gerichteten Jesuitenkloster Halt. Hier lösten sich dann die Glieder der Kolonne auf ein Zeichen Thompsons, und schnell bildete sich ein Kreis um Robert Morgan. Blockhead hatte seinen jungen Sohn Abel wieder in die erste innere Reihe vorgeschoben, und neben dem Knaben stand – eine sperrige, umfängliche Masse – Herr Van Piperboom aus Rotterdam.

»Sie sehen hier, meine Herrschaften, begann Morgan im Tone des berufsmäßigen Fremdenführers, das alte Kloster der Jesuiten, eines der schönsten Bauwerke, die sie auf den Azoren errichtet haben. Sie können es laut unserm Programm besuchen. Ich glaube Ihnen aber bemerken zu müssen, daß dieses Gebäude sich wesentlich nur durch seine Größe auszeichnet, ein künstlerisches Interesse aber nicht bietet.«

Die schon von den vorhergegangenen Besuchen ermüdeten Touristen gaben sich hiermit zufrieden. Nur Hamilton bestand, das Programm in der Hand, auf dessen strenger Durchführung und trat in stolzer Haltung in das Kloster ein. Blockhead bemerkte scharfsinnig, man hätte sich doch wenigstens über die auffälligen Größenverhältnisse des Bauwerkes näher unterrichten können, niemand wollte aber auf die Worte des Ehren-Krämers hören.

»Wir gehen also zum nächsten Punkte des Programmes über,« sagte Morgan.

Und er las:

»Prächtige Aussicht. Fünf Minuten Aufenthalt.«

– Vor uns liegt, erklärte er, die Insel Pico. Im Norden sieht man San Jorge. Auf der Insel Pico bildet eine große Gruppe von »Quintas« das Quartier »La Magdalena«, wo viele Einwohner von Funchal den Sommer verleben.«

Da Morgan hiermit seine Obliegenheiten erfüllt hatte, ging der Zuhörerkreis auseinander und die Touristen zerstreuten sich nach Gefallen, das vor ihnen[87] ausgebreitete Panorama zu betrachten. Ihnen zu Füßen schien die Stadt Horta fast bis ins Meer hineinzureichen. Gerade gegenüber türmte sich die gewaltige Masse des Pic auf, dessen Gipfel noch immer in wallenden Dunstschleiern verhüllt lag. Der Kanal zwischen den beiden Inseln glänzte jetzt im Scheine der Sonne, und wie in Feuer stehend, warfen die Wellen blendende Reflexe bis hinüber zu dem purpurn schimmernden Ufer von San Jorge.

Als der Baronet von seinem Besuche zurückkam, bildete sich die nun schon eingeübte Kolonne schnell aufs neue. Als sie sich aber in Bewegung setzen wollte, erhob der peinlich strenge Passagier noch einmal seine Stimme. Auf dem Programm stand ja: »Prächtige Aussicht. Fünf Minuten Aufenthalt.« Diese fünf Minuten wollte er sich nicht rauben lassen.

Wohl oder übel mußte man dem Verlangen des originellen Kauzes nachgeben, und die gesamte, in tadelloser Ordnung nach Osten gerichtete Kolonne bequemte sich, freilich nicht ohne wiederholtes und berechtigtes Murren, noch einmal zu einem fünfminütigen Aufenthalte. Die ganze Zeit über stand der durch seine Halbblindheit getäuschte Hamilton unveränderlich nach Westen gewendet da. In dieser Richtung aber lag nur die breite Fassade des alten Jesuitenklosters, die doch wahrlich keine »prächtige Aussicht« bot. Darauf schien's dem Baronet aber nicht anzukommen, er starrte die vorschriftsmäßigen fünf Minuten gewissenhaft die grauen Mauern an... das genügte ihm vollständig.

Endlich zog nun die Kolonne weiter.

Schon nach den ersten Schritten erkannte da das spähende Auge Thompsons, daß sich eines ihrer Glieder um die Hälfte verkleinert hatte. Zwei Passagiere waren davongeschlichen... es waren die beiden Neuvermählten, wie es eine nähere Untersuchung zeigte. Thompson runzelte die Stirn, er war kein Freund solcher Regelwidrigkeiten. Gleichzeitig kam ihm aber der erfreuliche Gedanke, dem Hotelwirt für diese Verminderung der Zahl der Frühstücksgäste eine entsprechende Summe abziehen zu können.


Insel Fayal. Horta, Ansicht vom Hafen.
Insel Fayal. Horta, Ansicht vom Hafen.

Halb zwölf Uhr hielten die erschöpften Touristen, immer noch in guter Ordnung, ihren Einzug in das Hotel zur Jungfrau Maria. Der hochrote, joviale Wirt empfing sie mit der Mütze in der Hand.

Alle nahmen an der Tafel Platz, Sir Hamilton unmittelbar Thompson gegenüber, was ihm niemand streitig machte. Mary und Beß Blockhead glückte es durch eine List, etwas entfernt von ihrer Familie Stühle zu erobern, so daß sie sich ausschließlich dem eng umzingelten Tigg widmen konnten.[88]

Als der erste Hunger gestillt war, ergriff Thompson das Wort und veranlaßte die Tafelrunde, sich auszusprechen, was sie von der Stadt Horta hielte.

»O, die ist herrlich, rief Blockhead, einfach wundervoll!«.

Es zeigte sich aber bald, daß er mit diesem Urteil allein stand.

»Eine abscheuliche Stadt, sagte der eine.

– Und schmutzig obendrein, sekundierte dem ein zweiter.

– Welch elende Straße!

– Was für erbärmliche Häuser!

– Welch brennende Sonne!

– Und welch entsetzliches Pflaster!«

Natürlich rührte die letzte Bemerkung vom Baronet her.[89]

»Ja, und das hier nennt man ein Hotel! setzte Saunders hinzu, dessen Stimme wie eine Säge knirschte. Ja ja, man sieht's, daß uns Hotels ersten Ranges versprochen waren!«

Saunders hatte hiermit im Grunde nicht unrecht.

Eier, Schinken und Backhühner standen zwar auf der Tafel, das übrige ließ aber sehr viel zu wünschen übrig. Das Tischtuch hatte an vielen Stellen Löcher und die Bestecke waren einfach aus Eisen. Auch die an und für sich zweifelhaft saubern Teller wurden niemals gewechselt.

Thompson schüttelte etwas kampflustig mit dem Kopfe.

»Muß ich dem Herrn Saunders wirklich erst erklären, sagte er bitter, daß die Worte, Hotels ersten Ranges' nur einen relativen Wert haben können? Eine Herberge in einer Londoner Vorstadt wird in Kamtschatka natürlich zu einem vornehmen Hotel...

– Und im allgemeinen, unterbrach ihn Hamilton, in allen von einem lateinischen, also niedriger stehenden Volke bewohnten Ländern. Ja, wenn wir in einer englischen Kolonie wären!«

Der Baronet konnte seine Gedanken jedoch nicht weiter ausführen. Das Frühstück war zu Ende, alle standen geräuschvoll vom Tische auf. Thompson verließ den Speisesaal als letzter und hatte die Befriedigung, die Kolonne vor dem Hause schon wieder geordnet zu finden. Alle standen an demselben Platze, den sie am Morgen nach eigner Wahl oder zufällig eingenommen hatten. Dabei hatte sich kein Widerspruch erhoben, so leicht gewöhnen sich die Menschen an den Gedanken einer notwendigen Ordnung.

Unter großem Zulauf der Bevölkerung bewegte sich die Gesellschaft zum dritten Male durch die dem Baronet so verhängnisvolle Straße. Als er auf den Schauplatz seines Unfalles kam, warf er einen Blick schräg hinüber nach dem Laden, wo er Abhilfe für den erlittnen Schaden gesucht hatte. Wie die andern Kaufleute und Händler stand auch der Optiker vor seiner. Tür. Auch er hatte seinen zufälligen Kunden wiedererkannt. Er folgte diesem sogar mit dem Blicke, worin Hamilton – doch welche Idee! – einen Ausdruck verächtlichen Tadels zu lesen glaubte.

Vom höchsten Punkte der Straße aus schwenkte die Gesellschaft nach links ab und stieg den Abhang des Hügels weiter empor, wobei sie die letzten, vereinzelten Häuser bald hinter sich ließ. Einige hundert Meter weiterhin begann der Weg die launischen Windungen eines Bergstromes zu begleiten. Die abwechslungsreichen[90] Schönheiten seiner Ufer fanden aber bei den meisten der in strenger Ordnung dahinmarschierenden Touristen nicht die gebührende Beachtung. Ein Landschaftsbild, das im Programm nicht erwähnt war, das zählte nicht, oder richtiger: das gab's überhaupt nicht.

Nach Zurücklegung einer halben Meile schien es, als ob die Straße plötzlich durch eine gewaltige Felsenwand abgeschlossen wäre, von der das Wasser des Bergstromes absatzweise herunterrauschte. Ohne von ihrer bewunderungswürdigen Ordnung abzuweichen, wandte sich die Kolonne nun nach rechts und bewegte sich auf dem aufwärtsführenden Wege weiter.

Obgleich es jetzt die heißeste Stunde des Tages war, herrschte hier doch eine recht erträgliche Temperatur. In dem Hohlwege, den man eben passierte, war ein Überfluß an Bäumen. Zedern, Nußbäume, Pappeln, Kastanien und Buchen verbreiteten einen erquickenden Schatten.

Der Aufstieg hatte wohl eine Stunde gedauert, als der Horizont sich plötzlich erweiterte.

Nach einer scharfen Wendung mündete die Straße an ebneren Stellen der Hügelseite, die ein großes Tal beherrschte, worin der Hohlweg mehr verbreitert weiter verlief.

Thompson gab ein Zeichen, und wiederum bildeten die Touristen einen Kreis um den Cicerone. Die Soldaten hatten sich schon an das Manöver gewöhnt. Morgan empfand zwar lebhaft die Lächerlichkeit dieser ultra-englischen Art zu reisen, er war aber gutmütig genug, sich das nicht merken zu lassen. So begann er denn ohne Vorrede und trocknen Tones:

»Hier, meine Damen und Herren, befand sich die erste Niederlassung der Flamänder, die diese Insel noch vor den Portugiesen besiedelten. Sie werden noch selbst bemerken können, daß die Bewohner dieses Tales die äußere Erscheinung. die Sitten, die Sprache und die Industrie ihrer Vorfahren ziemlich deutlich bewahrt haben.«

Robert Morgan schwieg ebenso unvermittelt still, wie er seine Erklärung begonnen hatte. Ob die unglücklichen Touristen irgendwie in der Lage waren, etwas von dem zu beobachten, worauf er hingewiesen hatte, das war seines Amtes nicht. Übrigens schienen alle befriedigt zu sein. Sie »beobachteten« – weil das im Programm stand – von weitem, sehr von weitem, eine Reklamation erfolgte aber nicht.[91]

Auf ein Zeichen Thompsons bildete sich die Kolonne nochmals, ganz wie ein gutgedrilltes Regiment, und die Augen wandten sich gehorsam ab von der bezaubernden Landschaft.

Das war wirklich schade. Von Hügeln mit weichen Formen eingerahmt und von klaren Bächen, den Quelladern des weiter unten hinabrauschenden Bergstromes, durchrieselt, zieht sich das Flamändertal in jungfräulicher Schönheit weit dahin. Auf fette Weiden, die von Rinderherden belebt sind, folgen Felder mit Weizen, Mais und Hafer, und unregelmäßig verstreut glänzen weiße Häuschen in den Strahlen der Sonne.

»Eine normännische Schweiz, sagte Roger.

– Ein Ebenbild unsres Vaterlandes,« setzte Morgan, wieder aufbrechend, schwermütig hinzu.

Die Kolonne schlug von hier aus einen nördlich um die Stadt Horta hinführenden Weg ein, wobei sie sich ein wenig nach rechts wendete und das Flamändertal ihren Blicken bald entschwand. Nach dem an die Felder der Normandie erinnernden Landschaftsbilde zog die Gesellschaft jetzt zwischen Gemüsekulturen hin. Zwiebeln, Kartoffeln, Ignamen, Erbsen... alle verschiedenen Gemüsearten gediehen hier in ebenso reicher Fülle, wie daneben von Obstsorten Pasteken, Flaschenkürbisse, Aprikosen und hundert andre.

In dieser Gartengegend konnte man sich jedoch nicht länger aufhalten. Bei der schon vorgeschrittenen Tagesstunde hielt es Thompson nicht für angezeigt, die Besichtigung des Landes bis zum Ende des Kaps Espalamaca auszudehnen. Er schlug deshalb den ersten, sich nach rechts abzweigenden Weg ein, der schneller nach der Stadt hinunterführte.

Dieser Weg schlängelte sich durch eine ununterbrochene Reihe von Villen mit prächtigen Ziergärten hin, worin die verschiedensten Vertreter des Pflanzenreiches zu sehen waren, exotische Gewächse gemischt mit europäischen, diese meist aber stärker und üppiger entwickelt als in den nördlicheren Ländern. Da erhob sich die schlanke Palme neben der knorrigen Eiche, die Akazie zur Seite des Bananen- und Orangenbaumes. Linden und Pappeln drängten sich um Eukalypten, die Zeder vom Libanon ragte neben der Araukaria von Brasilien empor, und Fuchsien wetteiferten in der Höhe mit unsern Bäumen.

Es war jetzt vier Uhr Nachmittag. Durch den majestätischen Dom der Bäume drangen nur vereinzelt die schieferen Strahlen der schon sinkenden Sonne hindurch... wahrlich, nächst Kanaan war hier das irdische Paradies.[92]

Unwillkürlich hatten die Touristen ihren Schritt verlangsamt. Alle schwiegen wie andächtig still. Im dämmrigen Schatten der Bäume und umfächelt von kühlerem Lufthauche gingen sie, ohne sich zu beeilen, bergabwärts und genossen schweigend diese köstliche Promenade.

Am westlichen Fort angelangt, folgte der Trupp der Brustwehr, die dieses mit dem zentralen Fort verbindet, und es hatte kaum halb fünf geschlagen, als die Touristen am untern Ende der großen Straße von Horta den Hafen erreichten. Hier löste sich die Kolonne auf. Die einen zogen es vor, an Bord zurückzukehren andre zerstreuten sich auf gut Glück in der Stadt.

Morgan mußte im Hotel zur Jungfrau Maria noch Vorsorge treffen, daß alles für den folgenden Tag bereit wäre. Nach Erledigung seines Auftrags kehrte er nach der »Seamew« zurück, wo er mit Sir Hamilton fast zusammenprallte.

Sir Hamilton war wütend.

»Ah, Sie... Herr Morgan, stieß er hervor, da ist mir eine merkwürdige Sache begegnet. Der Optiker, zu dem Sie mich heute Morgen geführt haben, weigert sich, ich weiß nicht warum, unbedingt, die übernommene Reparatur auszuführen. Da es mir ganz unmöglich ist, ein Wort seiner verwünschten Charabia zu verstehen, würden Sie mich Ihnen verpflichten, wenn Sie mich zu dem Manne begleiten wollten, um von ihm eine Erklärung seines Benehmens zu erhalten.

– Ich stehe ganz zu Ihren Diensten,« antwortete Morgan.

Im Laden des widerhaarigen Händlers führte Morgan mit diesem eine lange und laute, scheinbar aber auch drollige Verhandlung, denn er unterdrückte offenbar nur mit Mühe die Lust zum Lachen. Nach vielem Hin- und Herreden wandte er sich an den Baronet zurück.

»Der Optiker, Señor Luiz Monteiro, den Sie hier vor sich sehen, sagte er, hat es abgelehnt und lehnt es auch jetzt noch ab, für Sie zu arbeiten, weil...

– Nun, weil?...

– Ganz einfach, weil Sie heute Nachmittag es unterlassen haben, ihn zu grüßen.

– Was?... rief Hamilton verblüfft und beleidigt.

– Ja, es ist aber so. Als wir nach dem Frühstück bei ihm vorübergingen, stand der Señor Luiz Monteiro vor seiner Tür. Er hat Sie gesehen und er weiß jedenfalls, daß Sie auch ihn wieder erkannt hatten. Nun haben Sie ihm[93] aber nicht den flüchtigsten Gruß zugewinkt, das ist in seinen Augen Ihr Verbrechen.

– Hole den Burschen der Teufel!« rief Hamilton wütend.

Er hörte kaum noch auf Morgan, der sich bemühte, ihm die unglaubliche Strenge des auf den Azoren herrschenden Zeremoniells zu erklären. Hier gibt es für all und jedes unbeugsame Vorschriften. Will man einen seiner Freunde besuchen, so muß man sich vorher seiner Zustimmung dazu vergewissern. Wenn der Arzt eingewilligt hatte, einen zu behandeln, der Schuster, einem die Stiefel zu befohlen, der Bäcker, einem seine Waren abzulassen, so schließt das die unverletzliche Bedingung in sich, die Betreffenden bei jeder Begegnung sehr höflich zu grüßen und ihnen zu gewissen, für immer festbestimmten Zeiten ihren Professionen angepaßte Geschenke zu übersenden.

Alles das wollte dem hochmütigen Baronet freilich gar nicht in den Kopf, er mußte sich jedoch wohl oder übel drein fügen. Mit seiner Einwilligung besänftigte Robert Morgan den übelnehmischen Luiz Monteiro durch eindringendste Entschuldigungen, und die Reparatur wurde darauf nochmals versprochen.

Hamilton und Morgan trafen an Bord der »Seamew« gerade in dem Augenblicke ein, wo die Glocke die Nachzügler zur Hauptmahlzeit rief. Diese verlief übrigens recht vergnügt. Unter den Passagieren gab es keinen einzigen, der sich von dem Anfange der Gesellschaftsreise nicht völlig befriedigt gefühlt hätte. Alle rühmten gegenseitig das gute Einvernehmen, das unter den Passagieren bisher ununterbrochen geherrscht hatte, und wünschten einander dessen ferneren Bestand.

Wenn die Stadt Horta die Besucher einigermaßen enttäuscht hatte, so waren doch alle einig, die entzückenden Reize der Insel anzuerkennen. Nein, die Erinnerung an die Schweiz im Flamändertale, den üppigen Reichtum des Landes in der Umgebung der Ponta Espalamaca und den herrlichen Rückweg längs des Meeres oder unter dem wohligen Schatten der großen Bäume... alles das würde niemand vergessen.

Die im allgemeinen so freudig erhobene Stimmung wurde von Blockhead noch weiter überboten. Mehrmals hatte er seinem Nachbar schon nachdrücklichst versichert, daß er noch niemals – wohlverstanden, noch niemals – etwas so Schönes gesehen habe.

Die etwa vorhandene kleine Opposition war hier zur Ohnmacht verurteilt.[94]

Die erdrückende Majorität des General-Unternehmers zwang Hamilton und Saunders zum Schweigen.

Und doch schien der zweite gerade in recht schlechter Laune zu sein.

Warum aber?... War er wirklich von so bösartiger Natur, daß schon die helle Freude der andern ihn verletzte? Oder litt seine Eigenliebe vielleicht an einer geheimen Wunde, auf die sich die allgemeine Befriedigung wie ein Strahl geschmolznen Bleis ergossen hatte? Das hätte wenigstens der glauben können, der ihn die verächtlichen Bemerkungen hätte brummen hören, mit denen er in grimmiger Wut seine Reisegenossen überschüttete, deren Zufriedenheit einen glänzenden Verlauf der unternommenen Lustfahrt vorauszusagen erlaubte. Das konnte er nicht länger ertragen, und die Tafel verlassend, führte er seine bittern Gedanken auf dem Spardeck spazieren.

Die freie Luft wurde allmählich zum Balsam für sein verwundetes Herz. Auf seinen dünnen, den Rändern eines Schnittes ähnlichen Lippen spielte ein leises Lächeln. Er zuckte mit den Schultern.

»Ja ja, murmelte der Baronet, die Flitterwochen, der süße Honigmond!«

Und auf einem Schaukelstuhle ausgestreckt, betrachtete er den gestirnten Himmel, auf dem seinerzeit, dessen war er sicher, auch noch ein Aprilmond aufgehen würde.

Quelle:
Michel Verne: Das Reisebüro Thompson und Comp. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band XCI–XCII, Wien, Pest, Leipzig 1909, S. 80-81,83-95.
Lizenz:

Buchempfehlung

Stifter, Adalbert

Der Waldbrunnen / Der Kuß von Sentze

Der Waldbrunnen / Der Kuß von Sentze

Der Waldbrunnen »Ich habe zu zwei verschiedenen Malen ein Menschenbild gesehen, von dem ich jedes Mal glaubte, es sei das schönste, was es auf Erden gibt«, beginnt der Erzähler. Das erste Male war es seine Frau, beim zweiten Mal ein hübsches 17-jähriges Romamädchen auf einer Reise. Dann kommt aber alles ganz anders. Der Kuß von Sentze Rupert empfindet die ihm von seinem Vater als Frau vorgeschlagene Hiltiburg als kalt und hochmütig und verweigert die Eheschließung. Am Vorabend seines darauffolgenden Abschieds in den Krieg küsst ihn in der Dunkelheit eine Unbekannte, die er nicht vergessen kann. Wer ist die Schöne? Wird er sie wiedersehen?

58 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon